Immer auf die Kleinen
Kinder und Familien sind die Hauptleidtragenden der gestrigen Corona-Beschlüsse. Wer Kitas und Schulen schließt, muss wenigstens einen Plan haben, wann es wieder losgehen soll.
Tim Wegner
06.01.2021

So ehrlich muss man sein: Das Coronavirus SARS-CoV-2 und erst recht dessen noch neuartige Mutationen sind gefährlich. Viele Menschen ringen in Krankenhäusern um ihr Leben, die Helferinnen und Helfer sind extrem belastet. Ein Dilemma jagt das nächste, wir wissen längst nicht alles und lernen immer noch dazu.

Tim Wegner

Nils Husmann

Nils Husmann ist Redakteur und interessiert sich besonders für die Themen Umwelt, Klimakrise und Energiewende. Er studierte Politikwissenschaft und Journalistik an der Uni Leipzig und in Växjö, Schweden. Nach dem Volontariat 2003 bis 2005 bei der "Leipziger Volkszeitung" kam er zu chrismon.

Den Politikerinnen und Politkern fordert das immer wieder den Mut zu Entscheidungen ab, die falsch sein können - oder die Risiken bergen. Gestern haben sie wieder entschieden, unter anderem: Kitas und Schulen sollen möglichst geschlossen bleiben, bis Ende Januar. Die genaue Ausgestaltung obliegt den Ländern. Auch andere Beschlüsse betreffen Kinder direkt. Eine Familie darf nun nur noch einen Gast empfangen. In Mehrfamilienhäusern und Wohngebieten ist das ein frommer Wunsch. Damit sind erneut die Familien die Hauptleidtragenden, wie schon im Frühjahr. Und zwar ohne Differenzierung. Einem 17 Jahre alten Oberstufenschüler wird dasselbe zugemutet wie einer zehn Jahre jüngeren Grundschülerin. 

Weltfremdes Verständnis in der Politik

Wieder einmal offenbart die Politik ein weltfremdes Verständnis, was es heißt, ein Kind zu sein und mit Kindern zu leben. Vielleicht können Jugendliche eigenmotiviert und interessiert virtuellen Unterrichtskonzepten folgen - die Infrastruktur dafür fehlt nach Monaten aber vielerorts immer noch, während die Milliarden zur Stützung von Reise- und Flugkonzernen sehr schnell garantiert werden. Und auch wenn man den Wunsch und die Forderung nach einer Digitalisierung der Schulen wie ein Mantra wiederholt, ändert das nichts daran, dass Glasfaserenden keine sozialen Kontakte ersetzen, die zur Kindheit gehören wie ein Glas Wasser zum Abendbrot. Den Zuständigen in den Ländern ist der Mut zu wünschen, wenigstens Kitas und Grundschulen schneller zu öffnen - es ist gut, dass die ersten Ministerinnen und Minister diesen Weg gehen wollen. Denn es gibt, man kann es nicht oft genug wiederholen, viele Kinder in Deutschland, die in Armut aufwachsen und zu Hause kein gutes Lernumfeld haben: 2,8 Millionen Kinder und Jugendliche wachsen hierzulande in Armut auf.

Schulschließungen sind ein enorm weitreichendes, sehr pauschales Mittel in der Pandemiebekämpfung; ein Hammer, der zahlreiche Grundrechte einschränkt. Es ist absurd, dass Bund und Länder dieser Tatsache auch im zweiten Jahr der Seuche nicht mit transparenten Verfahren Rechnung tragen, wann und wie sie Schulen wieder öffnen wollen. Bereits im März vorigen Jahres folgte dem Impuls, Bildungsstätten zu schließen, erst nach langer Zeit der Gedanke, wie man die Kinder wieder in die Klassen bekommt. Damals mag das im allgemeinen Schockzustand noch entschuldbar gewesen sein. Dass heute Morgen die Bundesfamilienministerin im Interview nur hoffen kann, diesmal werde es ganz bestimmt anders, besser und planvoller laufen mit der Wiedereröffnung, ist ein Armutszeugnis.

Am 25. Januar will die Kanzlerin mit den Ministerpräsidentinnen und -präsidenten beraten, wie es weitergeht. Das wird voraussichtlich auf Basis eines Inzidenzziels (50 Neuinfektionen in der Woche auf eine Einwohnerschaft von 100.000) passieren, das im Herbst und Winter nirgends in Europa durch noch so harte Lockdown-Maßnahmen erreicht worden ist. Warum soll es nun uns gelingen? 

Entscheidungen zu Kindern müssen in die Parlamente

Den Ton in den meisten Medien bestimmen derweil Epidemiologen und Virologen, die hoffen, eine Inzidenz von 25 Fällen pro Woche auf 100.000 Einwohnern erreichen zu können, damit die Gesundheitsämter Fälle wieder nachverfolgen können. Wie die Ämter das schaffen sollen, was im Herbst schon nicht gelungen ist, sagen sie nicht. Und vor allem: Was soll so ein Ziel für die Schulen, die Bildung unserer Kinder und ihre sozialen Kontakte heißen? Die Antwort darauf kann nicht bis zum 25. Januar warten, sie muss jetzt endlich breit debattiert werden, und zwar nicht nur in virtuellen Runden aus Entscheidern und Fachleuten, sondern auch in den Parlamenten. 

Wer Schulen schließt, muss wissen und sagen, wann es wieder losgehen kann. So nachvollziehbar ehrgeizige Ziele im Infektionsschutz auch sein mögen, weil der Erreger gefährlich ist, für die Kinder würde ein Zuwarten bis 25. Januar wohl heißen: In diesem Winter wird's nichts mehr mit dem Präsenzunterricht. Wollen wir das? Welchen sozialen Preis müssen und werden wir dafür bezahlen? Antworten auf diese Fragen erfordern Mut - auch zum Risiko, Kitas und Schulen wenigstens für jüngere Jahrgänge auch deutlich oberhalb der 50er- oder gar 25er-Schwelle zu öffnen. 

Die Kinder und Familien leiden längst nicht mehr nur unter einem Virus. Sondern unter Einsamkeit, Stress und sozialer Ungleichheit.

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