Bachfest Leipzig
Bachfest Leipzig
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Ist Bachs Musik wirklich die beste der Welt?
Seit er die Bach Society in Yamaguchi, Japan, besucht hat, weiß Michael Maul ganz sicher: Ja, sie ist es!
Portrait Burkhard Weitz, verantwortlicher Redakteur für chrismon plusLena Uphoff
25.11.2020

Warum ist Bachs Musik die beste der Welt?

Michael Maul: Ich kenne keinen anderen Komponisten, der über alle geografischen, kulturellen und religiösen Grenzen hinweg Leute nicht nur begeistert, sondern auch tröstet. Bachs Vokalmusik rührt sogar Menschen zu Tränen, die den Text nicht verstehen. Viele pilgern nach Leipzig. Diese Musik transportiert etwas, das offensichtlich zeitlos ist. Ich kenne keinen Musiker, der in so vielen unterschiedlichen Gattungen so große musikalische Werke hinterlassen hat. Manche Passagen bei Bach sind reine Jam-Sessions. Es gibt zu seiner Musik Adaptionen in alle Richtungen. Seine Präludien für Orgel klingen auch in der Adaption für ein 150 Mann Orchester im Tschaikowski Sound völlig überzeugend - oder auch auf E-Gitarren, und selbst mit Akkordeon-Orchester. Die Musik hält das aus, weil die Substanz so stark ist.

Was genau zeichnet die Musik aus?

Wir haben den Code noch nicht entdeckt. Bachs Sprache ist vordergründig barock, aber gleichzeitig unglaublich vielfältig. Schon die Zeitgenossen stellten fest, dass bei Bach die Melodien wunderlich durcheinander und miteinander gehen. Sie sind nicht unbedingt geradlinig und leicht einzuprägen. Jedenfalls liefert Bach seinen Hörern Optionen: Einige hören nur auf diese Melodien, andere auf den Kontrapunkt, andere auf die Beziehung von Text und Musik. Bei Bach macht man immer wieder neue Entdeckungen. Am Ende ist es das Zusammenwirken der Stimmen, der Harmonien, der einzigartigen Modulationen, die offenbar jedes Gehirn, das Bach hört, in den Bann ziehen mit schönen Gedanken überfluten.

Gerd Mothes/Bach Archiv Leipzig

Michael Maul

Michael Maul ist Intendant des Leipziger Bachfestes.
Portrait Burkhard Weitz, verantwortlicher Redakteur für chrismon plusLena Uphoff

Burkhard Weitz

Burkhard Weitz war als chrismon-Redakteur bis Oktober 2022 verantwortlich für die Aboausgabe chrismon plus. Er studierte Theologie und Religionswissenschaften in Bielefeld, Hamburg, Amsterdam (Niederlande) und Philadelphia (USA). Über eine freie Mitarbeit kam er zum "Deutschen Allgemeinen Sonntagsblatt" und war mehrfach auf Recherchen in den USA, im Nahen Osten und in Westafrika. Seit November 2022 betreut er als ordinierter Pfarrer eine Gemeinde in Offenbach.

Jedes Gehirn, egal wo auf der Welt?

Ja, das können Sie überall erleben. Letztes Jahr im August hat mich die "Soft Bach Society" in Japan zu sich nach Yamaguchi eingeladen, eine Vereinigung von begeisterten Laien. Jedes Jahr an Bachs Todestag geben sie ein großes Konzert in der örtlichen Stadthalle. Der allerbewegendste Moment war, als zwei alte Herren auf der Bühne anfingen zu singen, begleitet von einer jungen Dame auf dem Keyboard mit Streichersound. Sie sangen auf irgendeine Silbe im polyfonen Stil, es musste was von Bach sein, stand aber nicht im Programmheft. Und irgendwann fiel bei mir der Groschen. Sie haben zu zweit das g-Moll Präludium aus dem zweiten Teil des Wohltemperierten Klaviers gesungen. Zwei alte Herren, die Augen geschlossen und in tiefster Meditation. Und ich dachte: Wenn 300 Jahre nach Bachs Tod Menschen am anderen Ende der Welt aus einem völlig anderen Kulturkreis ein Präludium aus seinem Wohltemperierten Klavier, also noch nicht mal einem Vokalwerk, gemeinsam singen und dabei ganz bei sich sind, weil sie es als Teil ihrer eigenen Kultur begreifen – ja was muss denn das für starke Musik sein, die das leisten kann? Ich würde mir wünschen, Bach könnte das sehen.

Diesen Sommer haben Sie mehr als 300 "Bachchöre" weltweit ermittelt ...

Hinzu kommen Vereinigungen, die sich dezidiert Bach widmen, aber Bach nicht im Namen tragen. Erst wollte ich mit der Suche nach den Chören den Leipzigern nur zeigen, wie stark Bach weltweit wirkt. Dann kamen wir auf die Idee, alle zum Bachfest 2020 einzuladen. Nicht nur als Gäste, sondern auch als Akteure: Unter dem Motto "We are family" wollten wir die größte Zusammenkunft der globalen Bachgemeinschaft aller Zeiten feiern. Sie alle sollten die Chance bekommen, an den Bachstätten Thomas- und Nikolaikirche mitzumusizieren.

"Vielleicht eines der bewegendsten musikalischen Dokumente, die die Coronakrise produziert hat"

Aber dann kam Corona, und Sie mussten allen absagen.

Uns erreichte die Pandemie recht früh. Die Bachchöre in Wellington, Neuseeland und in Ottawa in Kanada sagten uns schon Mitte März, dort gebe es Reiseverbote nach Europa weit in den Sommer. Ich habe dann alle angeschrieben und gefragt: Wenn wir das Konzept auf 2022 verschieben, seid ihr dann noch dabei? Innerhalb von 48 Stunden kam die Antwort von allen Kontinenten: super Idee. Wir sind definitiv mit an Bord. Damit ist die Idee erst mal nur aufgeschoben. Für dieses Jahr haben wir dann am 7. April abgesagt.

Und am Karfreitag, dem10. April, also mitten im Lockdown, in der Thomaskirche die Johannespassion aufgeführt: mit einem Sänger, einer Cembalistin und einem Perkussionisten. Dazu ein solistischer Chor in den Kirchenbänken. Und das wurde online gestreamt.

Wir haben die Johannespassion mit dieser Corona tauglichen Fassung am Bach-Grab in der Thomaskirche aufgeführt und sie in alle Welt ausgestrahlt. Es ist vielleicht eines der bewegendsten musikalischen Dokumente, die die Coronakrise produziert hat. Dazu haben wir Sänger aus aller Welt die Choräle singen lassen: die Thomaner, Solisten der Bach-Stiftung in Sankt Gallen, Choristen vom Malaysia Bachfest, vom Bachchor Ottawa und viele mehr.

Chöre in Stil von Zoom-Konferenzen, bei denen jede Sängerin und jeder Sänger die eigene Stimme zu Hause aufnimmt, und dann werden die Einzelvideos zu einem Chor zusammengeschnitten. Wie kamen Sie auf das Format?

Der Erste, der es gemacht hat, war David Chin, der Leiter vom Bachfest Malaysia, mit dem Choral "Befiehl du deine Wege". Ich hatte ihn gefragt: Wie lässt sich das technisch bewerkstelligen, dass wir die Choräle von anderen Chören singen lassen und einspielen? Er wollte darüber nachdenken. Einen Tag später schickte er mir eine WhatsApp: ob ich ihm den Choral auf der Geige bis morgen früh einspielen könne. Meine Tochter hat mich dann vorm Kamin gefilmt. Noch mal 24 Stunden später guckte ich in meine Mails. Da hatte er mir den Link geschickt. David Chin hatte 30, 40 Leute, viele Mitglieder vom Bachfest Malaysia, die teils in Europa oder Amerika leben, gebeten, ihre Stimmen zu singen und aufzunehmen. Dann hat er sie zusammengeschnitten. Und ich sah das und habe geheult. Man sah: Die Bach-Familie lässt sich nicht kleinkriegen. "Befiehl du deine Wege" von Paul Gerhardt passte ja auch wunderbar zu der Situation des Lockdown, die für uns alle noch völlig neu und unerwartet war. Wir waren isoliert. Wir wussten nicht, wie geht es weiter, und dieser Text sagt: Wir sind mit unserem Schicksal und Bachs Soundtrack in Gottes Hand ganz gut aufgehoben.

Und so entstanden auch die Choräle für die Johannespassion am Karfreitag in der Thomaskirche, die dann übers Internet gestreamt wurde. Diese Aufnahme haben Sie nachträglich noch mal mit Stimmen aus aller Welt angereichert.

Die ganze Bachwelt singt am Karfreitag mit, das sollte sichtbar werden. Deswegen habe ich alle Bachchöre, aber auch die internationale Bach-Gemeinschaft in den sozialen Netzwerken angeschrieben und gesagt: Guckt es euch an und singt mit. Und schickt uns im Nachgang eure Videos, und wir binden sie in eine extended Version in unser Video vom Karfreitag aus der Thomaskirche ein. Diese erweiterte Version ist seit dem 13. Juni auf unserem You-Tube-Kanal abrufbar, das war der Tag gewesen, an dem die Johannespassion während des Bachfestes auf dem Marktplatz in Leipzig erklingen sollte. Ich kriege jetzt noch Gänsehaut, wenn ich mir das ansehe: die Mutter auf dem Sofa mit den zwei Kindern, die inbrünstig mitsingt. Dann der Japaner: Alles ist dunkel, und er sitzt er da, erleuchtet nur vom Bildschirm und singt in vollem Andacht. Es sieht aus wie ein Rembrandt-Porträt. Wahnsinn. Da hat mich die Bach-Community wieder einmal überrascht, dass sie das alles mitmacht.

Weihnachten ist Corona noch längst nicht vorbei. Wie werden wir das Weihnachtsoratorium zu hören bekommen?

Viele werden in Deutschland stattfinden, wenn nicht die zweite Welle so brutal wird, dass es einen richtigen Lockdown gibt. In dem Fall müssten die Thomaner ran, oder wir als weltweite Bach-Community finden mit dem Bachfest Leipzig einen Weg, wie wir es schon mal geschafft haben. Aber auch sonst werden die Kirchen nicht voll sein, vielleicht nur 100 Leute. Und wenn nicht alle Bläser mitmachen dürfen, kann man ja zur Not mal die zweite Trompete weglassen. Dass das funktioniert, hat die Corona-Krise schon gezeigt.

"Es wird die kleinste h-Moll-Messe aller Zeiten sein. Helft uns, dass daraus zugleich die größte aller Zeiten wird"

Sie haben es jetzt auch wieder geschafft, eine ganze h-Moll Messe mit einem weltweiten Chor aufzuführen.

Ja, und gerade die h-Moll Messe ist wohl das am wenigsten Corona-taugliche Werk von Bach, weil es riesig besetzt ist. Wir haben es am 14. Juni mit fünf Sängern hinbekommen. Das Hygienekonzept der Nikolaikirche erlaubte maximal 17 Musiker. Und wieder hat die Welt mitgesungen. Vielleicht ist es nicht die ausgeklügelteste Interpretation geworden, aber die bewegendste. Wir hatten zuvor den 28.000 Abonnenten auf unserem Facebook-Kanal gesagt: Es wird vor Ort die kleinste h-Moll-Messe aller Zeiten sein. Helft uns, dass daraus zugleich die größte aller Zeiten wird. Über 400 Mitsingvideos haben wir bekommen und nun in das Video aus der Nikolaikirche eingebunden. Am 22. November hatte die erweiterte Version ihre Premiere im Netz – mit Sängern aus dem Oman, aus Chile und von sonst wo. Gerade bei "Et in terra pax" ist das ein großer Moment, wenn man die Welt auf Lateinisch singen sieht: "Und auf Erden Fried, den Menschen ein Wohlgefallen."

Für das nächste Bachfest im Juni 2021 kündigen Sie "Bachs Messias" an. Was verbirgt sich dahinter?

Wir stellen mit einem Zyklus von Bachs Vokalwerken die Lebens- und Wirkungsgeschichte des Jesus von Nazareth dar. Die meisten Kantaten von Bach reflektieren ein Gleichnis oder eine bestimmte Episode im Leben Jesu, manche ganz nah am Evangelientext. "Christ unser Herr zum Jordan kam" etwa liefert einen wunderbaren Soundtrack zur Taufe. Ich habe die Kantaten ausgewählt, die besonders nah am biblischen Bericht dran sind. So ergab sich ein Zyklus aus 33 Kantaten – plus Himmelfahrts-, Oster- und Weihnachtsoratorium. Bei den Passionen habe ich mich für die Matthäuspassion entschieden, weil da die Handlung eher einsetzt als in der Johannespassion. Und schon stand das Gerüst für "Bachs Messias". Für den fortlaufenden Handlungsstrang innerhalb der elf Konzerte braucht man noch einen Sprecher, der die Evangelientexte vor oder auch zwischen den Kantatensätzen liest. Der Schauspieler Ulrich Noethen, ein Pfarrerssohn, wird diese Aufgabe übernehmen.

Und warum haben Sie den emeritierten Papst Benedikt als Schirmherrn für das Festival angefragt?

Weil ich von ihm auch die Chronologie für den Messias-Zyklus übernommen habe. Wenn man die Lebensgeschichte von Jesus mithilfe der Kantaten nacherzählen will, sind der Anfang und das Ende nicht schwer zu bestimmen - also alles, was von der Ankündigung der Geburt bis zum zwölfjährigen Jesus im Tempel passiert, und ebenso für alles ab dem Einzug in Jerusalem bis zum Pfingstwunder. Schwierig wird es bei den anderthalb Jahren, die Jesus durch die Lande zieht. Da war ich ratlos: In welche Reihenfolge soll ich das bringen? Da sagte mir ein Bekannter: Guck doch mal in die Jesus-Biografie von Ratzinger. Ich war im Ostseeurlaub in Prerow auf dem Darß, habe mir gleich im örtlichen Buchladen alle drei Teile bestellt und las dann am Strand. Mich hat Benedikts Sprache gepackt, er erzählt sehr anschaulich, mitreißend, wie ein Suchender nach der Wahrheit, der auch mal zweifelt, gar nicht ex cathedra. Dann beschloss ich: So, wie er den Stoff gliedert, gliedere ich meinen Messias-Zyklus. Der Papst ist schon amtlicher Gewährsmann. Wenn der es nicht weiß, wer sonst?

"Viele hätten gerne Bach gemacht, aber er war von der falschen Firma"

Und nun konnten Sie ihn für ein Begleitwort zum Bachfest gewinnen.

Ja. Und was ich bemerkenswert finde, ist, dass er unterm Strich sagt: Die Musik Bachs ist inzwischen dort, wo der Glaube längst erloschen ist, der viel wirkungsvollere Botschafter für den Glauben als der Glaube selbst. Eine bemerkenswerte Feststellung und ein großartiges Geleitwort. Ich weiß noch: In den 1990er Jahren war es hier in Leipzig noch die große Ausnahme, wenn die katholischen Kirchen jenseits der h-Moll Messe Vokalmusik des Vorzeigeprotestanten Bach aufgeführt haben. Viele hätten gerne Bach gemacht, aber er war sozusagen von der falschen Firma.

Was heißt für Sie Erlösung?

Wenn ich mich so ganz der Schönheit von Bachs Musik hingeben kann. Ich liebe nichts mehr, als mich abends mit einem Glas Wein vor die Anlage zu setzen und tief einzutauchen in diese Musik. Wenn es gelingt und alles von einem abfällt und man nur in den Klängen und in der Symbiose von Text und Musik schwimmt und von Bach getragen wird, dann bin ich erlöst von allen Dingen, die ich sonst noch mit mir herumschleppe.

2005 haben sie eine noch unbekannte Arie von Bach gefunden, seine eigene Handschrift. Wie fühlte sich der Moment der Entdeckung an?

Elektrisierend. Ein unbekanntes Vokalwerk von Bach – das hatte es das letzte Mal in den frühen 1930er Jahren gegeben. Ich hätte nie damit gerechnet, dass ich ausgerechnet in der Anna-Amalia-Bibliothek in Weimar auf so einen Schatz stoße. Generationen von Bach-Forschern hatten dort bereits jedes Blatt der Musikaliensammlung gewendet. Aber ich bekam mit, dass eine riesige Sammlung von "Gelegenheitsschriften" den Bibliotheksbrand ein halbes Jahr zuvor überlebt hatte: gedruckte Huldigungsgedichte an die Herzöge von Weimar. Ich nahm mir vor, sie systematisch durchzusehen, von morgens bis abends, und eine Lobhudelei war langweiliger als die andere. Eine halbe Stunde vor Schließung der Bibliothek stieß ich auf Verse eines Pfarrers aus Buttstädt bei Weimar über den Wahlspruch des sehr gottesfürchtigen Herzogs Wilhelm Ernst: "Alles mit Gott und nichts ohne ihn", gedruckt 1713. Darin auf den Seiten sieben bis acht hatte jemand handschriftlich eine Vertonung der Verse eingetragen, eine Arie für Sopran und Streicher. Kein Komponistenname. Ein gesungen vorgetragenes Gedicht: "Alles mit Gott und nichts ohn' ihn." Ich dachte sofort: O Gott, die Handschrift sieht aus wie die von Bach, und das Stück steht nicht im Bachwerkeverzeichnis! Ich hatte das Glück, mit 27 Jahren den größten Traum eines Bachforschers erfüllt zu bekommen. Bei Sportlern ist das der Olympiasieg.

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