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Wir einigten uns auf "Die Gedanken sind frei"
Manchmal braucht es das Gespräch mit einem anderen, um das Besondere am Eigenen zu erkennen. Das ging mir durch den Kopf, als ich vor kurzem mit einem Berliner Imam über religiöse Musik diskutierte. Nach dieser Veranstaltung war mir deutlicher, was mir meine eigene Musiktradition bedeutet.
(Berlin) 11.02.16; Dr. Johann Hinrich Claussen, Portraet, Portrait; Kulturbeauftragter des Rates der EKD, Leiter des EKD-Kulturbueros, evangelischer Theologe Foto: Andreas Schoelzel/EKD-Kultur. Nutzung durch und fuer EKD honorarfreiAndreas Schoelzel
02.06.2023

Es begann damit, dass ich ein bisschen über die Geschichte der Kirchenmusik referierte: wie sie sich entwickelt hat, welche Konflikte sie geprägt haben, worin ihre jeweilige Bedeutung für die unterschiedlichen Konfession liegt. Das fand der Imam interessant. Besonders hellhörig wurde er, als ich von den historischen Konflikten über Ein- und Mehrstimmigkeit, Vokal- oder Instrumentalmusik, über den Einsatz von Orgeln, Trommeln oder Gitarren im Gottesdienst erzählte. Er hatte nicht gedacht, dass wir Christen so intensiv über Musik streiten können.

Für ihn selbst dagegen schien die Sache ganz einfach zu sein. In einem muslimischen Gottesdienst, einer gemeinsamen Gebetszeit in einer Moschee, gibt es keine Musik. Zwar habe der Prophet Mohammed die Musik nicht gehasst oder grundsätzlich verboten. Aber es gebe keinen Hinweis darauf, dass er je selbst gesungen oder musiziert habe, und in seinen Geboten für das gemeinsame Gebet habe er Musik nicht erwähnt, so dass es keinen Sinn mache, jetzt darüber nachzudenken. Denn er wolle den Gottesdienst so halten, wie sein Prophet es vorgegeben habe – ohne gemeinsame Lieder und selbstverständlich ohne Orgel oder Band. Natürlich habe die arabische Koran-Rezitation etwas Musikalisches an sich, aber das solle man nicht mit religiöser Musik im christlichen Sinne verwechseln. Allerdings hätte er ein Gefühl von Vertrautheit gehabt, als er einmal einen syrisch-orthodoxen Gottesdienst besucht und die dort üblichen liturgischen Gesänge gehört hätte.

Ich habe dann versucht, ihn auf eine Gedankenspur zu bringen, die mich besonders interessiert: Man kann in der Geschichte der Kirchenmusik nämlich beobachten, wie Verbote zu überraschenden Innovationen führen. Denn Musik ist wie Wasser – sie sucht sich ihren Weg und findet ihn auch. Wenn sie an einem Ort gestoppt wird, begibt sie sich an einen anderen. Wenn in der Kirche eine bestimmte Musik nicht erlaubt wird, dann entfaltet sie in den Privathäusern, auf Wallfahrten oder Versammlungen unter freiem Himmel. Ob es so etwas auch im Islam gebe? Aber darauf ließ sich mein Gesprächspartner nicht ein. Die mystischen Sufi-Orden jedenfalls waren ihm keine Erwähnung wert.

Schließlich fragte ich ihn, ob er sich vorstellen könnte, dass Christen und Muslime etwas gemeinsam singen könnten. Das fand er durchaus reizvoll. Nur gab er zu bedenken, dass es hier sehr auf die Liedtexte ankäme: Wenn sie moralisch gut seien, dem Einzelnen Orientierung gäben und die Gemeinschaft stabilisierten, dann gern; wenn sie aber moralisch schlecht oder auch nur zweideutig seien, dann bitte nicht. Am Ende unserer Diskussion haben wir auf meine Bitte hin dann doch etwas gemeinsam gesungen, nämlich „Die Gedanken sind frei“. Das war für den Imam zwar ungewohnt, hat ihm aber gut gefallen.

Warum ich diese Geschichte erzähle? Sie hat mir gezeigt, dass das, was ich als normal empfinde, etwas Besonderes ist. Dass der Gottesdienst von Musik erfüllt ist, dass Gott mit Instrumenten gelobt wird, dass beim Singen die Seele getröstet und eine Gemeinde gebildet bildet, dass auch „Laien“, Männer, Frauen und Kinder, in der Kirche musizieren dürfen – ja, sollen –, das verdankt sich einer bestimmten religiösen und kulturellen Prägung. In ihr zeigt sich so etwas wie eine Identität, aber nicht im aggressiv-identitätspolitischen Sinne, sondern als freier Klang. Und dieser tanzt sich nicht einfach nach der Pfeife theologischer oder moralischer Vorgaben, sondern entfaltet sich frei aus sich selbst heraus. Das führt manchmal zu Konflikten, ist aber zugleich ein Zeichen der Freiheit. So hat mir das Gespräch mit diesem sehr aufgeschlossenen und zugewandten, im Letzten aber vielleicht nicht ganz so interessierten Berliner Imam geholfen, das besser zu erfassen, was für mich etwas Wesentliches am eigenen Glauben und der eigenen Glaubenskultur ist.

P.S.: Äthiopien kommt in unseren Medien kaum mehr vor. Das ist bedauerlich. Zum Glück konnte mir Sebastian Brandis in einem Podcast-Gespräch eindrucksvoll über dieses Land, seine Konflikte, Kultur und Menschen, erzählen. Er leitet die Stiftung "Menschen für Menschen" und hat Äthiopien vor kurzem bereist.

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