27.03.2020
Kurt Schreiner

Besuche gibt es nicht mehr. Dass meine Enkel nicht mehr kommen dürfen, tut mir richtig weh. Jede Woche habe ich mich auf die Kinder gefreut, den viereinhalbjährigen Fabian und seine zweieinhalbjährige Schwester Paulina. Man hat miteinander gespielt, und zum zehnten oder zwölften Mal musste der Opa die Geschichte von dem Eichhörnchen Elsa und dem Maulwurf Wulle vorlesen. Wenn es losging, nahm der Junge meinen Arm und legte ihn um seine Schultern. Der kleine Philosoph wusste eigentlich schon alles, was in dem Buch steht, auswendig. Die quirlige kleine Paulina lauschte neugierig, bis sie dann irgendwann ungeduldig wurde.

Einsamkeit! – Vor zehn Monaten – von einer Corona-Krise ahnte noch niemand etwas – ist meine Frau Ute gestorben. Schon lange war sie krank. Von einem hinzukommenden Unfall zu Beginn des vergangenen Jahres konnte sie sich nicht mehr erholen. Ich habe mich selbst für stabiler eingeschätzt. Aber heute weiß ich, dass ich mich getäuscht habe. Ich vermisse meine Ute sehr. Und oftmals am Tag betrachte ich ihr Bild.

Abends vor dem Einschlafen suche ich ihre Nähe, spreche mit ihr, strecke meine Hand suchend nach ihr aus. Leider antwortet sie nicht auf meine Worte. Nur einmal, zwischen Wachen und Schlafen, hörte ich, wie jemand meinen Namen sagte: „Kurt.“ Es war Utes Stimme. Einen Zweifel daran gibt es nicht. Sicher könnten Psychologen dieses Ereignis plausibel erklären. Ich war an jenem Tag jedenfalls ziemlich durcheinander.

Aber von allem nicht genug. Bald nach dem Tod meiner Frau wurde bei mir eine schleichende, tückische Erkrankung diagnostiziert. In dem Augenblick war ich sicher, dass ich das nächste halbe Jahr nicht überleben würde. Die Ärzte kämpften und sie kämpfen noch. Ich hoffe sehr, dass es ihnen gelingt, die Krankheit zum Stillstand zu bringen. Ungeschehen machen können sie all das nicht. Natürlich hat das auch Folgen für die augenblickliche Situation. Als Hochrisikopatient muss ich ganz besonders auf mich achten und allen denkbaren Gefährdungen aus dem Weg gehen. Nein, das Telefon kann die Begegnungen mit Verwandten und Freunden nicht ersetzten. Vielleicht gelingt es bald, per Laptop oder Tablet miteinander - vor allem mit den Enkelkindern - zu skypen.

Um mich her ist es sehr einsam geworden. Aber das betrifft eigentlich ja alle. Ja, an die Stelle der persönlichen Begegnungen sind die rasch zahlreicher werdenden Telefongespräche getreten. Die Tochter Angelika und der Sohn Eckhard melden sich regelmäßig und erkundigen sich danach, wie es mir geht und wie ich im Alltag über die Runden komme. – Ich glaube, die Kinder machen sich Sorgen um ihren alten Vater. – Die alltägliche Versorgung gelingt ganz gut. Ein wenig habe ich inzwischen das Kochen gelernt und bin manchmal sehr stolz darauf, dass mir die Linsensuppe oder die Reibekuchen, die Bratkartoffeln oder der Salat richtig gut schmecken.

Natürlich erfahre ich auch, was meine Tochter und meinen Sohn, beide in verantwortungsvollen Positionen, bedrückt. Angelika arbeitet in einer großen Sozialeinrichtung für Behinderte. Hier ist allergrößte Vorsicht geboten, weil die Schutzbefohlenen besonders gefährdet sind. Eckhard wirkt in einer großen Baufirma. Er erlebt hautnah, wie viele Unternehmen infolge der Krise hart an den Abgrund geraten. Die Frage ist, wie lange sie noch durchhalten können.

Regelmäßig melden sich Freunde und Freundinnen am Telefon, darunter auch liebe Menschen, die ich über meine Frau kennengelernt habe. Manche bieten ihre Hilfe an und möchten etwas für mich, den betagten Senior mit zwei linken Händen, kochen. Gern würden sie auch andere Erledigung für mich übernehmen. Für diese Zeugnisse der Sympathie und der Hilfsbereitschaft bin ich sehr dankbar, auch wenn ich immer wieder sagen kann, dass ich zurzeit – noch! – ganz gut zurechtkomme. Die Krise hat eine neue, längst verschwunden geglaubte Welle der Solidarität ausgelöst.

Vor ein paar Tagen fand ich eine kleine, auf gutem Papier gedruckte Broschüre in meinem Briefkasten. Der Inhalt hat mich nachdenklich gemacht: Die tödliche Seuche ist die Strafe für unsere Sündhaftigkeit. – So steht es da. – Helfen kann nur die Rückbesinnung auf Gottvater und seinen Sohn Jesus. Was habe ich in meinem Leben verbrochen, dass ich so bestraft werden muss? Habe ich meine Kinder misshandelt und meine Frau betrogen? Habe ich mein Geld mit unlauteren, kriminellen Machenschaften verdient? Habe ich meine Nachbarn bei anderen schlecht gemacht und verleumdet?

Nun, Heilige sind wir alle nicht. Aber auch nicht so verworfen, dass wir eine so schreckliche Strafe verdienten. – Draußen erwacht die Natur. Endlich wird es nach einem Winter, der eigentlich gar keiner war, Frühling. Schon früh am Morgen zwitschern die Vögel. Im Garten sind die Schneeglöckchen und die Krokusse bereits verblüht. Aber nun leuchten die goldgelben Osterglocken und die roten, blauen, gelben und weißen Primeln.

Die Möglichkeit, der Gefangenschaft zu entfliehen, sind rar. Einen Einkaufsbummel gibt es nicht mehr, weil viele Läden geschlossen sind und weil wir Menschenansammlungen meiden müssen. Bewusst verzichte ich auf den wunderschönen Hofgarten unterhalb des Öhringer Schlossen, weil auch hier Gefahren lauern. Der gelegentliche Restaurantbesuch, Gaisburger Marsch oder Jägerschnitzel, ist unmöglich geworden.

Ein dringender Besuch in meiner Apotheke war ein Erlebnis besonderer Art. Hier wurde sichtbar, was Ausnahmezustand bedeuten kann. Die Kunden traten nur zögernd in den Laden. Die Theke war mit rot-weißem Plastikband abgesperrt. Alle Bediensteten trugen Atemmasken. Man konnte das Rezept nicht einfach über die Theke reichen. Es wurde in ein eigens dafür vorgesehenes Kunststoffkörbchen gelegt, und in diesem Körbchen wurden anschließend die gewünschten Medikamente ausgehändigt. Klar, hier geht es auch und vor allem um die Sicherheit des Apothekenpersonals.

Verstorbene werden ohne Trauergesellschaft, allenfalls im kleinsten Familienkreis in die Erde gebettet. „Der Gedenkgottesdienst findet zu einem späteren Zeitpunkt statt.“

Und so fahre ich an den langen Nachmittagen eine Dreiviertelstunde oder eine Stunde auf die Höhen des Mainhardter Waldes oder ins Kochertal, freue mich an den blendend weiß blühenden Schlehdornbüschen und dem satten Grün auf den Feldern, Wiesen und an den Straßenrändern. Auf meiner Fahrt begegne ich nur wenigen Autos. Abends ist Fernsehen angesagt. Immer wieder werden die angekündigten Programme wegen aktueller Nachrichten und Dokumentationen nach hinten verschoben. Aber dann kommt manchmal vielleicht doch etwas, das ablenkt und Freude bereitet und damit dazu verhilft, dass man vergisst und anschließend besser schlafen kann. Mein Gott, wie lange wird der Ausnahmezustand noch anhalten? Wie lange reicht meine Kraft und die vieler Millionen anderer, diese unerhörte Herausforderung zu bestehen.? – Wir werden sie überstehen. Davon bin ich fest überzeugt. Aber fürs Erste brauchen wir noch viel, viel Geduld …

Die Ansprache der Bundeskanzlerin Angela Merkel zur Corona-Krise hat mich sehr beeindruckt. Vergessen ist für diesen Augenblick, dass die Regierungszeit der Kanzlerin einem raschen Ende zustrebt. Sie macht Hoffnung, ohne etwas zu versprechen, was nicht eingehalten werden kann. Zugleich aber fordert und verpflichtet sie jeden einzelnen bis hin zu den Unbelehrbaren und denjenigen, die aus der lebensbedrohlichen Krise ein Happening machen, Corona-Party. Das sind die richtigen Worte zur richtigen Zeit!