Ein Mann füllt einen Hartz-IV-Antrag aus.
epd-bild/Norbert Neetz
Stephan Lessenich vom Institut für Soziologie an der Ludwig-Maximilians-Universität München betrachtet die aktuellen Diskussionen über die soziale Sicherung kritisch.
23.11.2018

Nach Auffassung des Soziologen Stephan Lessenich würde mit der Abschaffung der umstrittenen Sanktionen bei Hartz IV das ganze System kippen. Das sei zwingend, "weil die Grundidee von Hartz IV die unbedingte Priorität der Arbeitsaufnahme ist", sagte der Hochschullehrer dem Evangelischen Pressedienst (epd). Zur Frage, ob es ausreiche, Hartz IV zu reformieren oder, wie von den Grünen gefordert, eine Garantiesicherung zu schaffen, sagte Lessenich: "Das kommt darauf an, was man will."

Wenn man einen demokratischen Sozialstaat wolle, "dann ist der Übergang zu einem Grundsicherungssystem, das nicht den Arbeitszwang, sondern soziale Teilhabe in den Vordergrund stellt, sicher der richtige Ansatz. Dann reicht ein Umbau von Hartz IV nicht, dann muss man Hartz IV überwinden", betonte der stellvertretende Direktor des Instituts für Soziologie an der Ludwig-Maximilians-Universität München.

Erwerbslose bei Hartz IV keine gleichberechtigten Partner

Hartz IV sehe Erwerbslose nicht als gleichberechtigte Partner in einem Prozess der Reintegration in Erwerbsarbeit, sondern sie müssten sich als Hilfsabhängige, ja geradezu als Angeklagte fühlen. "Solche Gesetze werden von Leuten gemacht, die selbst keine Arbeitslosigkeitserfahrung haben und sich nicht auf Ämtern gängeln lassen müssen." Das sei vielleicht das Geburtsproblem nicht nur von Hartz IV, sondern vieler sogenannter Sozialgesetze.

Der SPD warf der Wohlfahrtsforscher vor, unter Kanzler Gerhard Schröder mit der Einführung von Hartz IV "dem Niedriglohnsektor in Deutschland durch politische Intervention erst richtig zum Durchbruch verholfen zu haben". Die Sozialdemokratie habe eine lange Tradition des Arbeitsautoritarismus, sagte der Professor: "Zu der ja faktisch nicht falschen Überzeugung, dass in dieser Gesellschaft die Teilhabe an Erwerbsarbeit für die allermeisten Menschen ökonomisch zwingend ist, gesellt sich bei ihr schon lange die durchaus zweifelhafte Ansicht, dass die Menschen auch politisch zum Arbeiten gezwungen werden sollen."

Skepsis bei Garantiesicherung

Doch auch der Plan der Grünen, eine Garantiesicherung einzuführen, stößt bei Lessenich auf Widerspruch: "Weil die soziokulturelle Bedeutung von Erwerbsarbeit nicht von der Hand zu weisen ist, halte ich den Vorschlag der Grünen nicht für der Weisheit letzten Schluss." Ihr Ansatz sei nicht so radikal, die Bedürftigkeitsprüfung für eine Garantiesicherung abschaffen zu wollen, denn auch die Grünen wollten kein bedingungsloses Grundeinkommen einführen.

Dass konservative Kräfte am umstrittenen Hartz-IV-System möglichst nichts ändern wollen, habe auch damit zu tun, dass der für die Firmen wichtige Niedriglohnsektor nicht angetastet werden solle. Aber, so Lessenich: "Im Zweifel sollte man lieber den Arbeitsmarkt als die Menschen beschädigen, denn anders als der Markt sind Menschen nichts Abstraktes."

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