Foto: Christian Katzer/dpa
Das ist Panikmache
Seit dem 1. Januar herrscht ­Arbeitnehmerfreizügigkeit auch für Bulgaren und Rumänen. CSU-Politiker und Medien ­warnen vor einer Migrations­welle, vor Überlastung und Missbrauch unseres Sozialstaats. Die Berliner Sozialarbeiterin Marie-Therese Reichenbach beschreibt, was das bei Mitarbeitern und Kunden von sozialen Einrichtungen auslöst
Portrait Hanna Lucassen, Redaktion chrismon, Redaktions-Portraits Maerz 2017Lena Uphoff
27.01.2014

chrismon: Sie arbeiten in Berlin mit Obdachlosen aus Osteuropa. Spüren Sie Veränderungen seit dem 1. Januar?
Marie-Therese Reichenbach: Bislang blieb der angekündigte Ansturm der Bulgaren und Rumänen aus, und wir erwarten auch keinen. De facto leben hier schon viele, die sich mit illegalen Jobs durchschlagen und auf der Straße leben. Wir treffen sie zum Beispiel in Not­unterkünften. Sie können nun auf legale Weise Geld verdienen. Und das ist sehr gut.

Pessimisten warnen vor einem Run auf Hartz IV...
Das ist Panikmache, wie wir sie seit 2004, mit der schrittweisen Einführung der Freizügigkeitsregelungen, immer wieder erlebten. 2011 etwa hatten alle Angst vor den Polen, doch der große Autoklau blieb aus. Übrigens sank auch die Zahl der arbeitslosen Polen in Deutschland. Mich ärgert diese Art der Debatte, deren Auswirkungen wir täglich spüren.    

Inwiefern?
Die Mitarbeiter in den Obdach­loseneinrichtungen sind verun­sichert und rüsten sich mit teil­weise überzogenen Vorsichtsmaßnahmen. In einer Berliner ­Tagesstätte trennt jetzt eine Sitzordnung die Rumänen von den anderen. So sollen mögliche Konflikte vermieden werden. Tatsächlich wird aber eine ganze Gruppe stigmatisiert.

Nehmen auch die Obdachlosen diese Debatte wahr? 
Klar, viele lesen Zeitung, gehen in Internetcafés. Nicht wenige sind bei Facebook. Russischsprachige Männer sagten mir neulich, mit Bulgaren würden sie gar nicht ­reden. Missgunst untereinander ist aber nichts Neues und richtet sich eben immer gegen den, der einem den Platz vermeintlich streitig macht.

Um was geht es konkret?
Um frische Socken, die Extraportion Suppe oder die Beratungszeit durch den Sozialarbeiter. Letztendlich geht es natürlich auch um die Chancen, in dieser Gesellschaft anzukommen. Eine junge Polin etwa hat erfolgreich an einem Deutschkurs teilgenommen und jetzt einen Job in der Küche der Tagesstätte. Seitdem meiden andere Polinnen sie.

Warum?
Da spielt Neid eine Rolle. Und weil sie im Inneren befürchten: Es ist hier nicht genug Platz für uns alle. 

Neuen Kommentar hinzufügen

Der Inhalt dieses Feldes wird nicht öffentlich zugänglich angezeigt.

Plain text

  • Keine HTML-Tags erlaubt.
  • Zeilenumbrüche und Absätze werden automatisch erzeugt.
Wählen Sie bitte aus den Symbolen die/den/das Roller aus.
Mit dieser Aufforderung versuchen wir sicherzustellen, dass kein Computer dieses Formular abschickt.