Edle Wilde
Der Priester predigt. Die Bretoninnen kriegen Visionen. Und Paul Gauguin malt, was er nicht sieht
Paul Gauguin: Die Vision der Predigt
Scottish National Gallery
Lukas Meyer-BlankenburgPrivat
08.06.2022

Jakob im Schwitzkasten und die Frauen schauen zu. Der berühmteste Ringkampf der Bibel (und wohl auch der einzige) als Spektakel für eine Gruppe schaulustiger Frauen? Ganz so einfach ist es natürlich nicht. Klar, auf der roten Fläche rechts oben im Bild ringen prominent der alttestamentliche Erbschleicher Jakob und ein himmlisches, weil geflügeltes Wesen. Ist es ein Engel, ein Dämon oder gar Gott ­himself? Die Frage kostet Bibelexegeten bis heute schlaflose Nächte.

Eine ganze Nacht immerhin soll dereinst die biblische Rangelei gegangen sein. Jakob erweist sich als ausdauernder Kämpfer und soll sich so fest an seinen Gegner geklammert haben, dass der sich schließlich nur gegen die Vergabe eines Segens lösen darf. So weit die biblische Geschichte in Kürzestfassung. Um sie geht es eigentlich nur am (Bild-)Rande.

Was Paul Gauguin hier vor allem malt, ist vielleicht das erste religionswissenschaftliche Bild der modernen Kunstgeschichte. Eine Studie von Menschen, die ganz offensichtlich eine religiöse Erfahrung machen. Denn hier werden mehrere Zeit- oder gar Geistesebenen zu einer Gegenwart vermalt. Wer schon vorher auf den Titel geschielt hat, weiß es eh: "Die Vision der Predigt" hat der berühmte französische Maler sein Werk von 1888 genannt. Es zeigt betende Frauen in ­bretonischer Tracht, die ergriffen ihrem Priester lauschen. Der wiederum trägt, gut versteckt am rechten Bildrand (Kundige entdecken in den Zügen des Geistlichen auch ein bisschen Gauguin), den "Kampf am Jabbok" aus Genesis 32 vor, und die vielen geistigen Augen der Damen projizieren das Gerangel aufs Bild. In echt findet er also gar nicht statt! Kunst macht's möglich.
Den Einfall, Gegenwart und Bibelgeschichte derart zusammenzuwürfeln, ­hatte Paul Gauguin als einer der Ersten. Auch von seinem Stil her gilt das Bild als avantgardistisch. Denn für den damaligen Zeit­geschmack ist es erstaunlich abstrakt, bunt und expressiv.

Ende der 1880er Jahre fuhr Paul Gauguin dafür extra an die bretonische Küste. Viel weiter entfernt vom Pariser Chichi kann man in Frankreich kaum kommen. In der rauen Bretagne suchte der Maler ein bisschen ­naiv nach dem vorzivilisatorischen Wahren, den edlen Wilden des französischen Nordwestens. Die Landbevölkerung musste ihm dafür Modell stehen und wurde zur Vor­lage auch dieses Bildes. Gauguin half bei der Tracht ein bisschen nach und malte sie ein, zwei Jahrhunderte älter, als sie zu seiner Zeit ausgesehen haben dürfte.
Wer jetzt noch glaubt, dass die Frauen hier tatsächlich einen Ringkampf sehen, der benötigt einen Wink mit dem Baumstamm. Welch hilfreiche Botanik: Praktischerweise trennt das braune Geäst die irdische Gegenwart der religiös Ergriffenen von der geis­tigen Erfahrung des biblischen Kampfes. Der Priesterkopf ist als Vermittler auf dieser Grenze platziert.

Hätte es Paul Gauguin mit seinem Fernweh nicht noch weiter außer Landes ge­trieben, er ließe sich heute uneingeschränkt als moderner Maler feiern. Aber der Künstler suchte die edlen Wilden eben auch auf diver­sen Südseeinseln. Für sein neues Leben auf Tahiti verließ er Frau und Kinder und Paris. In den 1890ern entstanden seine berühmtesten Werke, unter anderem "Tahitianische Fischerinnen", zu sehen gerade auch in der Berliner Nationalgalerie sowie – in postkolonialistischer Kritik – auf der Biennale Venedig. Und mit diesen Südseebildern machte sich Gauguin zum heute kritisierten weißen ­Kolonialherren, der exotische Schönheiten auf seine Leinwand brachte, sich selbst als "Wilden" stilisierte und mit jugendlichen Tahitianerinnen Kinder zeugte. Aber er war eben auch ein famoser Künstler. ­Seine Werke zeigen viel weniger das erhoffte als das ­ver­loren gegangene Paradies und ­markieren viele künstlerische ­Aufbrüche in die ­Moderne. So einfach lassen sich ­seine Werke eben nicht verdammen. Wer ­Gauguins Kunst erfassen will, muss ein ­wenig mit dem Für und Wider ringen – ganz wie Jakob mit dem Unbekannten.

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