EKD-Präses Anna-Nicole Heinrich über heilige Momente
EKD-Präses Anna-Nicole Heinrich über heilige Momente
Peter Bongard
Heilige Momente
Plötzlich wird das Gespräch mit einem Freund intensiv und die letzte U-Bahn ist weg. Egal. Manche Augenblicke sind unverfügbar, unbegreifbar, kommen unerwartet.
Patrick Desbrosses
27.02.2023

Spät nachts am U-Bahnsteig. Ich gehe auf und ab, telefoniere mit einem Freund. Das ­Gespräch startet oberflächlich, vertieft sich schnell. ­Meine Schritte werden gleichmäßiger. Die Bahn kommt, wir ­reden, denken, ich gehe, die Bahn zieht weiter. Als ich realisiere, dass ich gerade die letzte Bahn verpasst habe, kickt das kurz, reißt mich aber nicht aus unserem Gespräch.

Ich gehe vom Bahnsteig und mache mich, ohne weiter drüber nachzudenken und ohne es zu erwähnen, auf den 40-minütigen Fußweg nach Hause. Themen kommen, wir reden, denken, ich gehe, Themen ziehen weiter. Themen zwischen Himmel und Erde kommen, wir lachen, wir zweifeln, wir teilen unsere Über­legungen, ich gehe, Himmel und Erde bleiben.

Es sind solche Augenblicke oder Situationen, in denen ich ahne, dass da mehr ist, als ich verstehen kann. In denen ich mehr spüre, als ich sehen oder hören kann, in denen ich anders reagiere, als ich erwarten würde.

Von außen betrachtet wirken diese Situationen oft banal: das Spielen auf einem verstimmten Klavier, einfach nur sitzen und sein in einer unbekannten ­Kirche, das gemeinsame Singen nach einer anstrengenden Diskussion, eine Biene auf der Hand sitzen zu haben und ihre Schönheit entdecken zu dürfen trotz aller Angst vor ihr, telefonieren und gehen.

Patrick Desbrosses

Anna-Nicole Heinrich

Anna-Nicole Heinrich, geboren 1996, ist seit Mai 2021 Präses der Synode der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD). Sie studiert in Regensburg Philosophie, Digital Humanities und Menschenbild und Werte. Sie ist außerdem Mit-Herausgeberin von chrismon, Mitglied der Landessynode der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern und Vorstandsmitglied der evangelischen Jugend in Deutschland e.V.

Das sind für mich spirituelle, ja heilige Momente. Wenn ich davon erzähle, fühle ich mich erneut in sie hinein. Ich habe oft den Eindruck, dass meine Gegenüber verstehen, was ich sage, dass sie merken, wie viel mir diese Momente bedeuten, dass sie sich daran erfreuen, wie ich sie erzähle, dass sie aber nicht wirklich nachvollziehen können, was diese Situationen mit mir gemacht haben.

Und trotzdem erzähle ich gern davon, höre mir gern an, wenn andere von ihnen erzählen, liebe es, in ihren Augen zu erkennen, was sie ihnen bedeuten. Frage nach, lasse mir das Er­lebnis noch einmal erzählen und freue mich erneut an der Freude meines Gegenübers. Es ist ein bisschen so, wie jemandem zuzuhören, der einen Witz erzählt, den niemand versteht oder lustig findet außer der erzählenden Person selbst. Alle lachen mit, das Gefühl wird geteilt, auch wenn der Witz selbst nie ankommt.

Für mich ist das Besondere an diesen Momenten, das Heilige, dass sich diese Erfahrungen nicht wiederholen, nicht steigern, nicht kategorisieren, nicht vorhersagen, nicht so richtig gut wiedergeben lassen. Und trotzdem ­immer wieder etwas mit mir und den Menschen, denen ich sie erzähle, machen.

Sie sind unverfügbar, unbegreifbar, kommen unerwartet. Sie haben mit mir selbst, ­meiner Stimmung zu tun, damit, ob ich mich auf etwas ein­lassen kann. Sie haben mit meinem Umfeld, mit anderen ­Menschen, der Umgebung zu tun. Sie lösen etwas, sie ­lösen etwas aus. Am Ende steht ein Gewinn, vielleicht ein Erkenntnisgewinn, manchmal über andere, manchmal über mich, manchmal über Gott. Kein konkretes Mehr an Wissen – eher eine Ahnung davon, dass es dieses Mehr gibt.

Ich stehe vor meiner WG, nehme den Rucksack vom Rücken und krame nach meinem Schlüssel. Ich finde ihn nicht, habe ihn wohl vergessen, aber das teile ich meinem Freund nicht mit. Ich sage, dass ich nun zu Hause bin, und wir beenden unser Telefonat.

Es ist mitten in der Nacht. Ich rufe eine meiner Mitbewohnerinnen an, klingle sie aus dem Bett und bitte sie, mir die Tür zu öffnen. Sie macht auf und wider Erwarten lächelt sie einfach, wünscht mir eine gute Nacht und geht vor mir zurück in die Wohnung. Ich lächle zurück, sage Danke und wünsche auch ihr eine gute Nacht. Und freue mich drauf, ihr morgen von diesem unerwarteten Nachtspaziergang zu erzählen – da ist es, das Mehr.

Alle Kolumnen von Anna-Nicole Heinrich finden Sie unter  www.chrismon.de/anna-nicole-heinrich

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Liebe Frau Heinrich,
es ist wie immer - ich lese diese chrismon-Hefte von A bis Z, - und finde überall etwas, das zündet ... Ihr Text über "Heilige Momente" allerdings zündete mit Verspätung, weil ich schon im Aufbruch zu einem Besuch war.
Wir wohnen in Thüringen, sind nach unserer Berufstätigkeit in Jena (1993-2017) in ein kleines Dorf in der Nähe gezogen, und ich versuche seither, die Kirchengemeinde "wachzuküssen", sofern man überhaupt noch von einer "Gemeinde" sprechen kann ... Alles in allem ist das sehr traurig, weil die Leute nicht nur nicht in die Kirche gehen, sondern ganz spürbar richtig Angst davor haben. Ich wurde vor drei Jahren in den Gemeindekirchenrat gewählt und bin redlich bemüht, alle etwas in Unruhe zu versetzen. Wir (mein Mann und ich) werden dieses Jahr zum vierten Mal ein kleines Programm "Landkultur" auf die Beine stellen, Veranstaltungen, nicht nur religiöse, in der Kirche und drumrum, mit Ausstellungen, Konzerten, Vorträgen, Kaffee und Kuchen usw. Im Gemeindekirchenrat habe ich mir die Aufgabe genommen, Menschen über achtzig zum Geburtstag zu besuchen. "Na, wenn du das machen willst ..." war die Reaktion - es macht hier schon lange keiner mehr. Und so besuche ich nun die Leute, mit einer efeuumkränzten Kerze und einer ganz individuell geschriebenen Glückwunschkarte. Wenn sie Zeit haben, ist es gut, wenn nicht, auch erst mal - dann lasse ich immerhin etwas da.
Am Montag war so ein Besuchstag. Im Nachbardorf war ein Bauer 85 geworden, ich traf ihn an, als er in der Küche gerade ein paar Turnschuhe anprobierte, die wohl eben mit dem Paketboten angekommen waren. Wir setzten uns an den Küchentisch und fingen sofort an zu erzählen, während seine Frau noch in der Wohnung herumräumte. Wir hatten beide viel zu erzählen: er über sein Leben, seine verschiedenen Berufe und Hintergründe, auch, daß sein Vater von 1945-49 in Buchenwald war - ich konnte nicht glauben, daß er mir das erzählte. Ich über meinen Umzug auf's Dorf, aus dem Westen kommend, mit Eltern, die schlesische Flüchtlinge waren. Sie hatten auch Flüchtlinge im Haus gehabt, wir tauschten schlesische Vokabeln aus ... Nach einer Weile kam seine Frau dazu, die mir über ihre Tätigkeit als Pflegerin in den westlichen Bundesländern erzählte ...
Kurz und gut - ich hatte nicht mal meine Jacke ausgezogen und war nach einer guten Stunde total erhitzt. Wir waren längst nicht fertig geworden mit Erzählen. Und als ich ging, fragte ich, ob ich im Sommer mal wiederkommen darf, dann könnten wir vielleicht draußen sitzen. Sehr gerne haben die beiden zugestimmt.
Ich bin total beseelt nach Hause gefahren und wußte spätestens jetzt, was Sie mit "heilige Momente" meinen ...
Haben Sie herzlichen Dank für Ihren Text!
Viele freundliche Grüße -
Ihre Gundela Irmert-Müller.
Großlöbichau

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Zitat: "Manche Augenblicke sind unverfügbar, unbegreifbar, kommen unerwartet". So auch J. P. Reemtsma über das Vergeben und Verzeihen im SPIEGEL-Titel 15/23. Frage: "Verzeihen ist tatsächlich ein Grundgedanke des Christentum". AW v. R. : "Die Idee eines Gottes, der den Menschen die Tatsache verzeiht, dass der Mensch so ist, wie Gott ihn geschaffen hat, ist eine ungeheuerliche gedankliche Perversion".

Darauf von den Glaubenshütern aller christlichen Brüder und Schwestern eine verständliche Antwort? Aber nicht so, dass alles erdenkliche gemeint, aber nichts gesagt wird.

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Sehr geehrte Frau Heinrich,
was, bitte, ist „mitjudgen““, was „rausbuzzern“, „buzzern“, ein „Buzzer“ usw.?
Sie geben doch ein deutschsprachiges Magazin heraus. Wir sprechen die deutsche Hochsprache, die Sprache Kleists, Hölderlins und Thomas Manns. Warum diese unverständlichen anglo-amerikanischen Brocken?
Ich meine schon, daß Sie als Herausgeberin und Autorin auch eine Verpflichtung hätten, mit unserer wunderbaren deutschen Sprache sorgsam und pfleglich umzugehen.
Aber „Nichts für ungut“, wie man im Deutschen so sagt.
Mit freundlichen Grüßen
Dr. Hanns Erwin Oberacher
München

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