20.04.2020
Claudia Felke
„Wo aber Gefahr ist, wächst das Rettende auch“

Dieses Zitat von Friedrich Hölderlin (1770-1843) ist in den letzten von Covid 19 geprägten Monaten zu einem hoffnungsvollen Wortbegleiter geworden. Dies umso mehr, wenn man bedenkt, dass der deutsche Dichter als junger Student bereits mit dem Stigma der Hypochondrie belegt wurde. Auch wenn man einschränkend bemerken muss, dass jegliche psychiatrische Diagnosen aus dieser Zeit unbedingt kritisch zu bewerten sind, hinterlässt das obige Zitat Hölderlins umso mehr Strahlkraft, wenn man sich vorstellt, dass ein von Gesundheitsängsten geplagter Mensch sich zu diesen Worten durchzuringen vermochte.

Der vor 250 Jahren geborene Hölderlin, dessen Geburtstagsfeiern im diesjährigen Jubiläums-Jahr nun wegen der Corona-Krise und den damit zusammenhängenden Ausgangsbeschränkungen nahezu allesamt ausfallen, lebte in einer Zeit, in der Typhus, Ruhr und Pocken in Europa wüteten und eine ständige Bedrohung für die Bevölkerung darstellten.

Die tröstliche Wirkung des Zitates entsteht also aus dem Wissen um die realen existenziellen Bedrohungen, die es in unserer Welt immer gab und dem gleichzeitigen Vorhandensein einer Hoffnung auf Errettung. Die Errettung wird zudem noch in eine verstärkende Wirkungsabhängigkeit zur Gefahr gesetzt, was im Umkehrschluss als sich bedingende These erscheint.

Woher nahm aber ausgerechnet der von vielfältigen psychischen Erkrankungen, und nehmen wir nun einmal an, die Hypochondrie sei tatsächlich eine davon gewesen, betroffene Hölderlin, die Kraft, inmitten einer von übermäßiger Unsicherheit geprägten Welt, eine derart hoffnungsvolle Behauptung auszusprechen?

Während der nun seit mehreren Wochen andauernden Zeit der Ausgehbeschränkungen, stellt sich mir diese Frage auch ganz persönlich. Was lässt uns hoffnungsvoll sein? Und was bedeutet es tatsächlich Hoffnung zu behalten, in Zeiten permanenter Besorgnis?

Als prinzipiell eher ängstlicher Mensch, berührt mich daher das Zitat Hölderlins ganz besonders, denn es ist nicht die überschwängliche Hoffnungsproklamation eines mutigen Schicksalsherausforderers, sondern ein der eigenen Vulnerabilität und selbsterkennenden Sensibilität zum Trotz entgegengesetzter Glaube an die Befreiung aus der Angst.

Nimmt man nun an, dass ein tendenziell furchtsamer Charakter sich den Gefahren eher passiv ausgeliefert fühlt, so hat es eine ausgesprochen aufbauende Wirkung, wenn Hölderlin von der wachsenden „Rettung“ spricht. Für mich bedeutet dies aber in keinem Fall, dass man untätig leidend auf das Ereignis der Errettung warten muss, sondern dass man sowohl auf psychischer Ebene einen gewissen Optimismus behalten kann, als auch konkret mit seinem Verhalten dazu beitragen kann, dass eine Aussicht auf Verbesserung der Umstände wahrscheinlich wird.

Um konkret auf die Corona-Krise Bezug zu nehmen, fällt auf, dass sich mindestens zwei Gruppen von Menschen finden, die ihren Weg durch die Unsicherheiten der pandemischen Bedrohung suchen. Möglicherweise fühlen sich sogar beide Lager von dem Hölderlin-Zitat angesprochen. Das eine Lager besteht aus denjenigen, die sich durch die von der Regierung beschlossenen Beschränkungen gefährdet sehen im Hinblick auf die Möglichkeit der Ausübung ihrer freiheitlichen Rechte. Diese Gruppe würde wohl Friedrich Hölderlins Satz dahingehend für sich interpretieren, dass man davon ausgehen könne, dass schon „alles gut werde“, und dass man nicht dauerhaft einer pessimistischen Grundauffassung folgend, ein ganzes Land in den „Lock-Down“ versetzen kann. Je nach Lobby oder Parteizugehörigkeit werden dann die gängigen Argumente zur Verteidigung dieser Auffassung geliefert. Die Schlagworte kommen aus der Ökonomie („Wirtschaftskrise“), Psychologie („soziale Isolation“) oder auch aus den Bereichen der Justiz („Freiheitsrechte“) und werden mit regelmäßiger Intensität durch die Medienwelt verbreitet und zum Teil ausgesprochen kämpferisch vorgetragen.

Mit Ausnahme einiger extremer Vertreter dieses Stimmungsbildes, leugnet diese Gruppe nicht das Vorhandensein der Gefahr, aber sie hält die Verhältnismäßigkeit der Maßnahmen für nicht gegeben. Das andere Lager interpretiert den zweiten Teil des Hölderlin-Zitates für sich völlig anders. Die Hoffnung auf Rettung aus der Corona-Krise wächst für diese Menschen aus dem Glaube an die positive Wirkung der Maßnahmen zur Abflachung der Infektionskurve. Diese Gruppe fühlt sich mit den Entscheidungen der Politiker in ihrem Sicherheits- und Schutzbedürfnis unterstützt. Ihr aktiver Beitrag in diesen angstbesetzten Zeiten ist es, sich an die Regeln zu halten, auch wenn dies mit ökonomischen, psychischen oder freiheitsrechtlichen Problemen verbunden ist. Hier sind es die Begriffe „Solidarität“, aber auch „Glaube“ in einem guten religiösen Kontext, die handlungsmotivierend im Vordergrund stehen.

Natürlich gibt es außer diesen beiden Positionen noch viele Nuancen des öffentlichen und privaten Diskurses. Grundsätzlich sind es aber diese beiden entgegengesetzten Auffassungen, die zu zum Teil hitzig geführten Auseinandersetzungen führen. Was aber beide verbindet ist die Hoffnung darauf, dass es einen Ausweg gibt, dass sich die Situation irgendwann wieder zum Guten wenden wird. Und dass beide Sichtweisen auch aufgrund unterschiedlichster Lebensumstände ihre Berechtigung haben, steht außer Frage, solange es sich nicht um Extremisten wie Verschwörungstheoretiker oder fanatische Glaubensprediger handelt.

Der Kleinunternehmer, der mit jedem Monat mehr des „Lock-Down“ seine Existenz gefährdet sieht, wird eine Lockerung der Maßnahmen für wichtiger erachten, während die Mutter eines Kindes, das zur Risikogruppe gehört, jeden Tag mehr in selbstgewählter Quarantäne stoisch hoffnungsvoll erträgt. Dies sind nur zwei Beispiele für unzählige, verschieden geartete Lebensschicksale, nicht nur in Zeiten von Covid 19.

Wenn das Zitat von Friedrich Hölderlin in diesen viel zitierten bewegten Zeiten seine Strahlkraft in größtmöglicher Wirkung entwickeln soll, dann funktioniert dies nur, wenn der Raum für die respektvolle Auseinandersetzung im Miteinander in ebensolcher Größe ausgeweitet wird. Niemandem ist geholfen, wenn das eine Lager dem anderen per se böse Absichten unterstellt.

Aber möglicherweise gehen Länder und eine ganze Gesellschaft tatsächlich gestärkt und am Ende gerettet aus dieser Krise hervor, wenn es wie selten zuvor gelingt, die oftmals konkurrierenden Felder Politik, Soziologie, Naturwissenschaft und Theologie zu einem gemeinsamen Retter wachsen zu lassen.