Auf dem Platz der Märtyrer, das Straßenbild ist meist von Männern dominiert - Foto: privat
Als hätte es den gemeinsamen Kampf gegen Gaddafi nie gegeben. Gabriele Michel fand bei ihrem Besuch in Libyen ein männerdominiertes Land vor. Aber: Frauen sind dabei, sich zu organisieren und weiterzubilden
19.08.2014

Tripolis, Mitte März, laue 24 Grad. Der "Platz der Märtyrer" ist zum Meer hin von Palmen gesäumt. Goldene Abendsonne taucht die Türme und Dächer, die nahe Altstadt und die überall wehenden lybischen Fahnen in ein warmes Licht. In den anliegenden Straßen stehen zahlreiche Männer in kleinen Gruppen vor einzelnen Shops, die ihnen offenbar gehören – sie rauchen, palavern, werfen Blicke: Als europäische Frau fällt man unweigerlich auf, auch wenn die Haare verhüllt sind.

Plötzlich huscht eine weiß gekleidete Gestalt in wehendem Gewand an mir vorbei. Es ist eine kleine alte Frau, die ein paar Meter entfernt vor einem der Schaufenster stehen bleibt. Darin werben üppig gerundete Puppen für prunkvolle Damengarderobe. Sie tragen enge, tief ausgeschnittene Kleider, die man auf der Straße nie sieht.

Anziehen dürfen lybische Frauen dieses verführerische Outfit nur, wenn sie bei Festen unter sich sind. Und zu Hause, für ihren Mann. Die verhüllte Frau vor dem Schaufenster trägt die alte, traditionell-lybische Tracht: Ein Tuch-Kleid, das die Frauen vorn mit dem Mund zusammenhalten müssen. Libyen, das wird mir in diesem Augenblicke schlagartig klar, ist viel weiter als drei Flugstunden von Frankfurt entfernt.

42 Jahre lang hat Muammar al-Gaddafi das Land seinem gigantischen Macht- und Geltungsbedürfnis unterworfen. Und er hat es so konsequent isoliert, dass es bis heute kaum konkrete Informationen aus Libyen gibt. Frauen hat er aus dem öffentlichen Leben ausgeschlossen. An den Aufständen, die im Februar 2011 begannen und mit dem Tod Gaddafis im Oktober 2011 endeten, waren sie ebenso beteiligt wie Männer: Sie haben Rebellen transportiert, versteckt und mit Informationen versehen sowie tonnenweise Medikamente organisiert.

Am 23. Oktober verkündete der Vorsitzende des nationalen Übergangsrates in Benghazi die Befreiung Libyens und würdigte die mutigen Kämpfer, die das Land befreit hätten. Die Frauen fanden in seiner Rede nur kurz Erwähnung, als Mütter, Ehefrauen und Schwestern der gefallenen Helden.

Beim Abschlussabend in Benghazi, Gabriele Michel (4. von links) - Foto: privat

Endlich eine Fremdsprache lernen!

In die Passivität drängen ließen sich die Frauen durch diese Ignoranz nicht. Im Gegenteil. Sie bildeten Netzwerke, Verbände und Nichtregierungsorganisationen, die für die Rechte von Frauen und den Aufbau einer Zivilgesellschaft in Libyen kämpfen. Sie kümmern sich umeinander – besonders in Fällen, in denen Frauen während der Kämpfe Gewalt ausgesetzt waren – sie sorgen für Bildung und die politische Repräsentation von Frauen.

Mit zwei dieser neu gegründeten Initiativen arbeiten wir von AMICA zusammen. Seit 2012 mit dem „Center for Capacity Building“ in Benghazi und seit Frühjahr 2014 mit „Hope Charity“ in Tripolis. Hier gibt es Englisch- und Computerkurse sowie psychosoziale Beratung. Als wir das Zentrum von "Hope Charity" besuchen, beginnen die Kurse gerade, sie sind gut besucht. Die Teilnehmerinnen wirken neugierig und motiviert. Endlich Bildung! Fremdsprachen zu lernen war unter Gaddafi seit den 1980iger Jahren verboten. Fotografieren aber dürfen wir sie nur von hinten. Keine Gesichter! Niemand soll erfahren, dass sie hier sind.

In einem ein wenig abseits gelegenen Beratungsraum bieten zwei Sozialarbeiterinnen Gespräche und Unterstützung an. Zum Beispiel für Frauen, die häusliche Gewalt erleben. Oder solche, die vergewaltigt worden sind.
Vergewaltigungen waren auch in Libyen während der Revolution eine Strategie, um den Gegner zu demütigen und zu demoralisieren. Massenhafte Vergewaltigungen wurden aber zuvor von Gaddafi selbst verübte: In einem Kellerverlies seines Regierungsbunkers Bal-als Azizia hielt er über Jahre hinweg Frauen und Mädchen gefangen, die ihm sexuell zu Diensten sein mussten. (Vgl. Annick Cojean: Niemand hört mein Schreien. Gefangen im Palast Gaddafis. Aufbau 2013)

Tabuthema Vergewaltigung

Während der langen Sitzungen, in denen wir das Budget besprechen, die Räume besichtigen und Verträge unterzeichnen, wird das Thema Vergewaltigung nicht einmal angesprochen. Erst im Rahmen einer privaten Einladung bei Sarah ist nach einem vierstündigen Essensmarathon und dem Betrachten der Hochzeitsfotos ihrer sieben Kinder genug Vertrauen geschaffen, kommt das drängende, verdrängte Thema im Kreis der Frauen zur Sprache. Nicht von selbsterlittenen Vergewaltigungen erzählen sie, aber jede in der Runde kennt Frauen, die vergewaltigt worden sind. Einmal, zehnmal – oder über Jahre. Noemi weiß von einer Familie in Misrata, deren sieben Töchter abgeholt wurden. Der Nachbar „rettete“ sie, indem er alle sieben Mädchen im fortfahrenden Auto erschoss.

Früher haben die Menschen in Libyen aus Angst geschwiegen. Heute ist es Scham, die diesen Teil der gemeinsamen Geschichte zum Tabu und kollektiven Trauma macht. Vergewaltigt worden zu sein ist in konservativ-patriarchalen Gesellschaften eine Schande, die unmittelbar auf die Frau zurückfällt und nicht nur ihre eigene, sondern die Ehre der ganzen Familie verletzt. Eine vergewaltigte Frau würde daher nie direkt über ihre Erfahrung sprechen. So werden die Computer- und Englischkurse in den Zentren zwar als berufsbildende Maßnahme mit einem Zertifikat abgeschlossen, aber sie sollen den Frauen zugleich den Weg ebnen, um sich Unterstützung bei emotionalen und psychosozialen Problemen zu suchen.

###mehr-extern### Geschlechtertrennung im Hörsaal

2012, bei den ersten freien Wahlen nach Gaddafis Tod, wählten die Libyer moderat. Doch die Hoffnung auf eine demokratisch legitimierte Regierung hat sich bis jetzt nicht erfüllt. Im Gegenteil. Die Lage im Land wird immer unübersichtlicher. Es gibt keine geltende Verfassung, Armee und Polizei werden gerade erst aufgebaut. Nach Benghazi zu reisen, 1200 km östlich von Tripolis gelegen und Ausgangspunkt der Rebellion gegen Gaddafi, gilt als fahrlässig. Und auch in Tripolis leben beispielsweise die Mitglieder der Botschaft abgeschottet in einer Art luxuriösem Reservat. Meernah und gut bewacht. Dabei ist die Kriminalitätsrate gering. Libyen hat Öl. Libyen ist reich. In einer ganzen Woche sehe ich nur vier Bettler; alles Frauen.

Heute können junge Mädchen studieren – aber an der Universität in Sirte gilt seit neuestem Geschlechtertrennung– vorne sitzen die Männer, hinten die Frauen. Frauen fahren Auto – doch seit Herbst letzten Jahres dürfen sie nicht mehr allein reisen. Frauen bloggen im Internet, gehen ins Fitnesscenter, geben im Fernsehen Statements ab.
Doch die ursprünglich vorgesehenen 35 Prozent Frauenquote bei den Parlamentswahlen im kommenden Sommer wurden inzwischen auf 15 Prozent reduziert.

Auch das Ausland guckt nur auf die Männer

Auch das Interesse der westlichen Medien ist nahezu völlig auf die Männer konzentriert, auf die Konflikte zwischen Ex-Rebellen und Zivilisten, Säkularen und Islamisten, Exillibyern und Daheimgeblieben, auf das Chaos im Parlament und die Gefechte zwischen feindlichen Milizen.

Bei einem dieser Kämpfe hat während unseres Aufenthalts eine Rakete die Landebahn getroffen. Die Lufthansa fliegt auch Tage später Tripolis nicht wieder an, aber Alitalia. Auf dem Weg zum Flughafen fährt vor uns ein Anhänger mit einer Gruppe von Männern, die gebräunten Gesichter von bunten Tüchern umhüllt, Figuren wie in einem Film. Waffen sehe ich keine. Aber überall große Plakate mit den gefallenen Helden.

In Gedanken stelle ich die gesichtslosen Fotos aus den Frauenzentren daneben: Libyen ist nicht nur chaotisch, es ist auch fest in Männerhand. Ich bewundere den Mut unserer lybischen Partnerinnen. Ihr „Inschallah“, klingt nicht nach Resignation, sondern nach Hartnäckigkeit und der Bereitschaft zu Hoffnung und Selbstbehauptung.
 

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