Angehöriger berührt eine aufbahrte, verstorbene Person mit der Hand
Angehöriger berührt eine aufbahrte, verstorbene Person mit der Hand
plainpicture/amigo-pictures
"Es ist heilsam, wenn man die Verstorbenen noch mal sieht"
Bestatter David Roth erklärt, wie eine Aufbahrung aussieht, warum man keine Scheu vor den Toten haben muss und warum Kinder ideale Trauerbegleiter sind.
Tim Wegner
14.09.2022

chrismon: Wieso werden hohe Würdenträger wie Queen Elizabeth II. oder Michail Gorbatschow öffentlich aufgebahrt?

David Roth: Das sind besondere protokollarische Vorgänge. Da wird gezeigt, dass die Macht nun auf einen Nachfolger übergeht. Ich habe den Autokorso der Queen gesehen: hochherrschaftliche Limousinen mit Wimpeln, Flaggen, Blumen. Menschen in heraldischen Kostümen, die etwas verkünden. Da ist alles durchdesignt. Es ist zwar gut, dass es öffentlich geschieht, weil es den Tod ins Bewusstsein holt. Aber das ist alles sehr förmlich. Es gibt fast schon einen Zwang zur Betroffenheit. Über die persönlichen Erinnerungen, die Liebe und den Trost der Hinterbliebenen erfährt man nichts. Ich fand es schön, dass normale Menschen in den Medien gefragt wurden, was sie mit der Queen verbinden. Viele waren dankbar und sagten: Mit 96 darf man auch mal sterben.

Herrmann u. Clärchen Baus

David Roth

David Roth, Jahrgang 1978, ist Trauerbegleiter, Berater sowie Mitglied der Geschäftsführung des Bestattungshauses Pütz-Roth in Bergisch Gladbach. Mit seiner Schwester ist er in die Fußstapfen des Vaters Fritz Roth (2012 verstorben) getreten, der zum Beispiel den ersten privaten Friedhof in Deutschland anlegte, auf dem bis heute vieles möglich ist.
Tim Wegner

Michael Güthlein

Michael Güthlein ist Redakteur am Magazin-Desk von chrismon, epd Film und JS-Magazin. Zusammen mit Konstantin Sacher schreibt er die Kolumne "Väterzeit". Er hat Journalismus, Geografie und Germanistik in Mainz und Bamberg studiert. Er schreibt am liebsten über gesellschaftspolitische Themen und soziale Gerechtigkeit.

Die Queen wird im geschlossenen Sarg aufgebahrt. Andere Persönlichkeiten, wie etwa Gorbatschow, im offenen Sarg. Hilft es Trauernden, den oder die Verstorbene noch einmal zu sehen?

Meiner Erfahrung nach ja. Wenn man sehen kann, dass der oder die Verstorbene friedlich daliegt, keine Schmerzen mehr hat, keine Angst verspürt, kann das helfen, Abschied zu nehmen. Es hat sich eingebürgert, dass Menschen geraten wird: Tu dir das nicht an! Behalte den Verstorbenen so in Erinnerung, wie er gewesen ist! Dann denken wir an gruselige Bilder aus Serien, in denen die Toten nicht ruhig und in Frieden liegen, sondern ein angstverzerrtes Gesicht haben. Aber das entspricht nicht der Realität. Meist ist es unspektakulär: Ein Verstorbener ist kaum zu unterscheiden von einer Person, die schläft. Bis man merkt, dass er nicht mehr atmet. Es hilft, mit allen Sinnen zu begreifen, was die Realität ist, zu spüren, dass die Person kälter ist. Sehen, dass sie sich nicht mehr rührt. Rational ist kaum zu verstehen, dass jemand, den man liebhatte, weg ist und auch nicht mehr zurückkommt.

Hilft eine Aufbahrung auch einem ganzen Volk, so wie jetzt in Großbritannien bei der Queen?

Ich bin überzeugt davon, dass Prinz Charles und Camilla, aber auch andere nahe Verwandte sich von der Queen am offenen Sarg verabschiedet haben. Es ist schade, dass das Volk diese Chance wahrscheinlich nicht bekommen wird. Nach meiner Erfahrung tut es den Menschen gut, den Verstobenen noch einmal zu sehen. Es hilft, mit allen Sinnen zu begreifen, dass da etwas unwiederbringlich zu Ende gegangen ist. Die Queen war 96 Jahre alt, saß 70 Jahre auf dem Thron und war für viele Menschen ein Bestandteil ihres Lebens. Viele sind mit ihr aufgewachsen. Sich vorzustellen, dass sie nicht mehr da ist und sich nicht mehr äußern wird, obwohl sie doch bis zuletzt fit wirkte, ist schwer. Trauer wird schwieriger oder komplizierter, wenn man nichts zu betrauern hat außer einer Holzkiste. Ich glaube, es ist sehr heilsam, wenn man die Verstorbenen noch mal sieht. Dadurch wird man schlagartig entschleunigt. Druck und alltägliche Zwänge relativieren sich auf einmal.

Kann es erschreckend wirken, eine Tote zu sehen?

Niemand sollte gezwungen werden, auf diese Weise Abschied zu nehmen, aber Bestatter sollten den Hinterbliebenen Mut machen, es zu tun. Wir bieten auch an, dass wir mitkommen. Manche Hinterbliebenen schauen nur kurz, andere bringen Freunde und Kinder mit.

"Kinder sind perfekte Trauerbegleiter"

Wie ist das für Kinder?

Kinder sind perfekte Trauerbegleiter: Sie halten das aus und sind neugierig. Wenn man ihnen klarmacht, dass der Opa nicht nur schläft, dass sie nicht schuld sind und dass sie jetzt nicht sterben, dann kommen sie damit zurecht. Kinder können zum Abschied etwas malen oder mitbringen, das der oder die Verstorbene gern hatte. Wenn man religiös ist, kann man mit ihnen ins Gespräch darüber kommen, was nach dem Tod passiert. Als mein Vater starb und im Haus aufgebahrt war, sind meine Kinder mit der Situation unbefangen und angstfrei umgegangen.

Warum wollen viele Menschen die Bestattung schnell hinter sich bringen?

Mein Vater ist elf Tage vor Weihnachten gestorben. Wir bekamen Ratschläge wie: Macht die Bestattung noch vor Weihnachten, dann kommt ihr zur Ruhe. Das war natürlich Quatsch! Mein Vater war Hauptakteur an Weihnachten. Das war bei uns immer ein hoch emotionales Fest, mit Familienfeiern, großem Essen mit vielen Gängen. Er hat uns angespornt, in die Christmette und zum Turmblasen an den Rathausplatz zu gehen. Es gab Geschenke, Geschichten, wir haben gesungen. Die Vorstellung, dazusitzen mit einer Markklößchensuppe, auf die er immer bestanden hat, ohne zu merken, dass er fehlt, war absurd.

Wünschen sich Hinterbliebene auch heute noch eine Aufbahrung?

Bei uns im Bestattungshaus wird das sehr stark gewünscht. Ich höre, dass nur 20 bis 30 Prozent der Deutschen ihre Verstorbenen noch einmal sehen. Bei uns sind es eher 95 Prozent. Wir sind vielleicht anders, weil wir die Angehörigen ermutigen, dass sie ihre Verstorbenen aufbahren können. Es liegt also auch in der Verantwortung von Bestattern, Fragen zu beantworten: Darf ich den Toten berühren? Etwas dazulegen? Wir sagen den Angehörigen auch, dass der Mensch sich verändert. Das tritt aber nicht schlagartig ein. Viele Verstorbene sind auch drei Wochen nach ihrem Tod noch gut erkennbar. Mein eigener Vater hat sich auch verändert, aber schon als er noch lebte, durch seine Krankheit. Wir haben 16 Tage Abschied genommen: einen Tag zu Hause, 15 Tage in der Firma.

"Man kann die Toten berühren"

Wie ist das, so eine Aufbahrung?

Die Räume im Bestattungshaus sind gestaltet wie Wohnzimmer – mit offenen Fenstern ohne dicke Vorhänge. Man kann hinaus in die Natur schauen und sieht vom Garten aus die Toten im Sarg liegen. Als Angehöriger kann man sich direkt neben die Toten setzen, sie berühren, die Räume gestalten, Musik abspielen, etwas essen, trinken und zusammen sein. Wenn man sieht, dass da nichts Dunkles, Schreckliches stattfindet, dann löst sich die Angst auf. Wir lassen auch die Türen auf. Dadurch begegnet man anderen Menschen. Manche erzählen dann stolz: Das ist meine Mama, sie hat dies und jenes gemacht. Es ist Teil unserer Verantwortung, den Abschied so schön wie möglich zu gestalten. Die Trauernden haben ganz unterschiedliche Bedürfnisse.

Zum Beispiel?

Ein Herr, der verstorben ist, hatte in zweiter Ehe eine chinesische Dame geheiratet. Ihr war wichtig, dass sie zu ihm konnte. Sie hat für ihn gekocht und ihm das Essen unter die Nase gehalten und neben ihn gestellt. Auch die Tochter und deren Lebensgefährte waren dabei. Das hat auch deren Angst gemindert und ihnen gutgetan.

Also hilft eine Aufbahrung, schneller mit der Trauer abzuschließen?

Mittlerweile ist es unter Trauerbegleitern und Psychologen Konsens, dass es bei Trauer um eine fortgeführte Beziehung geht. Es gibt keine "Heilung" von Trauer. Es ist nicht irgendwann gut. Die Erinnerung kommt wieder, wenn man jemanden trifft, der den Verstorbenen kannte, zum Beispiel. Welche Bilder habe ich dann im Kopf? Den Moment, als ich gehört habe, er hatte einen Unfall? Oder den, wenn ich ihn friedlich im Sarg liegen sehe? Ich begreife dann, dass ich die Person so nicht bei mir behalten kann, aber dass mir der Tod nicht alles nehmen kann. Vieles bleibt: die Erinnerung an das Lachen und an die Macken der Person zum Beispiel. Es ist ein Moment, um sich auf die neue Situation einzustellen. Menschen, die das nicht machen, bleiben länger in einer Phase des Suchens hängen. Sie suchen zum Beispiel einen Schuldigen. Wir hören dann oft von angeblichen Arztfehlern oder Ähnliches. Manche haben Angst, den Abschied nicht aushalten zu können, und nehmen vor der Trauerfeier Beruhigungsmittel. Wenn man das tut, nimmt man sich viel. Einmal kam ein älterer, wütender Mann zu uns, der gefragt hat, wo seine Frau geblieben ist, weil er sich nicht an die Trauerfeier erinnern konnte.

"Die Toten sehen ganz entspannt aus"

Was sagen Sie denen, die Verstorbene lebendig in Erinnerung behalten wollen?

Ich zwinge niemanden dazu, die Verstorbenen noch einmal zu sehen. Aber die Toten sehen ganz entspannt aus. So als sehen sie etwas, das wir nicht zu glauben wagen. Ich schildere das den Hinterbliebenen und biete an, dass ich für sie ein Foto mache, wie der oder die Verstorbene dort liegt.

Woher kommt es, dass viele so eine Scheu vor Verstorbenen haben?

Ich höre manchmal gruselige Geschichten. Das ist totaler Quatsch. Die Toten werden gewaschen und eingekleidet. Man kann sich nicht mit krassen Krankheiten anstecken. Von einem Toten geht keine Gefahr aus. In Spanien, Mexiko, Griechenland oder Italien funktioniert das etwas bodenständiger als bei uns. Es ist dort üblich, die Verstorbenen zu berühren oder zu küssen. Dass uns der Tod und das Sterben nicht mehr vertraut sind, entwickelt sich proportional zur Zahl der Menschen, die in Institutionen wie Pflegeheimen sterben, sagen Untersuchungen. Jeder, der lebt, wird sterben, aber seitdem das fernab der Gesellschaft geschieht, nimmt auch die Angst vor dem Tod und vor den Toten wieder zu. Auch die Angst vor Emotionen ist groß. Es ist normal, dass man jemanden vermisst, dass man nicht will, dass er weg ist. Wut, Schuldgefühle, weinen, schluchzen, klagen – das gehört alles dazu. Das ist ein Ausdruck der Beziehung zum Toten.

"Es war üblich, die Leute zu besuchen, während die Verstorbene daheim aufgebahrt war"

Ist das Thema Aufbahrung in anderen Kulturen anders?

Nicht anders, als es mal bei uns war. Früher blieben die Verstorbenen bis zur Beerdigung zu Hause. Die Nachbarn halfen, die Person in den Sarg zu legen und zur Kirche zu bringen. Es war üblich, die Leute zu besuchen, während die Verstorbene daheim aufgebahrt war. Jetzt macht das ein Dritter und nicht man selbst. Es ist uns nicht mehr vertraut. Dadurch gibt es Ängste und Bedenken. Islamische Familien wünschen sich, beim Waschen der Verstorbenen zu helfen. Das sind letzte Liebesdienste, die wir in Deutschland irgendwann delegiert haben. Das hat kulturelle und geschichtliche Hintergründe. Die vielen Toten und die große Schuld aus dem Zweiten Weltkrieg zum Beispiel. Aber auch der Wunsch, dass alles schön und ästhetisch aussehen muss.

Gibt es auch Situationen, in denen von einer Aufbahrung eher abzuraten ist?

Wenn jemand spät gefunden wurde und der Verwesungsprozess schon sichtbar wird, ist davon abzuraten. Darauf würde ich hinweisen, aber auch da darf kein Dritter einem Angehörigen sagen, was er darf. Es ist die Verpflichtung des Bestatters, mitzugehen. Auch bei einem massiven Unfall, wenn jemand von einem Zug erfasst wurde oder Verbrennungen erlitten hat, muss man darüber sprechen, was die Hinterbliebenen erwartet. Man kann das Aussehen bis zu einem bestimmten Grad rekonstruieren und Wunden abdecken. Richtig schwierig wird es, wenn man nichts hat, das man betrauern kann.

Neuen Kommentar hinzufügen

Der Inhalt dieses Feldes wird nicht öffentlich zugänglich angezeigt.

Plain text

  • Keine HTML-Tags erlaubt.
  • Zeilenumbrüche und Absätze werden automatisch erzeugt.
Wählen Sie bitte aus den Symbolen die/den/das Flugzeug aus.
Mit dieser Aufforderung versuchen wir sicherzustellen, dass kein Computer dieses Formular abschickt.