Arnd Brummer
Arnd Brummer
Anja Stiehler
Alle für das Star-Team
Parteien sind von gestern, Zugehörigkeit auch.
Lena Uphoff
24.02.2021

"Das nächste Jahr, 2021, wird ein ­Wahlkampfjahr, wie wir es schon lange nicht mehr hatten", sagte der Bürger­meister beim Neujahrs­empfang 2020. "Darauf sollten wir uns in dieser Kommune parteiübergreifend vorbereiten, ­ruhig und sachlich über unsere großen Projekte sprechen." Als ich ihn vor ein paar Tagen auf diese Äußerung ansprach, lächelte er milde. "Wie hätte ich vor 14 Monaten etwas erahnen ­sollen, was weder Sie noch sonst jemand wusste?"

Lena Uphoff

Arnd Brummer

Arnd Brummer, geboren 1957, ist Journalist und Autor. Bis März 2022 war er geschäftsführender Herausgeber von chrismon. Von der ersten Ausgabe des Magazins im Oktober 2000 bis Ende 2017 wirkte er als Chefredakteur. Nach einem Tageszeitungsvolontariat beim "Schwarzwälder Boten" arbeitete er als Kultur- und Politikredakteur bei mehreren Tageszeitungen, leitete eine Radiostation und berichtete aus der damaligen Bundeshauptstadt Bonn als Korrespondent über Außen-, Verteidigungs- und Gesellschaftspolitik. Seit seinem Wechsel in die Chefredaktion des "Deutschen Allgemeinen Sonntagsblatts", dem Vorgänger von chrismon im Jahr 1991, widmet er sich zudem grundsätzlichen Fragen zum Verhältnis Kirche-Staat sowie Kirche-Gesellschaft. Seine besondere Aufmerksamkeit gilt kulturwissenschaftlichen und religionssoziologischen Themen. Brummer schrieb ein Buch über die Reform des Gesundheitswesens und ist Herausgeber mehrerer Bücher zur Reform von Kirche und Diakonie.

Nein, Wahlkampf im traditionellen Sinn wird nirgendwo statt­finden. Das war in Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz, wo am 14. März neue Landtage gewählt ­werden, ebenso zu spüren wie in ­Hessen, wo am selben Tag über kommunale ­Parlamente entschieden wird. Und dies wird im Frühjahr in Sachsen-Anhalt und schließlich am 26. September nicht anders sein, wenn drei weitere Landesparlamente, vor allem aber der Bundestag gewählt wird. Die pandemische Revolution lässt Stadthallen oder Marktplätze in erhabener Leere ruhig bleiben.

Doch auch ohne die blockierende Wirkung des Virus auf körperliche Nähe sind die alten Zeiten längst passé. Das erkennt man am Schicksal der sogenannten Volksparteien, egal, wo man hinschaut, ob nach Skandi­navien, nach Frankreich oder Deutschland. Große Kundgebungen konservativer, sozialdemokratischer oder liberaler Kandidaten sind nur noch in TV-Archiven zu bestaunen. Traditionelle Zugehörigkeit gibt es (fast) nicht mehr. Wenn meine Tante sagte, "wir hier im Ruhrpott wählen die Sozis", und ihre Cousine antwortete, dass sie als bewusste Christin schon immer die CDU auf dem Stimmzettel angekreuzt habe, lässt das ihre Enkel verständnisarm lächeln.

Politiker werden nicht mehr ideologisch, sondern nach ihrem Erfolg beurteilt

"Das Sein bestimmt das Bewusstsein", stellte Karl Marx vor mehr als 160 Jahren fest. Obwohl er nicht ahnte, welche technologische Modernisierung sich ereignen würde, hat er damit die aktuelle Entwicklung ­exakt beschrieben. Dominierten ­früher ­traditionelle Gemeinschaften wie ­Parteien, Gewerkschaften und Kirchen, so kommuniziert man heute endlos und elektronisch. Regierenden Frauen und Männern unter Tausenden Gleichgesinnten zu lauschen und lautstark zu applaudieren, hat nur noch Bedeutung, wenn dies per Whatsapp oder Instagram den Net-Friends gesendet werden kann. Die kommunikative und ökonomische Globalisierung macht Heimat und Zugehörigkeit zu sehr relativen Begriffen.

Und: Politisch Handelnde muss man gar nicht mehr ideologisch zuordnen, sie werden einfach nach ihren Erfolgen beurteilt. Wenn strenge Ordnung gegen das Virus hilft, nicken liberale Wählerinnen und Wähler zustimmend. Und wenn persönliche Entscheidungen und eine freie Wahl der Wege nützlich sind, sehen auch Verfechter strikter Bestimmungen dies als angemessen an.

Als ich den anfangs zitierten Bürger­meister befragte, was er sich für eine Regierung wünscht, runzelte er die Stirn und bat um einen Augenblick Geduld. Dann meinte er: "Am ­besten wäre ein All-Star-Team, in dem die besten Leute aus allen Fraktionen Ämter haben. Das versuche ich in unserem Stadtrat und es funktioniert."

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Dann ist wieder Weimar. Der traditionelle Wahlkampf der 60ger ist schon lange vorbei. Zuletzt waren es nur noch wahltechnisch plakative Augenblicksangriffe. Die gesamte Informationskultur hat sich nahezu total verändert. Sie ist nicht besser geworden. Die Zeitungen darben, die Privaten TV-Sender, Streamer und die sozialen Netzwerke sahnen ab. Hintergrundinformationen erreichen nur noch die, die sie haben wollen. Wenn überhaupt, haben immer mehr Bürger nur noch ein politisches Überschriftswissen. Das soll möglichst einfach und “brutal ehrlich” mit Bildern und Geschrei vermittelt werden. Die ehemals erhoffte schöne und neue IT-Wissens-Welt hat sich nicht erfüllt. Sie hat sich häufig ins Gegenteil entwickelt. Nur wenn der Erregungsgrad auch den Letzten erreicht hat, wird gefragt, warum man nicht früher informiert wurde. Viele sind wütend über das, was sie bisher nicht gewusst haben, was sie aber hätten wissen können, wenn sie es denn gewollt haben. Seit der Rechtschreibreform in Schleswig-Holstein und mit Stuttgart 21, sind die Erwartungen daran, ob Volkeswille gut ist oder ob Abstimmungen das Ergebnis haben, wie es gewünscht war, nicht mehr so angesagt. Statt dessen werden jetzt Bürgerräte aus Verlosungen gefordert.

Und dann kommen Sie mit dem Zitat: ”Aber Politiker werden nicht mehr ideologisch, sondern nach ihrem Erfolg beurteilt”. Haben Sie schon mal eine Partei erlebt, die ihre Erfolgslosigkeit anerkannt hat? Es waren immer die Anderen oder die widrigen Umstände schuld. Charisma; Präsenz, Lautstärke und einfache "Wahrheiten" sind gefragt. Nichts ist relativer als die Beschreibung von Erfolg. Damit sind dann auch alle Türen auf für die Nachfolger von Trump. Der hat nach dem Motto “Das tägliche Kotelett hat noch jeden Wettlauf gegen die Aussicht auf ein Dessert im Paradies gewonnen” seine Politik betrieben. Mittel zum Zweck ist dann die Fäkalsprache, sind die anonymen Beleidigungen. Die neuen Informationsgewohnheiten werden den Radikalen, egal ob Einzelne oder Parteien, dienen. Stimmt: Ideologie ist vorerst nicht mehr angesagt. Vorerst! Die AfD probt schon. Jede existentielle Not läßt nach dem letzten Strohhalm greifen. Politische Hochstapler haben, wie auch im privaten Leben, schon immer gegen Unwissenheiten gewonnen. Das rudimentäre Wissen von Facebook, Twitter und anderen sozialen Netzwerken wird von den Nutzern gegenseitig bestätigt. Wenn man selbst keine Ahnung hat, ist es doch sehr schön, Gleichgesinnte zu haben. Neue Zeiten, neue Sitten, neue Werte. Alles nicht so schlimm? Nichts wird so heiß gegessen wie gekocht. Hoffentlich. Zurückschrauben läßt sich nichts.

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