Feministische Kunst im Vatikan
Vermessen
Hinlegen, weißer Strich übern Kopf, weiterkrabbeln - so misst die feministische Künstlerin ORLAN öffentliche Orte aus. Auch den Petersplatz in Rom
Das Kunstwerk - Vermessen
ORLAN nimmt Maß im Vatikan
Action Orlan-Corps: Mesurage D'Institutions - Place Saint-Pierre, Roma Italie. Photographie Argentique Noir et Blanc. Photographe: Luc Wauman, 1974
Lukas Meyer-BlankenburgPrivat
24.10.2022

Nein, diese Frau ist nicht ­gestolpert. Die französische Künstlerin ­ORLAN vermisst hier den vati­kanischen Petersplatz neu. Womit? Ganz einfach: Sie erklärt ihren Körper zum Standardmaß. Ihre "MesuRages" – ­eine französische Wortkombination aus ­"mesurer", messen, und "rage", Wut – sind selbstbewusste bis aufmüpfige Formen der Auflehnung gegen die großen Institutionen der Welt.

Besonders gerne arbeitet sich ORLAN an der katholischen Kirche ab, an ihren eher männlichen Vorstellungen – oder besser: Vorgaben an Frauen, wie rein, jungfräulich und fürsorglich sie zu sein haben. Das Bild hier könnte fast als verträumt arrangiertes Schwarz-Weiß-Foto aus einem Fellini-Film durchgehen. Ein Schwips nach einer langen Nacht in Rom, da kann das Kopfsteinpflaster schon mal rutschig sein. Aber hier geht es ganz nüchtern zu. Die Künstlerin macht sich mit heiligem Ernst zu schaffen.

Wer die französische Feministin übrigens nicht noch mehr ärgern ­möchte, schreibt ihren Künstlerinnen- beziehungsweise ­Markennamen besser groß. Normale Vornamen mag ORLAN nicht, Männer-Nachnamen von Vätern oder Ehemännern schon gar nicht. Deshalb ihre Kreation: ORLAN. Eine internet­affine Form der Selbsternennung als ­wütend-laute Anrufungsform, das Ausrufezeichen stets mitgedacht: ORLAN!

So hat die 1947 geborene Künstlerin schon etliche öffentliche Plätze ver­messen, auch das Centre Pompidou und das Guggenheim-Museum. Meist ­be­- waffnet mit einem Stück Kreide. Hin­legen, ­einen ­weißen Strich über den Kopf ­malen, auf allen vieren eine Körperlänge weiterkrabbeln, hinlegen, der nächste Strich. Wie viele ORLANs der Petersplatz wohl misst? Ein bisschen verloren sieht sie auf dem Bild zwischen den mächtigen Säulen aus.

Ihrem Selbstbewusstsein tut das keinen Abbruch. Am Ende der Performance posiert die Künstlerin als Freiheitsstatue. Das übrigens mit voller Überzeugung – und nicht persiflierend oder provo­zierend wie sonst, wenn sie in die Rollen der ­Gottesmutter Maria oder der Venus schlüpft.

Ihren Körper setzt ORLAN seit den 1960er Jahren prominent in Szene: Anfang der 90er Jahre konnte man per Live­schalte in den Operationssaal sogar ­zusehen, wie sie sich im Gesicht operieren ließ. Schönheits-OP wäre wohl der falsche Begriff. Die zwei Beulen, die sie sich ­unter die Haut an den Schläfen hat schieben ­lassen, sind ja nicht wirklich schön.

Ein anderes Mal hat sie öffentlich auf dem Museumsvorplatz Künstlerinnenküsse von sich verkauft – für fünf Francs das Stück. Eine im Wortsinne billige Prostitutionskritik.

Die Küsse dürften heute teurer sein, nicht nur wegen der Inflation. ORLAN ist eine der bedeutendsten feministischen Künstlerinnen Frankreichs. Und für sie gilt, wie für ihre österreichische Zeitgenossin Valie Export: Ihre Kunst ist nicht alt geworden, sondern gewinnt gerade wieder besondere Aktualität.

ORLANs Kunst ist auch eine Ermutigung, ein Aufruf zur Selbstermächtigung, die damit beginnt, dass man mit Hilfe des eigenen Körpers auferlegte Standards ­herausfordert. Also, ein Stück Kreide in die Hand und: Was misst die Welt?

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