Hunderte Sänger der Regensburger Domspatzen haben ihre Kindheit als "Gefängnis", "Hölle" oder "Konzentrationslager" empfunden. Eine "Kultur des Schweigens" deckte die Gewalt.
18.07.2017

Jahrzehntelang wurden bei den Regensburger Domspatzen Schüler geschlagen und sexuell missbraucht. Rund 500 Sänger wurden Opfer von körperlicher Gewalt, 67 waren von sexueller Gewalt betroffen, wie aus dem Abschlussbericht hervorgeht, der das Ergebnis einer zweijährigen Untersuchung zusammenfasst. Die Betroffenen hätten die Vorschule der Domspatzen in Etterzhausen und Pielenhofen beschrieben als "Gefängnis", "Hölle" oder "Konzentrationslager", sagte der für die Aufklärung zuständige Rechtsanwalt Ulrich Weber am Dienstag in Regensburg: "Viele von ihnen schilderten diese Zeit als die schlimmste ihres Lebens, die geprägt war von Gewalt, Angst und Hilflosigkeit."

Körperliche Gewalt alltäglich

Die physische Gewalt sei alltäglich und vielfach brutal gewesen und habe einen Großteil der Schüler betroffen. Die Übergriffe hätten vor allem in den 1960er und 1970er Jahren stattgefunden. Bis 1992 soll es den Opfern zufolge durchgängig Gewalt gegeben haben. Der Rechtsanwalt vermutet, dass sich nicht alle Opfer bei ihm gemeldet haben. Er geht von weiteren 200 Betroffenen aus, die im Dunkeln geblieben seien.

Insgesamt habe man 49 Beschuldigte ausmachen können, erläuterte Weber. 45 hätten die Kinder misshandelt, neun seien sexuell übergriffig geworden. An den Übergriffen beteiligt haben sich dem 440 Seiten umfassenden Abschlussbericht zufolge Angestellte der drei Institutionen Schule, Chor und Musikerziehung sowie des Internats. Verantwortlich für die Gewalt seien aber in vielen Fällen der Direktor der Vorschule und sein Präfekt gewesen, die über Jahrzehnte die prägenden Personen der Einrichtung waren.

Nahezu alle wussten von Übergriffen

Dass es zu solchen Gewaltexzessen kommen konnte, habe an einer "Kultur des Schweigens" gelegen, sagte Weber. Generell müsse davon ausgegangen werden, dass nahezu alle Verantwortungsträger bei den Domspatzen zumindest ein Halbwissen über die Gewaltvorfälle hatten.

Vorwürfe wurden gegen den heutigen Kardinal Gerhard Ludwig Müller und den ehemaligen Chorleiter Georg Ratzinger erhoben. Müller hatte als Regensburger Bischof bei Bekanntwerden des Skandals 2010 eine Aufarbeitung in die Wege geleitet. Diese Aufarbeitung sei aber mit vielen Schwächen behaftet gewesen, etwa weil man nicht den Dialog mit den Opfern gesucht habe, sagte Weber. Eine klare Verantwortung für die strategischen, organisatorischen und kommunikativen Schwächen müsse deshalb Müller zugeschrieben werden.

Bistum bittet um Entschuldigung

Das Bistum reagierte mit einem Schuldeingeständnis auf den Bericht. "Wir alle haben Fehler gemacht", sagte Generalvikar Michael Fuchs. Er erklärte, dass das Bistum wesentlich früher hätte aktiv werden müssen und bat stellvertretend um Entschuldigung. Fuchs erklärte aber auch, dass sowohl der ehemalige Domkapellmeister Georg Ratzinger, Bruder von Papst Benedikt XVI., als auch Kardinal Müller "großen Anteil an der Aufklärung" nähmen. Ein Treffen mit Opfern hatte Müller aber bislang abgelehnt.

Die Misshandlungsfälle hätten trotz der Vielzahl der Fälle keine strafrechtliche Relevanz mehr, erklärte Weber. Sie seien inzwischen alle verjährt, eine Verfolgung durch die Staatsanwaltschaft erfolge nicht. Gleiches gelte für die Missbrauchsfälle. Nach Bekanntwerden der ersten Fälle im März 2010 sei die Staatsanwaltschaft informiert worden. Zwei Fälle, die sich in den 1960er und 1970er Jahre ereigneten, seien damals noch juristisch von Bedeutung gewesen.

Bisher 450.000 Euro an Opfer gezahlt

Eines der Opfer, Alexander Probst, sagte, obwohl die Aufklärungsarbeit nun bereits sieben Jahre dauere, sei er "tief erschüttert" über die Gesamtzahl der Fälle und das Ausmaß der Gewalt, die nun öffentlich wurde. Er äußerte sich mit den Ergebnissen des Abschlussberichts zufrieden. "Wir haben eine Befriedigung erreicht", sagte Probst.

Anfang des Jahres hatte sich ein Anerkennungsgremium konstituiert, um eine "materielle Anerkennung erlittenen Unrechts" der Opfer zu erzielen, erklärte Barbara Seidenstücker, die im Gremium mitwirkt. Die ersten 50 Fälle seien schon entschieden und eine Gesamtsumme von 450.000 Euro ausgezahlt worden. Sie rechne damit, dass insgesamt bis zu drei Millionen Euro an die Opfer ausgezahlt werden können. Bis Ende des Jahres soll ein Großteil der etwa 300 Anträge bearbeitet sein.