Anfänge - Ich bin Kriegsenkelin
Anfänge - Ich bin Kriegsenkelin
Mario Wezel
Sie verstand: Ich bin Kriegsenkelin
Sie muss Konflikten nicht mehr ausweichen. Sogar den Eltern sagt sie ihre Meinung. Und siehe da . . .
Portrait Hanna Lucassen, Redaktion chrismon, Redaktions-Portraits Maerz 2017Lena Uphoff
25.11.2020

Heike Pfingsten-Kleefeld, Jahrgang 1961:

Früher träumte ich jede Nacht vom Krieg: Ich muss fliehen, werde verfolgt, finde mein Zuhause nicht mehr. Morgens wachte ich erschöpft auf. Ich konnte mir die Träume nie erklären. Ich bin 1961 geboren, zu Friedenszeiten. Mein Vater war gestorben, als ich fünf war. Aber meine Schwester und ich hatten einen zweiten Vater, den neuen Mann meiner Mutter. Ich war ein eher scheues, vorsichtiges Mädchen, rebelliert habe ich nie. Meine Eltern hatten es schwer genug, mit Haus, Arbeit, Garten, das sah ich ja.

Es ging recht distanziert zu bei uns. Ich zweifelte nicht daran, dass meine Eltern mich liebten, aber viel wollten sie von meinem Leben nicht wissen. Bei Tisch redeten wir über Nachbarn, Verwandte, bloß nichts, was in die Tiefe ging. Als ich Anfang 20 war, wurde ein Leserbrief von mir in der "Frankfurter Rundschau" veröffentlicht. Ich war so stolz! Mein Vater sagte: "Na ja, die hatten wohl nicht genug Zuschriften."

Ich hatte immer mit Ängsten zu kämpfen

Ich hatte immer mit Ängsten zu kämpfen. Auch meine Kinder erzog ich mit den Sätzen, die ich kannte: Pass auf! Freu dich bloß nicht zu früh! Bis ich 2011 auf den Verein Kriegsenkel stieß, da war ich fünfzig. Ich begann, meine Eltern besser zu verstehen – und mich. Sie wurden 1936 und 1937 geboren und wuchsen im Zweiten Weltkrieg auf. Kriegskinder wie sie mussten lernen, sich zusammen­zureißen, wegzuducken, wachsam zu sein. Trödeln oder träumen, das konnte tödlich sein. Mein Stiefvater schaffte es als Grundschüler bei einem Fliegeralarm nicht rechtzeitig nach Hause und war allein auf weiter Flur, als die Jagdbomber kamen. Bei meiner Mutter standen zu Kriegsende amerikanische Soldaten mit Maschinengewehren an der Tür und sagten: In einer Stunde seid ihr hier raus, wir brauchen das Haus. Sie war damals acht Jahre alt.

Sie gaben ihre Traumata an uns weiter

Viel erzählen meine Eltern nicht aus der Zeit, aber wenn ich diese Geschichten höre, verstehe ich ein ­bisschen, ­warum sie unsere Zahnschmerzen oder unseren Liebeskummer nicht so ernst nahmen. Und dass sie verinner­licht hatten: Gefühle dürfen nicht raus. Ihre Traumata, ihre Glaubenssätze gaben sie an uns weiter.

Erst mal war es wie eine Befreiung. Ich wusste, woher meine Ängste kamen, und konnte daran arbeiten. Auch meine Kriegsträume hörten mit Hilfe einer Therapeutin langsam auf. Vor zwei Jahren veröffentlichte ich ein Buch über Kriegsenkel. Seitdem mache ich Lesungen. Sage ­meine Meinung, weiche Konflikten nicht mehr aus. Und wenn ich meinen Sohn am Auto verabschiede, sage ich nicht mehr: Fahr vorsichtig! Sondern: Gute Fahrt!

Den Kontakt zu den Eltern abbrechen?

Ja, ich habe mich ziemlich verändert. Aber wenn ich zu meinen Eltern fuhr, fiel das alles in sich zusammen. Vor ein paar Monaten war ich wieder da. Eine Zeitung wollte einen großen Artikel über mich schreiben. Ich war aufgeregt. Ich erzählte es beim Frühstück. Mein Vater hörte sich das schweigend an. Dann schaute er suchend über den Tisch und fragte: "Gibt es den Joghurt auch noch in ­anderen Geschmackssorten?" Als ich nach Hause fuhr, dachte ich: Das tue ich mir nicht noch mal an. Dieses ­Desinteresse verletzt mich zu sehr. Ich habe Bekannte, die den Kontakt zu ihren Eltern abgebrochen haben. Auf ­dieser Autofahrt dachte ich das erste Mal auch darüber nach.

Ich ging einen anderen Weg. Zwei Wochen später fuhr ich wieder hin, klopfenden Herzens. Ich sagte meinem ­Vater, dass ich es unmöglich fand, dass er gar nicht ­reagiert hatte. So etwas hatte ich noch nie gemacht. Weil ich mein ganzes Leben das Gefühl hatte, sie schonen zu müssen. Das ist auch typisch für Kriegsenkel. Aber trotzdem, ­wir konnten doch nicht ein Leben lang immer an der Oberfläche bleiben. Und siehe da: Mein Vater entschuldigte sich. Er habe das mit dem Zeitungsartikel gar nicht mitgekriegt. Wir redeten nicht lange darüber, natürlich nicht. Aber es war für uns beide ein wichtiger Moment.

Ja, meine Eltern sind über 80 Jahre, aber...

Ja, meine Eltern sind schon über 80 Jahre. Lass sie, ­sagen manche, sie ändern sich sowieso nicht mehr. Aber darum geht es nicht. Sie müssen nicht an sich arbeiten, wenn sie nicht wollen. Aber ich habe mich verändert, und ich traue ihnen zu, damit umzugehen. Auch noch in ihrem Alter. Ja, es wird vielleicht anstrengender zwischen uns, aber auch weicher. Neulich sagte meine Mutter zu mir: "Ich bin traurig." So etwas hatte ich nie von ihr gehört.

Protokoll: Hanna Lucassen

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Meine Frau und ich gehören zum Jahrgang 1937. Wir haben an verschiedenen Orten (Jena, Obhausen, Bahnstrecke zwischen Dresen und Görlitz) ganz konkret die Schrecken des Krieges kennengelernt. Vor drei Jahren haben wir unsere „Diamantene Hochzeit“ gefeiert. Wir haben drei Kinder, drei Enkel und fünf Urenkel. Regelmäßig spreche ich mit meiner Enkelin (15 Jahre) und den drei schulpflichtigen Urenkeln (16, 14 und 11 Jahre) über ihre Erlebnisse, ihre Probleme und ihre bevorzugten Schulfächer im letzten Halbjahr sowie über ihre aktuellen Beschäftigungen in der Freizeit, wenn nicht bei gegenseitigen Besuchen, dann zumindest per Telefon. Ihre Halbjahreszensuren werden von mir differenziert finanziell honoriert. Alles geschieht in Absprache und mit Zustimmung ihrer Eltern.
Angeregt durch andere Verwandte wollten unsere beiden älteren Urenkel auch von uns etwas über unsere Kindheit erzählt bekommen. Etwas haben wir erzählt, weit mehr haben wir aufgeschrieben[1]. Gleichartige Erzählungen erfolgten Jahrzehnte früher im Gespräch mit unseren Kindern und Enkeln, aber deutlich kürzer, denn wir mussten vor allem die täglichen Aufgaben bewältigen und wollten auf Reisen mit unseren Kindern und später allein in Deutschland und der Welt viel sehen und erleben[2].
Die im Beitrag mitgeteilten Erlebnisse und Empfindungen sind glaubhaft und bedrückend, dürfen aber ursächlich nicht allein den Kriegserlebnissen der älteren Generation zugeschrieben werden. Dafür kommen noch andere wesentliche Ursachen in Betracht. Wahr ist aber auch, dass unsere Generation vermeiden muss, den nachfolgenden Generationen den eigenen „Erinnerungsstempel aufzudrücken“, sondern sich bemühen muss, den Wandel der Zeiten mitzugehen. Und dabei können echte Interessenbekundungen für das von den nachfolgenden Generationen Erlebte helfen. Natürlich muss man dabei außerordentlich darauf achten, mit eigenen Kommentaren sich nicht klüger darstellen zu wollen als sie. Wenn sie von sich aus gern erzählen und vielleicht sogar einmal Fragen stellen, dann sind dies für uns wahre Glücksaugenblicke. Ein insgesamt zufriedenes und erfolgreiches Leben unserer Kinder, Enkel und Urenkel ist für uns das größte Glück[3].

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