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Der Hamburger Propst Johann Hinrich Claussen freut sich auf den Evangelischen Kirchentag 2013: Differenz, sagt er, ist kein Grund zur Panik
(Berlin) 11.02.16; Dr. Johann Hinrich Claussen, Portraet, Portrait; Kulturbeauftragter des Rates der EKD, Leiter des EKD-Kulturbueros, evangelischer Theologe Foto: Andreas Schoelzel/EKD-Kultur. Nutzung durch und fuer EKD honorarfreiAndreas Schoelzel
16.04.2013

###autor###Manchmal fühle ich mich in meiner Kirche seltsam einsam – immer dann nämlich, wenn ansonsten geschätzte Mitmenschen von der Einheit zu schwärmen zu beginnen: wenn sie für eine „sichtbare Einheit der Christen“ beten, nach der sie sich dringlich sehnen; wenn sie darüber grübeln, wie man Religionsgespräche so voranbringen könnte, dass es keine störenden Unterschiede mehr gibt. Wenn ich solche Töne höre, werde ich ganz still, denn nichts in mir bietet ihnen einen Resonanzraum.

Das Wort „Einheit“ lässt mich kalt. Vielleicht liegt es daran, dass ich so protestantisch bin. Denn Protestantismus ist erkämpfte und genossene Vielheit. Vielleicht liegt es auch an meinem Alter. Den alten Konfessionshass habe ich nie kennengelernt. Ihn zu überwinden, ist mir also kein Anliegen. Mich interessiert meine unmittelbare Gegenwart. Sie ist geprägt von immer neuen reli­giösen und kulturellen Unterschieden. Sinn und Geschmack für die fast unendlichen religiösen Möglichkeiten heute zu entwickeln, reizt mich. Deshalb werde ich immer so müde, wenn ich das alte Verslein höre, dass „uns mehr verbindet, als uns trennt“. Viel vitaler finde ich es, in diesem Meer von Vielfalt meine eigene Lebens­position zu beschreiben.

"Ich möchte möglichst vielen unterschiedlichen Christentümern begegnen"

Umso mehr freut mich, dass in diesem Monat der Deutsche Evangelische Kirchentag (1.–5. Mai 2013) meine Heimatstadt Hamburg beehrt. Denn immer mehr versteht er sich als ein Fest der Vielheit. Hier präsentiert sich kein Richtungschristentum, das Gesinnungen vereinheitlichen will. So will ich diese Tage nutzen, möglichst vielen, möglichst unterschiedlichen Christentümern zu begegnen. Dabei wird es nicht ausbleiben, dass mir manches fremd bleiben wird. Zum Beispiel das neuere geistliche Lied – da werde ich manchmal tapfer sein müssen. Zum Glück gibt es auf dem Kirchentag keinen Mitsingzwang.

Die vielen Kirchentagsbesucher von außerhalb haben die Chance, eine Stadt kennenzulernen, welche viele Kulturen beher­bergt. Vor gut zwanzig Jahren wurde ein „Lexikon der Hamburger ­Religionsgemeinschaften“ veröffentlicht. Wie auf einem Stadtplan konnte man hier nachsehen, wer wo welchen Glauben pflegt. Das ergab schon damals eine erstaunliche Fülle: vier buddhistische Zentren, sechs muslimische Verbände, elf orthodoxe, vierzehn reformatorische, fünf katholische, siebzehn pfingstlerische, zweiunddreißig freie evangelische Kirchen, eine jüdische Gemeinde, zwei Hindu-Gemeinden und eine Sikh-Gemeinde, dazu „Jesus Freaks“, Alewiten, Kopten, Heilsarmee, African Fellowship und viele mehr. Inzwischen sind ungezählte andere Gruppen dazugekommen. Schade, dass es für den Kirchentag keine Neuauflage gibt. Aber sie zu erstellen, wäre eine Sisyphusarbeit gewesen.

Hamburg - eine Ansammlung von Dörfern

Dennoch, eine richtige Weltstadt ist Hamburg nicht. Wenn man zum Vergleich Berlin nimmt: Kommt man dort am Hauptbahnhof an, begegnet man sofort unterschiedlichsten Sprachen und Hautfarben sowie Menschen, deren bittere Armut einem geradezu ins Gesicht springt. Solche Realitätsschocks kann man in Hamburg elegant vermeiden. Man muss nur Dammtor als Zielbahnhof wählen. Hamburg ist eine Ansammlung von Dörfern, zwischen denen unsichtbare Grenzmauern stehen. Multikulturalität verteilt sich hier sehr ungleich. In den sogenannten besseren Vierteln leben wenige Menschen mit nichtdeutscher Herkunftsgeschichte. In den anderen Quartieren ist es fast umgekehrt. ­Zwischen den Bewohnern dieser Welten gibt es kaum Austausch. Es ist eine dringliche Aufgabe, diese Beziehungslosigkeit zu überwinden. Aber wie?

Am besten ginge es mit Gelassenheit. Es ist ja stets von neuem überraschend, mit welcher Wucht in Deutschland über die Religion gestritten wird. Dabei spielen religiöse Überzeugungen längst keine beherrschende Rolle mehr. Warum also streiten Menschen so erregt über etwas, das sie selbst kaum noch betrifft? Ganz neu ist dieses Phänomen nicht. Schon vor zwei Jahrhunderten schrieb Georg Christoph Lichtenberg: „Ist es nicht sonderbar, dass die Menschen so gern6e für die Religion fechten und so ungerne nach ihren Vorschriften leben?“ Es liegt wohl daran, dass die religiöse Welt unvermittelt Fremdheit sichtbar macht. Das verstört und erregt. Hier kommt den Kirchen die Aufgabe zu, klarzumachen, dass Unterschiede normal sind. Wenn Kirchenleute aufhören, eine imaginäre Einheit zu beschwören und die faktische Vielheit der christlichen Gemeinschaftsformen zu skandalisieren, würden sie einen Beitrag zu mehr Gelassenheit in Religionsdingen leisten: Differenz ist kein Grund zur Panik.

Toleranz reicht nicht. Anerkennung ist nötig

Von der Gelassenheit ist es nur ein Schritt zur Toleranz. Bei ihr aber sollte man nicht stehen bleiben. Denn Toleranz ist bloß die friedliche Duldung anderer Auffassungen. Deshalb muss man von der Toleranz zur Anerkennung fortschreiten, zur Fähigkeit, im Spiegel des anderen eigene Grenzen zu erkennen und sich von den Charismen anderer anregen zu lassen. Dies ist keine ­reine Freude, sondern oft mit echten Anfechtungen verbunden. Die wichtigste Probe besteht darin, das dezidiert Fremdartige anzuerkennen. Es gilt, den Fehler zu vermeiden, der im 19. Jahrhundert von aufgeklärten Vorkämpfern der Judenemanzipation gemacht wurde. Diese stritten dafür, dass Juden nicht mehr diskriminiert wurden. Zugleich aber wünschten sie, dass die Juden sich fast restlos der bürgerlichen Gesellschaft anpassten. Anerkennung erweist sich darin, auch das Nichtmoderne zu respektieren.

Das ist eine herbe Herausforderung, aber sie hält auch schöne Überraschungen bereit. Gerade aufgeklärten Protestanten schadet es nicht, sich von starken Frömmigkeitsformen irritieren und inspirieren zu lassen: vom traditionellen Katholizismus mit seiner klugen Ritenkultur, vom orthodoxen Christentum mit seiner Leidenschaft für das Gebet, vom Pfingstlertum mit seiner Glaubensbegeis­terung, von der Traditionstreue vieler Muslime.
Zur Anerkennung gehört, dass man einander nicht mit Kritik verschont. Den anderen nimmt man nur ernst, wenn man ihm ernste Anfragen stellt. Der entscheidende Konflikt, der bei aller Freude an den Unterschieden präzise bearbeitet werden muss, ist die Frage der Gewalt. Hier gibt es Ängste, die ernst zu nehmen sind. Wer nicht im geschützten Raum etablierter Konsensgespräche verharren will, sondern im realen Sozialraum mit all seinen Spannungen für Integration werben will, muss selbst die Frage nach dem Verhältnis von Religion und Gewalt stellen. Hier sollte man sich als aufgeklärter Protestant nicht scheuen, Vertreter anderer, traditionellerer Konfessionen und Religionen daraufhin zu be­fragen, wie sie eigene autoritäre Herrschaftsstrukturen abmildern, politischer Gewalt entgegentreten, Fanatismen bekämpfen, Männerdominanz durchbrechen, Minderheiten fördern. Dies darf man als aufgeklärter Protestant jedoch nur, wenn man sich selbst ebenfalls kritisch befragen lässt.

Es gibt interessante religiöse Hamburgensien

Integration kann nicht gelingen, wenn man versucht, alle Religionen vernünftig zu machen. Dies würde dem Prinzip der Anerkennung widersprechen. In einer integrativen Gesellschaft dürfen Religionen unvernünftig bleiben. Jedoch müssen sie das eigene Gewaltpotenzial entschärfen. Die Gesellschaft kann dies dadurch befördern, dass sie ihnen Rechte gewährt und sie zugleich in die Pflicht nimmt.

Der Staatsvertrag, den die Stadt Hamburg 2012 mit muslimischen Verbänden geschlossen hat, ist ein Beispiel dafür. Er verleiht muslimischen Feiertagen einen ähnlichen Status wie den kirchlichen Feiertagen. Bemerkenswert auch der Hamburger „Religionsunterricht für alle“, der den religiös bunten Schulklassen gerecht werden will. Für Kirchentagsbesucher dürfte die Auseinandersetzung mit diesen beiden Hamburgensien, für welche die Nordkirche sich mitverantwortlich fühlt, genauso interessant sein wie der Besuch von Alster, Jungfernstieg und Reeperbahn.

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Vielen Dank für den Artikel & die Gedanken!
-Vielfalt statt Einheit sowie von Toleranz (einen Schritt weiter) zu Anerkennung-
Dem kann ich nur zustimmen.

Mit anderen in der Stille zusammen schweigen (oder im gemeinsamen Singen) lässt mich die Einheit erfahren, sobald jedoch der einzelne Mensch spricht und agiert, ist die Vielfalt, die jeder mitbringt, mehr als offensichtlich und sollte meiner Meinung nach anerkannt werden. Ein "Einheits-Wunschdenken/-Gespräch" stellt für mich eher ein künstliches Produkt dar, das auch in meinem Inneren keine Resonanz erzeugt. Schön, dass auch mal solche andere Ansätze öffentlich ausgesprochen werden. Und schön, dass es viele Wege gibt die Vielfalt zu zelebrieren.

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"wenn ansonsten geschätzte Mitmenschen von der Einheit zu schwärmen zu beginnen: wenn sie für eine „sichtbare Einheit der Christen“ beten, nach der sie sich dringlich sehnen; wenn sie darüber grübeln, wie man Religionsgespräche so voranbringen könnte, dass es keine störenden Unterschiede mehr gibt."

Woher kommt diese Sehnsucht?
Woher kommt diese Einsamkeit?
Aus der Kälte der Gesellschaft?
Weil man die Verbindung zu den Menschen und deren Meinungen sucht statt der Verbindung zu Gott und der Wahrheit in ihm?

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Vielfalt ist nicht darauf angewiesen, dass es parallele und tlw. konkurrierende Organisationen gibt. Auch innerhalb z. B. der katholischen Kirche gibt es eine große Vielfalt. Insgesamt wird aber aus meiner Sicht die Verkündigung der gemeinsamen Botschaft geschwächt, wenn man sich untereinander befehdet.

Mein Eindruck ist, dass Laien konfessionsübergreifend ein stärkeres Bedürfnis nach Einheit haben, während viele Theologen die feinen Unterschiede kultivieren und konservieren und Amts- und Würdenträger sich in den Mehrfachstrukturen gut eingerichtet haben.

Um es mal drastisch zu formulieren: konkurrierende christliche Kirchen gehen mir genau so auf die Nerven wie die vielen Weltboxverbände, wo ich auch nie weiß, welcher Weltmeistertitel wirklich zählt.

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Einheit erzeugt Angst, weil die Individualität (als Kollektiv oder Person) bedroht scheint. Das Ich geht möglicherweise verloren oder "wird vielleicht weniger". Doch Angst ist das Gegenteil von Liebe. Wer sagte dass?: Was ich behalten will, werde ich verlieren - was ich hingebe, werde ich gewinnen ----- Die ganze große notwendige Einheit der Welt (Weltregierung) ist vielleicht noch nicht unser wichtigstes persönliches Tagesziel, doch wir können als Menschheit nur biologisch und spirituell überleben, wenn wir akzeptieren: Wir sind alle Eins. Auch wenn wir es noch nicht leben (alle Gräuel und Miseren kommen daher). Leben ist Veränderung. Nichts bleibt wie es ist. Wandern wir doch einfach einem gemeinsamen Ziel zu (Gott? Liebe? Freiheit? - alles austauschbare Begriffe) und teilen unterwegs die belegten Brote. Alle ohne Fleisch oder Wurst drauf - also ohne Folter und Mord.

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Das Plädoyer für Vielfalt auch in der Ökumene in Johann Hinrich Claussens Beitrag "Einheit lässt mich kalt" (chrismon 05/2013, S. 26f.) unterscheidet sich wohltuend von dem monolithischen Einheitsökumeneverständnis, wie es etwa in der Initiative "Ökumene jetzt" 
zum Ausdruck kommt, die von Politikern angestoßen wurde, die offenbar gar nicht gemerkt haben, dass ihr Motto "ein Gott, ein Glaube, eine Kirche" in fataler Weise an ganz ähnliche Slogans der nationalkirchlichen "Deutschen Christen" erinnert, oder in dem Aufruf rheinischer evangelischer Kirchenleute, die die evangelischen Christen zur Teilnahme an der Trierer Heiligrockwallfahrt 2012 aufriefen und anschließend verwundert zur Kenntnis nehmen mussten, dass Kurienkardinal Walter Brandmüller extra einen Ablass aus Rom für die Wallfahrer(innen) überbrachte. Unverständlich dagegen bleibt freilich Claussens abschließende Werbung für den Hamburger Einheitsreligionsunterricht "für alle", der, was Claussen nicht sagt, letztlich nur von der evangelischen Kirche verantwortet und auch nur von einer einzigen Lehrkraft unterrichtet wird, die in aller Regel evangelisch ist. Ist es nicht eine Hybris zu meinen, "aufgeklärte Protestanten" (diesen Begriff bemüht der Autor verschiedentlich) könnten allen Religionen und Konfessionen in gleicher Weise gerecht werden?

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Zitat Herr Dr. Claussen:"Ich möchte möglichst vielen unterschiedlichen Christentümern begegnen".

Solch ein Spruch klingt gut, klingt nach Toleranz, klingt nach Weltoffenheit und …..?...grenzenloser Vielfalt. Hört sich auch der Klang von Beliebigkeit so an? Das Christentum hat eine klare Botschaft. Es ist auch das 1 X 1 unserer Werte. Aber schon da Wort „begegnen“ hat einen fatalen Beigeschmack von akzeptierender Toleranz. Wobei Toleranz und Ökumene nicht sehr weit von einander entfernt sind. Da werden unterschiedliche Glaubensinhalte belanglos. Die evangelischen Teilkirchen sind wahrlich zum Teil meilenweit von einander entfernt und die damit verbundene Aufweichungstendenz ist ein Anfang vom möglichen Ende.

Gehen Sie in der Republik (von anderen Länder oder gar den USA ganz zu schweigen!) in sehr viele verschiedene evangelische Kirchen und sie erleben die unendliche Beliebigkeit auf Kosten der unveräußerlichen Glaubensinhalte. Und der Begriff „unveräußerlich“ trifft in diesem Zusammenhang den Punkt. Denn, um möglichst „nah bei den Menschen zu sein“, um möglichst allen Moden (auch den ganz kurzlebigen) gerecht zu werden, wird auf allen „Hochzeiten getanzt“ und der Glaube zwecks Anerkennung auf den Markt getragen. Noch vor kurzer Zeit gab es Motorradgottesdienste, solche für Hundehalter und demnächst ist die Klimadiskussion statt des Christentums der Inhalt von Gottesdiensten. Motorräder, Hunde, das Klima und selbst BIO nebst anhängender Partei werden damit zum Teil der Anbetung. Damit wird dann auch das Objekt zum Ziel des Glaubens, bzw. mangels sonstiger Überzeugungskraft zum Weg um zu glauben.

Die Verwässerung des Weines war schon immer Betrug und die Beliebigkeit der neueren Bibelauslegung ist fatal, bis hin zur Selbstaufgabe mit dem Ziel der unterwürfigen Anerkennung. Ein Armutszeugnis.

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