Jasmin El-Manhy, Pfarrerin in Neukölln, im Interview
Jasmin El-Manhy in Ihrer Kirche in Berlin Neukölln, Genezarethkirche am Herrfurthplatz; Die Kirche während der Umbaumaßnahmen, 2021
Thomas Koy
Alles umkrempeln!
Jasmin El-Manhy, 41, Tochter eines Muslims und einer Katholikin, ließ sich als Erwachsene evangelisch taufen und studierte Theologie. Nun will sie die Kirche vor der Bedeutungslosigkeit bewahren. Ein Gespräch über alte weiße Männer, Bach und Beyoncé, kirchliche Arroganz und Kreativität im Gottesdienst.
11.01.2022

Frau El-Manhy, seit Jahren gehen die Mit­gliederzahlen der evangelischen Kirche dramatisch zurück. Sie wollen diesen Trend stoppen. Wie?

Mir geht es gar nicht darum, Mitglieder zurückzugewinnen. Ich denke Kirche nicht wie einen Mobilfunkanbieter oder ein Unter­nehmen, das möglichst viele zahlende ­Kunden binden möchte. Ich möchte keine Lockangebote machen, die wir später nicht einhalten können. Zudem ist Kirche im Gegensatz zu einem kommerziellen Unternehmen auch für Menschen da, die nicht zu uns gehören und von denen wir kein Geld bekommen. Mir geht es darum, dass Menschen positive ­Erfahrungen mit der Kirche machen und sich zumindest fragen: Braucht unsere Gesellschaft die Kirche noch?

Thomas Koy

Jasmin El-Manhy

Jasmin El-Manhy: Nach ihrem Theologiestudium war sie Assistentin am Zentrum für Predigtkultur in Wittenberg, wurde Vikarin in einer Kreuzberger Gemeinde und ab 2017 Pfarrerin in Berlin-Prenzlauer-Berg. Seit Januar 2021 stehen sie und Susann Kachel im "Segensbüro" des Kirchenkreises Neukölln für Seelsorge bereit und gestalten Amtshandlungen: Taufen, Hochzeiten, Beerdigung.

Und – brauchen wir die Kirche noch?

Das ist noch nicht entschieden! Studien ­zeigen, dass viele, auch sogenannte kirchenferne Menschen der Kirche eine wichtige ­wohltätige Rolle zuweisen. Es wird zu Recht von der ­Kirche erwartet, dass sie für Menschen da ist, um die sich sonst niemand kümmert. Ein befreundeter Theologe hat vor kurzem gesagt, Kirchen sollten Orte der Güte sein. Wir hätten schon viel gewonnen, wenn jede Kirche ein freundlicher Ort wäre. Ob die Kirche relevant bleibt, entscheidet sich vor allem daran, ob sie sich erneuern und Menschen Orientierung in ihrem Leben geben kann. Die Corona-Krise hat gezeigt, dass die Kirche eine Sprache und Formen hat, die vielen Menschen nichts mehr sagen. Daran müssen wir arbeiten.

Ist die Corona-Krise dabei eine Chance?

Jede Krise ist auch eine Chance. Sie kann ein Übergang sein in etwas Neues. Natürlich hat sich niemand Corona gewünscht. Zu Beginn der Pandemie hatten wir Probleme, Menschen zu erreichen, weil Gottesdienste abgesagt wurden, um Infektionen zu vermeiden. Aber das hat schnell zu einem Kreativitäts- und Digitalisierungsschub geführt, ein guter Schritt. ­So haben wir trotzdem viele Menschen erreicht. Aber was brauchen die Menschen in dieser Krise wirklich – Trost, Ermutigung? Manchmal ist es vielleicht angemessener, einfach den Raum zum Klagen zu bieten. Auch Räume, in denen wir das Miteinander einüben. Orte, an denen wir nach Liebe, Wahrheit und Gerechtigkeit fragen. Ich bin überzeugt, dass die Kirche nicht nur an Weihnachten Relevanz hat.

"Die alten weißen Männer"

Was macht sie relevant?

Dass wir Themen ansprechen und Dinge tun, die anderswo nicht diskutiert und getan ­werden. Wo beschäftigt man sich mit ­solchen Ambivalenzen wie Leben und Tod oder ­Himmel und Erde? Wo kann man gemeinsam beten, singen und Trost finden? Die Kirche ­hütet einen wahnsinnig großen Schatz.

Der aber anscheinend immer weniger ­Menschen interessiert. Was muss weg, damit wieder mehr Menschen diesen Schatz wahrnehmen?

Die alten weißen Männer – im Sinne eines systemischen Begriffs. Ein System, in dem es Neues schwer hat, weil die Strukturen da nicht mitmachen. Und die leitenden ­Positionen in der Kirche sind überwiegend von Männern besetzt. Zudem wurden Fälle von Missbrauch und Misswirtschaft, die das Vertrauen in die Kirche zutiefst erschüttert haben, meist von Männern begangen. Das betraf zwar vor allem die katholische Kirche, aber die ­Leute trennen oft nicht zwischen katholischer und evangelischer Kirche. Die Kirche muss ­diverser, weiblicher und jünger werden, damit sich überhaupt junge Menschen für sie interessieren. Derzeit ist die Kirche nicht zeitgemäß. Ich fände es super, wenn die evangelische Kirche alle leitenden Ämter mit Frauen besetzt. Sie könnte doch einfach sagen: Wir probieren das jetzt aus und werden eine Vorreiterin. Das wäre toll!

Immerhin, die Ratsvorsitzende der EKD, ihre Stellvertreterin und die Präses der EKD-Synode sind jetzt Frauen. Was muss noch weg?

Die kirchliche Hochkultur mit der dazugehörigen Musik. Zumindest muss sie ergänzt ­werden. Für meine eigene Frömmigkeit ­spielen evangelisches Gesangbuch und ­Orgel nicht die erste Rolle. Natürlich ist die Orgel ­beeindruckend, aber sie erreicht mich ­emotional oft nicht. Über Orgel, Oratorien und Gesangbuch wird eine sehr männliche, ältliche Theologie transportiert.

"Popmusik wird im ­deutschen Pfarrhaus häufig abgewertet"

Wollen Sie ernsthaft Kirchenchöre und ­Orgeln aus den Kirchen verbannen?

Nein, natürlich nicht. Aber ich habe kein Verständnis dafür, wenn Popkultur aus den ­Kirchen verbannt wird. Als ich 14 Jahre alt war, haben sich meine Eltern getrennt, und es ging mir sehr schlecht. Als ich dann im Radio den REM-Hit "Everybody Hurts" hörte, dachte ich: "Ah, da versteht mich jemand." ­ Ich habe den Text viele Jahre später in ­einer Predigt aufgegriffen, und zumindest die ­Leute in ­meiner Generation, die dieses Lied alle ­kennen, fühlten sich sofort angesprochen.

Was würden Sie stattdessen gern in der ­Kirche hören?

Für viele Menschen ist Gospel natürlich das Naheliegende. Aber auch Pop, Rap, Hip-Hop und elektronische Musik sollten in der Kirche ihren Platz haben. In den USA gibt es zum Beispiel Beyoncé-Gottesdienste. Ich finde, das macht total Sinn. Sie setzt sich in ihrer Musik auf sehr empowernde Art mit Themen ­auseinander, die viele Menschen ­unterhalten und auch spirituell ansprechen. Aber im ­deutschen Pfarrhaus hört man immer noch Bach und Posaunenchor. Popmusik wird ­häufig auch abgewertet.

Haben Sie das selbst auch so erfahren?

Ja. Seit ich 13 Jahre alt war, habe ich Gesangsunterricht genommen und in Popbands gesungen. Tracy Chapman, Frank Sinatra, Stevie Wonder und Lauryn Hill gehören zu meinen Vorbildern. Ich habe viele Komplimente für meine Stimme bekommen. Aber als ich während meiner Ausbildung das erste Mal im Gottesdienst das Kyrieeleison sang, kam nach dem Gottesdienst ein Pfarrer im Ruhestand zu mir und sagte: "Ihr Kyrieeleison war ja schön und gut, aber wir sind hier nicht bei ‚Deutschland sucht den Superstar‘." Mich hat das total verunsichert. Ich wollte mich nicht in den Vordergrund spielen. Aber es ist doch auch wichtig, dass Pfarrerinnen und Pfarrer Menschen mit Musik und Predigt berühren und erreichen.

"Der Talar ist für Männer entworfen worden"

Was stört Sie noch?

Die Arroganz und Rechthaberei! Die Kirche meint oft genau zu wissen, was richtig ist. Ein Beispiel ist die deutsche Flüchtlingspolitik. Die evangelische Kirche hat sich dazu sehr klar positioniert, und sogar selbst ein Schiff zur Rettung von Flüchtlingen ins Mittelmeer geschickt. Ich finde das absolut richtig. Ich sehe mich selbst als politische Pfarrerin; wir haben in meiner alten Gemeinde mehreren Familien Kirchenasyl gewährt. Aber ich finde es auch wichtig, dass Kirche ein Ort ist, der für alle – egal welch politischer Couleur – offen ist.

Pfarrerin Jasmin El-Manhy

Sind bei Ihnen AfD-Wähler willkommen?

Ja klar! Im Reich Gottes sollen die Menschen beieinandersitzen, die sonst nicht an einem Tisch sitzen würden. Nur so ist Versöhnung möglich.

Was muss sich noch ändern?

Die verkrusteten Strukturen. Wir müssen ­flexibler werden. Warum muss der Gottesdienst immer am Sonntagmorgen gefeiert werden? Das ist wirklich nicht meine Zeit, und ich bin da sicher nicht die Einzige. Sonntag, 18 Uhr, wäre eine gute Zeit.

Gibt es noch etwas, das abgeschafft gehört?

Der Talar! Ich finde Amtskleidung wichtig, aber es muss ja nicht unbedingt der Talar sein. Ich fühle mich darin nicht besonders wohl, sondern so behangen, so gewichtig und unnahbar. Der Talar ist ursprünglich für Männer entworfen worden. Ich hätte nichts gegen ein Kleid. Von mir aus auch figurbetont.

Würde es nicht von der Predigt ablenken, wenn alle im Gottesdienst tragen, was sie wollen?

Das ist ein Argument für den Talar. In der Ausbildung haben wir darüber diskutiert, ob die Pfarrerin die Fingernägel lackieren, ­Lippenstift tragen und sich auffallend schminken darf. ­Natürlich soll das Äußere nicht vom Inhaltlichen ablenken, aber was heißt das schon? Als Pfarrerin muss ich mich im Gottesdienst auch wohlfühlen. Ich bin fast immer geschminkt.

"Warum hat sich nicht der Fisch als Symbol durchgesetzt?"

Darf denn das Kreuz bleiben?

Ja! Wobei ich mich schon häufiger gefragt ­habe, warum sich nicht der Fisch, das Zeichen der frühen Christen, als Symbol durchgesetzt hat. Das Kreuz ist ein Folterinstrument. Für viele steht es auch für eine demütige und genussfeindliche, das individuelle Glück ablehnende Einstellung. Eine lebensbejahende Theologie vor einem Kruzifix mit sterbendem oder totem Christus zu verkündigen, ist nicht immer leicht. Andererseits steht das Kreuz auch dafür, dass wir alle Leiden und Begrenztheit ausgesetzt sind – und darin verletzlich und stark zugleich. Das sollten wir nicht ausklammern.

Bleiben bei so viel Veränderung nicht ausgerechnet die treuesten Kirchgänger, die Alten, auf der Strecke?

Nach meiner Erfahrung gibt es diese veränderungsunwilligen und -unfähigen Alten kaum. Viele alte Menschen sehnen sich genau wie Jüngere danach, dass sich Dinge verändern. Natürlich wollen auch einige wenige Alte, dass alles so bleibt, wie es war, auch einige Jüngere. Aber viele Kirchengemeinden kümmern sich so sehr um ihre Senioren und Seniorinnen, dass die Jungen aus dem Blick geraten. Wenn wir uns nur auf Veränderungsunwillige konzentrieren, verlieren wir unverhältnismäßig viele Veränderungswillige.

Was muss denn so bleiben, wie es ist?

Die Bibel. Sie hält alles zusammen. Ich kann mir nicht vorstellen, dass sich dieses Buch über Begegnungen mit Gott je erschöpfen wird. ­Ohne die Bibel müssten wir alles aus uns selbst schöpfen. Damit wäre ich überfordert.

Was noch?

Die verbindenden Gebete. Das den Takt vorgebende Kirchenjahr. Die starke Gemeinschaft. Und die Kirchen als Oasen der Ruhe in der Stadt.

"Eine Predigt muss auch gut rübergebracht werden"

Den größten Teil des Tages stehen diese ­Immobilien in Toplagen leer.

Das ist wirtschaftlich natürlich eine Katas­trophe. Darum kann ich mir vorstellen, dass die Kirche einige ihrer Liegenschaften verkauft. Allerdings mit der Auflage, dass in den Gebäuden weiterhin Menschen zusammenkommen. Warum sollten Kirchen nicht in Kitas oder Bibliotheken umgewandelt werden?

Sie haben am Zentrum für Predigtkultur in Wittenberg gearbeitet. Was macht eine gute Predigt aus?

In Wittenberg haben wir viel mit Dramaturginnen und Schauspielern gearbeitet. Eine Predigt muss nicht nur gut sein, sondern auch gut rübergebracht werden. Predigten werden gehört, nicht gelesen, und müssen trotzdem verstanden werden. Ich habe mich viel mit Leichter Sprache auseinandergesetzt und ­einen klaren Stil gefunden. Ich mag keine verschwurbelten Sätze. Ich habe in meinen Predigten oft eine Art Refrain. Außerdem sollte eine Predigt nicht länger als sieben Minuten dauern.

Halten Sie selbst gute Predigten?

Das hoffe ich doch! Aber mir wurde auch schon einiges vorgeworfen: Meine Predigten seien manipulativ, weil sie Menschen zu emotional ansprächen. Tatsächlich wird in ­meinen Gottesdiensten ab und zu geweint. Am Anfang hat mich das total irritiert. ­Andererseits: Ich weine ja auch, wenn ich einen ­berührenden Film gucke oder bestimmte Lieder höre. Zudem wurde kritisiert, dass ich zu viel von mir selbst spreche. Jemand hat mal eine Strichliste geführt: Wie oft sagt sie "ich", wie oft "Jesus", wie oft "Gott"? Bei "ich" standen am Ende die meisten Striche. Aber ich mache mich ja auch zum Sprachrohr des Textes und kann nur glaubwürdig von Gott und Jesus erzählen, wenn ich mich selbst einbringe.

Charismatische Prediger in den USA sprechen oft sehr ergriffen von sich selbst. Wollen Sie das auch?

Vielleicht ein bisschen. Skeptisch macht mich, wenn jemand sagt, der Heilige Geist sei gerade in ihm, wenn er sich damit unantastbar macht. Er gibt vor, etwas zu haben, das andere nicht haben. Ich habe viele Zweifel, und es muss Raum für Nachfragen und Kritik geben, ohne dass dies einem als Glaubensarmut oder mangelnde Hingabe ausgelegt wird.

In Berlin betreiben Sie mit Ihrer Kollegin, Pfarrerin Susann Kachel, ein Segensbüro. Was ist das?

Wir wollen Menschen segnend durchs ­Leben begleiten und sie so auch – wieder – für die ­Kirche begeistern. Taufe, Konfirmation, ­Trauung, Beerdigung, das sind die klassischen Übergänge. Zu diesen Amtshandlungen ­kommen auch viele, die sonst nicht in die Kirche gehen. Wir müssen es schaffen, dass diese Leute nicht denken: "Jetzt muss ich den ­Gottesdienst hinter mich bringen, danach fängt die Party an!" Wir wollen Menschen immer dann segnen und ihnen beistehen, wenn sie das möchten: bei gleichgeschlechtlichen oder interreligiösen Trauungen, während der mit so viel Unsicherheit verbundenen Schwangerschaft, bei Geschlechtsumwandlungen, beim Eintritt in die Menopause. Wir segnen Familien in Krisen- oder Trennungs­situationen und bestatten auch Tiere.

"Für manche Menschen ist der Hund ein Partnerersatz"

Wirklich auch Tiere?

Warum nicht? Ich habe schon mal ein Meerschweinchen beerdigt, weil Kinder mich darum gebeten haben. Tierliebe ist vor allem in der Stadt ein riesiges Thema. Für manche Menschen ist der Hund ein Partnerersatz. Stirbt er, hinterlässt das eine riesige Lücke. Damit müssen wir uns als Kirche beschäftigen.

Zu Trauungen und Beerdigungen kommen freie Redner. Schwangere lassen sich und ihr ungeborenes Kind beim "Blessing Way" von Frauen segnen, die sich dazu berufen fühlen. Manche bevorzugen alternative, nicht religiöse Taufrituale. Wer braucht da noch das Segensbüro?

Unsere eigenen Mitglieder. Wir müssen uns der Konkurrenz stellen, wir haben keine andere Wahl. Das Bedürfnis nach Sinnstiftung, Spiritualität und Ritualen ist offensichtlich ungebrochen. Aber die Kirche hat hier ihr Monopol verloren. Wir können uns nicht mehr wie selbstverständlich darauf verlassen, dass die Menschen auf uns zukommen. Das liegt auch daran, dass wir als Kirche bislang kaum Servicestrukturen haben. Man muss erst mal die geeignete Person für die Taufe, die Trauung oder den Segen finden. Das ist für Menschen, die keinen persönlichen Bezug zu einer Pfarrerin oder einem Pfarrer haben, sehr schwierig. Wir müssen signalisieren: Wir wollen wirklich, dass ihr zu uns kommt. Das Segensbüro will vermitteln, damit schöne Feste gefeiert werden können, die stark auf die Bedürfnisse eingehen, ohne dass wir uns dabei verbiegen müssen. Außerdem sind wir nicht kommerziell.

Da werden mitreißende Pfarrerinnen und Pfarrern oft angefragt und andere kaum?

Ja, das kann passieren. Menschen orientieren sich immer mehr an Personen und immer ­weniger an Institutionen. Und sie nehmen die wahr, die inspirieren und zusätzlich vielleicht auch in den sozialen Medien sehr präsent sind. Damit müssen wir umgehen können.

"Auf Wunsch meines Vaters habe ich die Koranschule besucht"

Biedert sich die Kirche mit dem Segens­büro an?

Nein. Alles um uns herum verändert sich ­ständig. Der Glaube ist eine Kraft, die Ver­änderung möglich macht. Ohne Veränderung ­würden uns Kraft und Glauben verloren ­gehen. Die Kirche biedert sich nicht an, sie ­bewegt sich. Die Kirche ist eine Bewegung.

Ihre Mutter ist Katholikin, ihr Vater war Muslim. Wie wurden Sie evangelische Pfarrerin?

Meine Eltern haben mir und meinem älteren Bruder überlassen, ob und wenn ja, für welche Religion wir uns entscheiden. Ich habe in der Grundschule eine Klasse übersprungen und wäre eigentlich in die Klasse meines Bruders gekommen, der katholischen Religionsunter­richt hatte. Um eine ungute Konkurrenz zwischen uns zu vermeiden, kam ich in die Parallelklasse mit evangelischem Religionsunterricht. Später habe ich mich mit dem Schulpfarrer an meinem Gymnasium und ein paar anderen Schülerinnen und Schülern oft in der großen Pause getroffen. Wir haben in einem verstaubten Raum gemeinsam für die nächste Mathearbeit und alles Mögliche gebetet. Ich habe dieses Harry-Potter-mäßige Ritual geliebt und kam mir sehr fromm vor. Auf Wunsch meines Vaters habe ich parallel samstags die Koranschule in einer Berliner Hinterhofmoschee besucht. Nach dem Abitur habe ich mich evangelisch taufen lassen. Ein Jahr später habe ich angefangen, Theologie zu studieren.

In Ihrem Berliner Stadtteil Neukölln leben viele Menschen aus muslimisch-christlichen Familien. Wollen Sie sie für die evangelische Kirche gewinnen?

Ich will ganz bestimmt niemanden missionieren. Aber ich war auch nach meiner Taufe oft in Ägypten. Mein ­Vater hatte immer Angst, dass seine ­Familie dahinter­kommt, dass ich mich christlich ­habe taufen lassen. Meinen Beruf ­musste ich dort sowieso geheim halten, das ist ­keine schöne Erfahrung. Mir ist wichtig, dass ­alle akzeptieren: In Deutschland haben wir ­Religionsfreiheit, Konversion ist möglich. Ich selbst war nie Muslimin und bin also auch nicht konvertiert. Ich finde es beängstigend, dass auch hier Menschen das so interpretieren und ich damit quasi ein Fall für die Todesstrafe bin. Solche Fanatiker machen mir Angst. Ich kenne viele Leute, die eine liberale muslimische Community suchen. Aus Angst, sich mit Rechten gemeinzumachen, traut sich die politische Linke in Deutschland leider kaum, das Problem des islamischen Fundamenta­lismus anzusprechen.

Besteht die Gefahr, dass Sie Ihren Glauben verlieren?

Wenn man ehrlich zu sich selbst ist, besteht die Gefahr für jeden gläubigen Menschen. Mir würde der Verlust meines Glaubens zudem die Berufsgrundlage entziehen. Vielleicht gibt es Pfarrerinnen und Pfarrer, die ihren Beruf weiter ausüben könnten, wenn sie nicht mehr glauben. Ich könnte es nicht.

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Liebe Mitarbeitende der Redaktion,
einerseits finde ich es super, dass in der aktuellen Ausgabe das Thema diskutiert wird, wie mehr Menschen die ev. Kirche als wichtig empfinden können oder sogar beitreten. Andererseits ermüdet mich das Thema ähnlich, wie es mich bei der SPD erschöpft hat. Denn ich denke, wir reden schon so lange darüber und ich sehe wenig Verbesserung, zudem spüre ich viel Ratlosigkeit.

Einerseits stimme ich Frau El-Manhy zutiefst zu: Ja, mehr Popmusik und weniger Verwaltungsvorschriften, mehr Ausprobieren (z.B. Gottesdienst Sonntag 18 Uhr) und weniger Talar. Das schreibe ich jetzt sehr zugespitzt.

Andererseits wünsche ich mir, wir würden Gott mehr merken. Die Evangelisten schreiben, die Menschen strömten zu Jesus: Klar, er predigte mitreißend und provozierend, er besuchte Menschen, auch das stieß bei vielen sauer auf; und er heilte Menschen, wies damit auf Gottes gute Welt hin. Ich wüsste gern, wie wir selbst oder ich selbst mehr begeistert und überzeugt von ihm / ihr sein kann.

Frau Gauses Beitrag verstehe ich so, dass sie unter anderem überlegt, ob es den Menschen zu gut geht, so dass sie "das vertraute, oft aber auch unbequeme und enge Sicherheitsgefühl" nicht brauchen, das Gott vermittelt.
Ich denke, das geht einigen Menschen zeitweise so. Doch vermute ich, viel mehr Menschen haben viele Nöte (Corona, andere Krankheit, Stress, Geld, Familie, Kollegen, Einsamkeit...) und merken zu wenig, dass Gott wie eine Burg für sie ist. Mir geht es teils so. Wäre es gut, wenn mehr Menschen mehr lernen, wie Gott zu entdecken ist? Inwiefern erwarten Menschen Falsches von Gott und werden daher enttäuscht?

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Liebe Chrismon-Redaktion,
vielen Dank für dieses Interview.
Die klare Sichtweise, das Engagement und der Optimismus von Frau Pfarrerin El-Manhy freuen mich sehr, und ich wünsche ihr viel Erfolg.

Obwohl man schon an der Unbeweglichkeit (auch) der evangelischen Kirche verzweifeln könnte. Vor 33 Jahren bin ich als junger Mensch in einer rheinischen Mittelstadt zum Presbyter gewählt worden. Auch mir ging es damals um eine einladende Kirche für alle Altersgruppen, mit unterschiedlichen Gottesdienstformen, familiengerechten Gottesdienstzeiten, vielfältiger Musik. Von den Kirchentagen habe ich dafür viele Ideen und Konzepte mitgebracht - und bekam dann zu hören, dass Kirchentage ja schön und gut seien, aber für die alltägliche Gemeindearbeit sei das nichts, da würde man nur die Gemeinde verschrecken... Nun ja.

Das Kirchengebäude und das Gemeindehaus meiner damaligen Gemeinde existieren heute nicht mehr, nur die Fragen nach einer zeitgemäßen und einladenden Kirche sind geblieben. Umso wichtiger ist es, dass endlich Menschen wie Frau El-Manhy viel mehr Einfluss bekommen, dass sich endlich etwas dreht, und zwar nachhaltig!
Mit freundlichen Grüßen
Wolfgang Lechner

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Gut an den Vorstellungen von Frau El-Manhy finde ich, dass sie Talare am liebsten abschaffen würde und für engagierteren Gesang plädiert. Auch, dass sie aus einem Umfeld kommt, in dem Christentum und speziell die evangelische Spielart nicht von vornherein gesetzt ist, gefällt mir.

Aber weder mit meiner Kritik an Kirche (Ignoranz im Bezug auf Naturwissenschaften) noch mit meiner Vorliebe (Posaunenchor) finde ich mich bei ihr wieder. Außerdem bin ich Frühaufsteher und finde einen Gottesdienst um 10 h besser als einen um 18 h.

Als alter weißer Mann muss ich wohl froh und zufrieden sein, wenn ich in der evangelischen Kirche nach dem nächsten Reformationsschritt noch geduldet werde. Keine identitätstechnisch interessante Gruppe, Pech gehabt.

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Beim Lesen des Interviews mit Frau El-Manhy ging mir das Herz auf. Die klare und bodenständige Analyse unserer ev. Kirche, der Mut zu radikalen Veränderungen, die Perspektiven von Hoffnung waren wohltuend. Eine Kirche ohne Arroganz und Rechthaberei. Die Bereitschaft für neue Wege und die Fähigkeit verständlich über den Glauben zu reden beeindruckend. Herzlichen Dank!

Mit freundlichen Grüßen

Gerd Bunk

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Sehr geehrte Damen und Herren!
Als regelmäßige Leserin von "chrismon plus" habe ich in der Januarnummer das Interview mit der Berliner Pfarrerin Jasmin El-Manhy gelesen. Ich bin Kirchenmusikdirektorin und Kreiskantorin in der Ev.-luth. Kirchengemeinde Hamburg-Hamm. Sie können sich denken, dass mich besonders die Stellen bewegt haben, wo es um den Gottesdienst und die Kirchenmusik geht. Ich kann zwar verstehen, dass eine Pfarrerin, die aus einer völlig anderen Kultur stammt, einen ganz anderen, in mancher Hinsicht unverstellten Blick auf unsere Kirche hat. Aber einige Urteile, zumal im Blick auf das, was meine tägliche Arbeit betrifft, haben mich doch sehr geärgert und gekränkt.
Stimmt das wirklich, dass Orgel, Oratorien und Gesangbuch die Menschen emotional nicht mehr erreichen? Selbst wenn dieses Urteil immerhin teilweise seine Berechtigung haben mag, frage ich mich: kann man, darf man das so pauschal stehen lassen? Ich meine unbedingt: nein. Und das ist ganz sicher auch die Meinung vieler Ihrer Leser.
Ja, ich habe dann in der Folgenummer von "chrismon" drei Leserbriefe gefunden. Aber natürlich ist im Rahmen eines Leserbriefs nicht genügend Platz, um ausführlich auf die Äußerungen von Frau El-Manhy zu antworten. Deshalb würde ich mir von Ihnen wünschen, dass Sie meine Entgegnung daraufhin lesen, ob es nicht wert wäre, das als einen Artikel in eine der nächsten Nummer aufzunehmen?
Sollten Sie diesen Text aus der Sicht einer persönlich betroffenen kirchlichen Mitarbeiterin abdrucken, gegebenenfalls leicht gekürzt, wäre ich Ihnen dafür sehr dankbar. Und nicht nur ich, denn ich bin überzeugt, dass mein kleiner Artikel viele Leser interessieren würde. Das gilt vor allem, wenn sie schon das Interview gelesen haben. Sie würden dann die Entgegnung nicht nur interessiert, sondern erleichtert zur Kenntnis nehmen.
Sollten Sie vor einer Entscheidung für oder gegen einen Abdruck Rückfragen haben, würde ich mich sehr freuen. Natürlich könnte ich Ihnen ggf. auch eine passende Fotografie zum Thema bzw. allgemein zu meiner Arbeit als Kirchenmusikerin zur Verfügung stellen.
Was meinen Sie dazu?
Mit freundlichen Grüßen
Diemut Kraatz-Lütke
Hamburg

Liebe Frau Kraatz-Lütke,

soweit ich diesem Interview entnehmen kann spricht sich Frau El-Manhy keinesfalls gegen traditionelle Kirchenmusik aus. Der Feststellung, dass man mit Orgel und Gesangbuch viele Menschen heute nicht mehr erreicht, kann ich dabei nur zustimmen. So sehr ich persönlich auch einige Oratorien schätze, so finde ich sie in manchen Gottesdiensten einfach deplatziert.

Wir haben es ausprobiert und durften feststellen, dass beispielsweise alternative Gottesdienstformen mit modernen Lobpreisliedern aus der christlichen Jugendszene auch von Senioren gerne angenommen werden. Eine Frau, über neunzig, meinte sogar, am Liebsten seien ihr traditioneller und moderner Gottesdienst im wöchentlichen Wechsel. Es ist geradezu erschreckend, wenn einigen Kirchenvorständen zum Thema "moderner Kirchenmusik" immer noch die erste Auflage von "Sein Ruhm, unsere Freude" einfällt oder wenn man glaubt, Konfirmanden mit Anhängen zum Gesangbuch, deren neueste Lieder spätestens 1974 entstanden sind, dauerhaft in den Gottesdienst zu locken.

Wie steht es schon im Buch Prediger, Kapitel 3, Vers 1: "Für alles gibt es eine ⟨bestimmte⟩ Stunde. Und für jedes Vorhaben unter dem Himmel ⟨gibt es⟩ eine Zeit..." Dies gilt auch für die angemessene Gottesdienstform und die dazu passende Kirchenmusik. Und das Eine bedeutet nicht automatisch eine Herabsetzung des Anderen.

Liebe Frau Kraatz-Lüke, vielen Dank für Ihre aufmerksame Richtigstellung - wir feierten gerade den Sonntag Kantate und mir wurde bewusst, wie sehr mich - gerade nach zwei Corona-Jahren - die Orgelmusik und der Gesang emotional bewegt. Selbstverständlich gehört das alles zum Gottesdienst, ich bin oft im Ausland und gerade die tradierten Kirchenlieder haben für mich einen Wiedererkennungswert, etwas Verbindendes, nicht nur was die Melodien angeht, sondern vor allem auch die Texte, sie mögen uralt sein, etwa die Lieder von Paul Gerhardt, und haben doch eine unbeschreibliche Aktualität. Natürlich hat die Argumentation von Frau El-Manhy ihre Berechtigung - "singet dem Herrn ein NEUES Lied, denn er tut - immer noch - Wunder"!. Das können doch die Lieder sein, die eine junge Generation hört, deren Texte bedeutungsvoll für sie sind.
We shall overcome - in diesem Sinn soll die Kirche leben.
Liebe Grüße an Sie!
Judith Zachrai

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