Familie - Au-pair
Familie - Au-pair
Michael Galian
Und, wie sind die Deutschen denn so?
Sie lieben ihre Kinder, arbeiten unentwegt. Aber lachen sie auch mal? Fünf junge Frauen erzählen, was sie hier als Au-pair oder Austauschschülerin erlebt haben.
Tim Wegner
Michael GalianPrivat
10.06.2020

Fatna Belhaj, 27, Marokko, Bienenbüttel, jetzt Lüneburg

Ich bin in Sommersachen in Bienenbüttel angekommen. Im Winter. Es war so kalt! Da bist du erst mal mit dem Wetter beschäftigt. Dann kommen die Menschen. Im Winter ist das schwierig. Es wird so früh dunkel. Wie soll man da Menschen treffen? Abends sind die Straßen dunkel und leer, alle sind still zu Hause. In Marokko zur gleichen Zeit sind viele Leute in der Stadt unterwegs, eigentlich immer. Jedes Mal, wenn ich rausgehe, grüße ich viele Leute. Das Gefühl, allein zu sein, kennen wir nicht. Aber in Deutschland gibt es Menschen, die dieses Gefühl mögen. Man ist viel für sich selbst und hat nur hin und wieder Austausch. Ich habe beobachtet, dass viele kaum Kontakt zu anderen haben.

Es vergeht viel Zeit, bis man Freunde findet, ein Jahr reicht nicht! Meinen Mann habe ich beim Tanzen kennengelernt. Ich war allein da – ich habe es gemacht wie die Deutschen! Ich lasse mich doch nicht darin bremsen, Spaß zu haben, nur weil ich noch keinen kenne. In Marokko wäre ich natürlich mindestens mit meiner Schwester losgezogen.

Fatnas Gastfamilie wohnt direkt nebeneinem Reiterhof und hat ein eigenes Pferd

In Deutschland ziehen die Mädchen sehr jung in ihre eigene Wohnung. Meine Schwester und ich durften erst zu unserer Heirat ausziehen. Die kulturellen Regeln sind in Deutschland anders. Ohne feste Be­ziehung hätte ich in Marokko keinen Mann treffen dürfen, auch nicht freundschaftlich. Hab ich natürlich trotzdem. Aber wehe, ­meine Eltern hätten es erfahren. Und selbst das war ohne Sex. Die jungen Mädchen hier sind ­anders. Sie treffen sich mit Jungen, ­haben Be­ziehungen, reden über Sex, haben Sex. Ich ­finde es schon kritisch, dass sie so einfach rausdürfen. Selbst mit 18 ist man nicht erwachsen genug. Man ist noch nicht stark für das Leben und die richtige Entscheidung für den richtigen Mann. Aber jede Gesellschaft hat ihre Regeln und jeder Mensch sein Leben. Ich res­pektiere das, und ich habe erfahren, dass die Deutschen meinen Respekt erwidern.

Vieles ist anders: Supermärkte sind günstig, und die Marktverkäufer kommen nur einmal pro Woche – und sind teuer. Die Deutschen haben lustige Angewohnheiten! Zum Beispiel verwenden sie jede Menge Geräte für Dinge, die wir mit der Hand machen. Geschirrspüler oder Staubsauger!

Ich hatte viele Klischees über die Deutschen gehört, allesamt nicht positiv. Zum Beispiel, dass sie diskriminierend seien. Aber das stimmt nicht. Ob die Familie, die Nachbarn oder an der Sprachschule: Alle waren lieb, ­haben mich willkommen geheißen, mir geholfen, mich motiviert. Mit der Familie habe ich eine tolle Zeit verbracht, mit Ausflügen und kleinen Reisen. Deswegen darf man nie einfach Gerüchten glauben. Manche Deutsche – habe ich den Eindruck – nutzen einen aber schnell aus: Ich habe einige Au-pairs kennengelernt, die viel länger arbeiten als die vorgeschriebenen sechs Stunden, manche bis zu zwölf Stunden am Tag. Sie hatten kaum Zeit für sich. Ich habe aber Deutschland als ein gerechtes Land erlebt, in dem die Menschen die Gesetze achten.

Fatna Belhaj verbrachte ihre Zeit als Au-pair bei einer Familie in Bienenbüttel in der ­Lüneburger Heide. Dorte lernte sie ihren Mann ­kennen. Sie lebt mit ihm in Lüneburg und macht eine Ausbildung zur Altenpflegerin.

 

Jocelyne Alla, 25, Côte d’Ivoire, Grönwohld, jetzt Hamburg

Ich hatte im Geschichtsunterricht gehört, dass die Deutschen rassistisch waren – und sind. Das konnte ich mir nicht vorstellen. Ich wollte das sehen. Prompt habe ich es erlebt. Schon bei meiner Ankunft. Ich fand die ­Toilette am Flughafen nicht. In meinem ungeübten Deutsch wandte ich mich an eine Frau. Die schrie gleich: "Nicht zu mir, weg da!" Ich kam nicht einmal dazu, zu fragen. Die Leute ­guckten. Dann sprach ich einen der Zuschauer an, der mir den Weg erklärte. In dem Moment habe ich gelernt, was Rassismus ist – aber auch, dass nicht alle so sind.

Jocelyne Alla verbrachte viel Zeit mit den Kindern ihrer Gastfamilie. Um sieben standen sie auf, haben gebadet, gefrühstückt, gespielt, um zwölf Uhr gab es Essen: "Immer alles nach Plan!"

Solche Momente gab es immer wieder, vor allem in meinem freiwilligen sozialen Jahr nach der Au-pair-Zeit. Ich war in einem Dorf weit draußen, da erregt jemand wie ich Aufsehen. Vor allem die Alten haben mich abgelehnt, die Leute haben geschaut, und die ­Kinder haben ihre Mütter gefragt: "Oh, ­warum sieht sie so aus?" Letzteres fand ich eher lustig. Ich war schon daran gewöhnt. ­Eine Mutter hat ihrer Tochter den Mund zugehalten, ich muss darüber heute noch lachen!
Die positiven Begegnungen überwiegen. Deutschland gefällt mir. Es ist so sicher, dass die Kinder allein in den Park können. Ich kann die ganze Nacht draußen bleiben. Wahnsinn, was man in Hamburg alles kaufen kann und wie leicht man von A nach B kommt. Überall fahren Busse und Bahnen! Pünktlich! Wie ­ruhig das Dorf meiner Gastfamilie bei Hamburg war! Wie unanstrengend das Leben. Da kann fast kein Stress aufkommen.

Aber ihr Deutschen: Ihr seid trotzdem immer gestresst. Natürlich kenne ich das aus meinem Jurastudium. Aber wenn ich abends heimgekommen bin, war Ruhe. In Deutschland ist mit dem Druck zu Hause nicht Schluss. Die Leute haben kaum Zeit, um miteinander zu reden. Nach meinem Au-pair-Jahr habe ich eine Ausbildung zur Altenpflegerin gemacht. Aber ich suche eine neue Stelle. Ich möchte auf die Menschen eingehen. Aber in dem Pflegeheim war nur Rennerei.

Und so ernst seid ihr! Oh Gott, manchmal fühle ich mich mit meiner Lachlust wie ein Alien. Wenn Deutsche reden, klingt es immer so seriös: über die Arbeit oder wie man Dinge besser machen könnte, wie etwas besser wäre oder über die Kinder. Immer ernst. Ich kann an meinen Händen abzählen, wie oft wir mit den Gasteltern gelacht haben.

"Ihr seid so ernst." Und fleißig und gestresst.

Als Au-pair habe ich die meiste Zeit natür­lich mit den Kindern verbracht, vier Jahre waren sie. Um sieben sind wir aufgestanden. Baden, Frühstück, spielen, um zwölf Uhr gab es Essen, dann Mittagsruhe, alles nach Plan! Kinder haben es gut in Deutschland. Die Erwachsenen sind fast überrascht, wenn ein Kind frech ist oder weint. Sie fragen: "Oh nein, warum machst du das?" Sie wollen immer den Grund verstehen. Eltern haben viel Geduld. Wenn sich an der Côte d’Ivoire Kinder nicht wie erwartet verhalten, schreien die Erwachsenen. Stellen Kinder was an, gibt es Schläge. Abends sollte ich Gutenachtlieder singen. Das kannte ich nicht. Bei uns wissen die Kinder schon mit drei Jahren: Nach einer bestimmten Uhrzeit wollen die Eltern bis zum Morgen ­keinen Mucks hören. Für mich war das Singen ungewohnt, ich bin darin nicht gut. Ich habe vor allem französische Lieder gesungen.

Nun bin ich mehr als zwei Jahre hier, aber immer noch einsam. Am meisten fehlt mir das gemeinsame Essen, besonders seit ich allein wohne. Auch meine Gastfamilie war meistens unter sich. Dass ich kaum wen kennenlerne, liegt daran, dass ich im Deutschen ungeübt bin. Mit den Kindern und der Mutter habe ich Französisch gesprochen. Aber mir wird auch bewusst, wie tief der Schreck über mein Er­lebnis am Flughafen sitzt. Ich habe Angst, wieder so eine heftige Reaktion zu erleben.

Jocelyne Alla hatte in ihrer Heimat Jura studiert, bevor sie als Au-pair zu einer Familie nach Grönwohld in Schleswig-Holstein kam. Danach ist sie in Hamburg geblieben, um eine Ausbildung zur Altenpflegerin zu machen.

 

Elina Akhmetshina, 22, Russland, Wrohe, jetzt Merseburg

Ihr Deutschen habt eine feine Nase. Ich hatte gelernt, im Winter Zwiebel und Knoblauch zu essen, um nicht krank zu werden. Aber ihr riecht das und rümpft die Nase. Da habe ich mich eben angepasst.

Im Hauptgebäude von Elina Akhmetshinas Hochschule in Merseburg hängt dieses Wandbild aus DDR­Zeiten

Ich weiß nicht, ob ich ein differenziertes Bild von den Deutschen habe. Dazu muss man viel Zeit in der Gesellschaft verbringen. Ich habe aber in den drei Jahren, die ich hier bin, kaum Kontakte geschlossen. Das meiste über die deutsche Kultur habe ich von meiner Gastfamilie gelernt. Mit 15 kam ich über ein russisch-deutsches Austauschprogramm für einige Monate nach Wrohe in Schleswig-­Holstein. Einige Jahre später kehrte ich nach Deutschland zurück: Ich studiere über eine Kooperation mit der Uni­versität von Kasan Kunststofftechnik in Merseburg.

Wo ich auch hinkomme, helfen mir die Deutschen weiter, zum Beispiel auf der Suche nach einer Volleyballmannschaft. Wir sind herzlich miteinander, wenn auch nicht die engsten Freundinnen. Davor habe ich an der Hochschule Volleyball gespielt – und mich im Team fremd gefühlt. Ein Junge parodierte ständig meine Aussprache. Es war wohl nicht böse gemeint. Aber es hat mich irritiert und mir den Mut genommen zu sprechen. Die Distanz zu den Deutschen bleibt, sicher auch, weil mein Studium anspruchsvoll ist und ich es sehr ernst nehme. Aber ich beobachte, dass es viele Einzelgänger gibt.

Am liebsten würde ich sie alle zusammenholen und ihnen Freude an Gemeinschaft beibringen. Meine Gastfamilie ist die Ausnahme. Sie wohnen auf dem Land und bekommen gefühlt jeden Tag Besuch. Als ich zum Studium nach Deutschland kam, habe ich ihnen nichts gesagt, weil ich nicht wollte, dass sie sich zu etwas verpflichtet fühlen. Kaum haben sie es aber herausgefunden, haben sie mich eingeladen. Jetzt bin ich jeden Monat einmal zu Besuch.

Bei ihnen habe ich zum ersten Mal eine richtige Familie erlebt. Es war schön zu sehen, wie lieb sie miteinander ­umgehen. Sie besprechen wirklich alles: wie eine Veranstaltung ablaufen wird, was sie kochen werden. Ich habe damals auch lustige Kleinigkeiten beobachtet: Zum Beispiel isst man immer um dieselbe Uhrzeit. Meine Mit­schüler hatten alle Pausenbrote in der Schule dabei, haben aber nie geteilt. Sie hatten große Taschen und viele schöne, gute Stifte.
Im Unterricht habe ich zum ersten Mal einen ­chemischen Versuch selbst gemacht; es wurde auch viel diskutiert. Ich habe mich freier gefühlt als in der ­russischen Schule.

Elina Akhmetshina ist heute 22 und erforscht Bio-kunststoffe – hier in einem Versuchslabor 

Meine Mitschüler hatten keine Angst, einen Fehler zu machen. Das merke ich auch hier an der Uni. Das Studium ist auch viel praktischer ausgerichtet. Professoren, Chefs und die Studenten sind auf Augenhöhe. Ich wurde gleich mit Respekt angenommen, obwohl ich noch keine Erfahrung hatte. Trotzdem werden Studenten ernst genommen und dürfen schon früh arbeiten. Von Anfang an war ich Werkstudentin in einer Firma und bin von allen Kollegen herzlich aufgenommen worden. Mittler­weile bin ich sogar am Fraunhofer-Institut und darf mich mit meinem Lieblingsthema befassen, den Biokunststoffen. In Russland jobben Studenten höchstens als Kellner!

Es ist lustig, hier in Ostdeutschland, wenn die Leute mitkriegen, dass ich aus Russland komme – und durch meinen Akzent merken sie das gleich. Sie kramen sofort ihr Russisch raus und erinnern sich an die schwierigsten Wörter. Viele erzählen gleich, dass sie mit dem Zug eine Reise durch Russland machen möchten. Manche fangen von Politik an und wollen wissen, was ich über Putin denke und über die Situation in der Ukraine. Grundsätzlich ist es gut, dass sie fragen. Ich sehe Putins Verhalten auch ­kritisch, aber ich weiß selbst nicht viel über die Situation.

Als ich Gastschülerin war, 2014, begann gerade die Ukrainekrise. Ich erinnere mich an ein Zeitungsfoto, auf dem der fast nackte Putin auf einem Bären saß. Ich schämte mich und fühlte mich schuldig, weil ich aus Russ­land bin und Russland überall so viele negative Sachen machte. Immer wieder wurde ich darauf angesprochen: Warum wählt ihr den nur immer? Da wurde ich rot und konnte nichts erwidern. Mir fehlte das Wissen.

Elina Akhmetshina kommt aus dem russischen Troizk an der Grenze zu Kasachstan und war als 15-Jährige Au-pair in Wrohe in Schleswig-Holstein. Jetzt studiert sie in ­Merseburg Kunststofftechnik.

 

Sofiko Lekishvili, 24, Georgien, Stade

Die Deutschen sind auf der Straße freundlich zueinander und grüßen sich! Daran muss ich jetzt immer denken, wenn ich in Georgien in die verschlossenen Gesichter sehe. Dann denke ich an die Nachbarinnen in Stade, die gleich von der Party erzählt haben, die meine Gasteltern bei ­ihrem Einzug gefeiert haben. Ich dachte, die Deutschen seien spießig, weil sie ordentlich sind. Im Gegenteil: Ihr seid lebensfroh! Ihr lacht laut! Ihr trefft euch zum Picknick, zum Tennis oder zu Ausflügen.

Sofiko Lekishvili staunte, wie viel Zeit deutsche Väter mit ihren Kindern verbringen.

Trotzdem ist der Unterschied spannend. Ich habe mich wirklich gewundert, dass zum Beispiel die Schwester der Gastmutter so selten vorbeikam. Ich fühlte mich wie in ­einer Kleinfamilie, tatsächlich waren nur alle die ­meiste Zeit für sich. Innerhalb des Freundeskreises und der ­Familie sind Georgier sehr eng und herzlich und besuchen sich ständig.

Deutsche Freunde habe ich nicht gefunden. Extrem war es bei meiner ersten Gastmutter in Singen. Dort war ich wirklich viel allein und bin selbst ihr kaum nähergekommen. Ich glaube, sie hatte wahnsinnig viel Arbeit und musste viel planen. In Georgien gibt es weniger Alleinstehende, meistens wohnen die Familienmitglieder dann irgendwie zusammen.

Die Ordnung und Gesetzestreue der Deutschen gefallen mir sehr. Ich bin selbst ordentlicher geworden. Ich habe es genossen, Bus zu fahren. Er kam pünktlich, ich hatte Platz und konnte zusehen, wie draußen die Landschaft vorbeizog. Ich habe sehr viel darüber nachgedacht, wie man es nur schaffen könnte, dass das in Georgien auch so gut funktioniert.

Dann wieder: Gleitzeit, was für ein Wort! Mal später, mal früher anfangen. Überstunden machen, Über­stunden abbauen. Kannte ich nicht. Dem Shoppen widmet ihr ­euch mit Muße. Ihr sucht aus, ihr probiert. Wir Georgier ­brauchen was und besorgen es, schnell. In Deutschland nimmt man sich Zeit. Einkaufen könnt ihr zelebrieren, vor allem auf Flohmärkten. Das sind ja richtige Events, und es finden sich ausgesuchte Sachen!

Nicht nur der Vater der Gastfamilie, die meisten ­Männer verbringen in Deutschland viel Zeit mit ihren Kindern und spielen eine große Rolle in ihrem Leben. Toll! Eltern und Kinder sind gute Freunde, sie haben eine enge Beziehung. Kinder sind enorm wichtig. Wie viel wir uns über sie unterhalten haben! Über ihr Verhalten, was es für Probleme im Kindergarten gab, was man tun könnte. Unglaublich, wie die Eltern versuchen, sich in die Kinder hineinzuversetzen. Wenn ich das vergleiche, könnte der Eindruck entstehen, dass Kinder in Georgien allein aufwachsen. Die Zwillinge lernten Rad fahren – ein Fest für die ganze Familie! Ich war erstaunt.

Sie kann sich nur an Positives erinnern und hat eine "wunderschöne" Zeit erlebt

Essen hat Spaß gemacht. Die Gasteltern haben dicke Kochbücher aus aller Welt. So viele! Jeden Tag gab es ­etwas anderes aus Indonesien, Spanien, China . . . Von mir wollten sie georgische Rezepte wissen. Ich habe gelernt: Lasagne und Spaghetti. Deutsches gab es auch mal: ­Hamburger Fisch, Brezeln und Weißwurst.

Ich muss sagen: Wir Georgier sagen auch sehr ehrlich, was uns stört. Aber ich habe vielleicht nur auf das Positive geachtet. Ich finde nichts Negatives, es war einfach eine wunderschöne Zeit mit meiner Gastfamilie.

Sofiko Lekishvili kam als Au-pair auch deshalb nach Deutschland, weil die Sprache für ihr Jurastudium in Georgien wichtig ist. Viel Fachliteratur ist auf Deutsch geschrieben.

 

Emi Babolin, 21, Italien, Hannover

Deutschland ist meine zweite Heimat. Dort habe ich meine Freiheit und Unabhängigkeit gefunden. Was hatte ich erwartet? Den kalten Winter. Der kam. Dass die Deutschen Bier trinken. Tun sie. Ich mochte Bier nicht sehr, aber dann haben sie mich die vielen deutschen Sorten probieren lassen, und jetzt mag ich es. Ich hatte auf Reisen schon Deutsche kennengelernt, die reserviert, aber freundlich waren. Die Gastfamilie dagegen hat mich gleich herzlich wie eine Tochter aufgenommen. Seltsamerweise waren alle Leute so, die ich in der Zeit kennengelernt habe. Die vielberichtete "Freddezza", die deutsche Kälte, habe ich nicht gefunden.

Emi Babolin (Mitte) freute sich, dass die Gasteltern abends oft Freunde in ihr Haus eingeladen haben. Italiener seien nur draußen gesellig und würden sich gern im Haus einigeln

Dafür Familiensinn und großes Vertrauen in die Kinder. Sie sind so selbstständig! Die beiden, zehn und ­sieben Jahre, sind allein zur Schule und zu ihren Aktivitäten gefahren, manchmal sind sie kurz allein zu Hause ge­blieben. Die Eltern sind sehr beschäftigt, die Mutter kam abends manchmal spät, der Vater nur am Wochenende. Die ­Deutschen sind sehr fokussiert auf ihren Beruf. Aber puh! Irgendwann ist Feierabend?! Nicht in Deutschland. Kaum zu Hause, muss noch. . . , und muss noch . . . basta!

Aber: Bei allem waren die Eltern immer sofort da, wenn nötig. Der Vater rief jeden Abend an. Freitagabend war Familienzeit. Dieser Familiensinn rührt mich! Die Kinder haben viel erzählt. Alle haben viel miteinander geredet. Auch mit mir. Die Eltern wollten viel wissen, haben mich hinterfragt und zum Nachdenken gebracht. Angeregt dadurch nehme ich mir seitdem jeden Tag eine halbe Stunde für ein Zwiegespräch zwischen mir und mir.

Beim Ausgehen habe ich Gleichaltrige kennengelernt. Dafür muss man Geduld und Offenheit mitbringen, anfangs ist es nicht einfach. Sie sind zurückhaltend. Man muss akzeptieren, dass andere Menschen anders sind. Hat man dann einmal ein paar Worte gewechselt, sind sie sehr nett, geduldig und helfen mit Englisch weiter, wenn es auf Deutsch gar nicht mehr geht. Ein Abend läuft in Deutschland so ab: Man beginnt sofort mit Bier oder Ähnlichem, ohne vorher spaziert zu sein. Statt zu tanzen, wird in Deutschland viel geredet. Wir sind am Tisch geblieben, haben diskutiert und uns kennengelernt. Auch schön!

Viele deutsche Häuser haben kein Gartentor oder ­einen Zaun, der das Haus umgibt. Undenkbar in Italien. Ob die Deutschen weniger Angst haben? Ich denke, sie haben mehr Sinn für Gemeinschaft. Wir Italiener scheinen sehr gesellig zu sein – draußen! Aber im Haus igeln wir uns ein. Da sind wir gern abends allein. Meine Gasteltern dagegen haben genau abends eingeladen, und zwar ins Haus.

Als ich in Deutschland war, ist die Kapitänin Rackete mit ihrem Rettungsschiff voller Flüchtlinge von Italien abgewiesen worden. In Italien gab es viele kritische Berichte über Rackete, und Salvini machte Stimmung gegen sie. In Deutschland kritisierte man die italienische ­Regierung. Und ich stand dazwischen. Welchen ­Be­richten sollte ich glauben? Auf jeden Fall habe ich gelernt, dass sich in Deutschland sehr wohl viele Menschen Gedanken um die Flüchtlingsthematik machen und versuchen, eine Lösung zu finden. Wir Italiener unterstellen ja gern das Gegenteil. 

Ich habe in der Schule natürlich viel über den ­Zweiten Weltkrieg gelernt. Manche haben gegenüber den ­Deutschen deswegen immer noch Vorbehalte. Den Gasteltern habe ich angemerkt, dass sie von den damaligen Schreckenstaten ergriffen sind und sich fast selbst ­schuldig fühlen. Das tut mir leid, weil vielleicht auch wir anderen den Deutschen immer noch Schuld geben. Dabei kann ich dieser Gesellschaft nur Respekt zollen. Nach den Weltkriegen, dem Kalten Krieg und der Teilung hat sie es geschafft, sich neu zu erschaffen und ein demokratisches Vorbild zu sein.

Emi Babolin lebte als Au-pair in Hannover. Heute studiert sie in Bruneck (Brunico) in Südtirol Tourismusmanagement.

Tim Wegner

Sabine Oberpriller

Sabine Oberprilleramüsierte sich über die deutschen Spleens. Rohe Zwiebeln gegen drohende Erkältung hat sie probiert. Hilft wirklich!
Michael GalianPrivat

Michael Galian

Michael Galian, Foto­graf, ist 2013 als Au-pair aus Russland nach Baden-Württemberg gekommen. Danach studierte er in Hannover. Er würde seine Gastfamilie gern mal wieder sehen.
Infobox

Fatna Belhaj, Jocelyne Alla, Sofiko ­Lekishvili und Emi Babolin haben 2017/18 als Au-pair in Deutschland gelebt. ­Sie haben ihre Gastfamilien über die Onlineplattform www.aupairworld.com gefunden. Dort lassen sich wegen Covid-19 nun auch gezielt Au-pairs suchen, die sich ­bereits im Gastland befinden. Elina ­Akhmetshina kam 2014 über den Verein "Gastschüler in Deutschland" hierher. Der Verein vermittelt seit 25 ­Jahren russische Jugendliche für je drei Monate in deutsche Gastfamilien.

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