Entschädigung für Opfer von Missbrauch
Entschädigung für Opfer von Missbrauch
CL/photocase
Viele Opfer sexueller Gewalt gehen leer aus
Gewaltopfer haben Anspruch auf Entschädigung, bekommen aber meist keine. Was tun? Fragen an Kerstin Claus vom Betroffenenrat
Tim Wegner
27.02.2019

Kerstin Claus ist Mitglied im Betroffenenrat und dort Fachfrau für Opferentschädigungsrecht. Sie wurde als Jugendliche von einem evangelischen Pfarrer über Jahre sexuell missbraucht. Der Betroffenenrat, der 2015 gegründet wurde, ist angesiedelt beim Unabhängigen Beauftragten für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs.

chrismon: Warum gibt es das Opferentschädigungsgesetz (OEG)?

Kerstin Claus: Der Staat will Menschen entschädigen, die er nicht hinreichend vor Gewalt geschützt hat. Wäre der Schutz da gewesen, wären diese Menschen nicht zu Gewaltopfern geworden. Wenn man die Gewalt schon nicht ungeschehen machen kann, will man den Betroffenen doch dazu verhelfen, dass sie möglichst dahin kommen, wo sie heute ohne Gewalttat stünden, auch beruflich und finanziell. Es geht also nicht um ein Schmerzensgeld, sondern um eine echte Entschädigung. Dazu gehören besondere Gesundheitsleistungen, Therapien, Bildung, auch Renten. Zuständig sind die Versorgungsämter der Bundesländer.

Aber fast niemand bekommt die Opferentschädigung. Nicht mal zehn Prozent der Gewaltopfer beantragen Leistungen, und am Ende bekommen weniger als ein Prozent fortlaufende Geldleistungen. Das hat der Weiße Ring erhoben.

Ja, das Opferentschädigungsrecht ist ziemlich unbekannt, und viele Opfer werden nicht darauf hingewiesen, dass sie einen Antrag stellen könnten. Und wenn sie einen Antrag stellen, scheitern viele daran, dass sie die Tat nicht nachweisen können. Menschen, die sexualisierte Gewalt in Kindheit und Jugend oder auch im Erwachsenenleben erfahren haben, sind eine große Gewaltopfergruppe in Deutschland. Sie eint, dass sie meist keine Tatzeugen haben.

Mir hat eine Betroffene, Opfer von organisiertem Missbrauch, erzählt, sie habe einen Antrag stellen wollen, aber die Sachbearbeiterin sagte: "Wenn Sie die Täter nicht anzeigen, kann ich gar nichts für Sie tun." Warum verlangen die eine Anzeige?

Der Staat will wissen, wer eigentlich schuld ist. Von dem will er das Geld wiederhaben, das er der Betroffenen gibt. Deswegen gibt es den Grundsatz, dass man Täter und Täterinnen nennen muss und dass man sie gegebenenfalls anzeigt.

Kerstin ClausChristine Fenzl

Kerstin Claus

Kerstin Claus ist Mitglied im Betroffenenrat und dort Fachfrau für Opferentschädigungsrecht. Ein evangelischer Pfarrer hat sie als Jugendliche über Jahre sexuell missbraucht. Der Betroffenenrat, der 2015 gegründet wurde, ist angesiedelt beim Unabhängigen Beauftragten für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs.
Tim Wegner

Christine Holch

Chefreporterin Christine Holch mag knifflige Themen und sperrige Menschen. Sie hat für ihre Arbeit diverse Preise bekommen, etwa für die Recherche in der Psychiatrie den DGPPN-Preis für Wissenschaftsjournalismus, für einen Text über zwei Frauen mit schlimmsten Missbrauchserfahrungen wurde sie geehrt vom Journalistinnenbund und vom Weißen Ring; und sie war nominiert, zum Beispiel für den Theodor-Wolff-Preis mit dem Text über ihren Nazi-Opa und seine Zwangsarbeiterin. Ganz früher hat sie Germanistik und Philosophie studiert, Theater auf der Straße gespielt, in Hessen und Thüringen bei der Regionalzeitung HNA volontiert und bei der taz in Bremen und Hamburg gearbeitet.

Aber der Staat kann und muss doch manchmal auf eine Anzeige verzichten!

Ja, es gibt Urteile der Sozialgerichte, dass es in bestimmten Konstellationen unzumutbar sein kann, dass jemand eine Strafanzeige stellen muss. Etwa bei engen familiären Bindungen oder bei organisierter Gewalt oder wenn es seelisch zu belastend wäre. Das ist dezidiert geklärt, es liegt also nicht im Ermessen des Versorgungsamtes. Aber es gibt Versorgungsamtsmitarbeiter, die sagen: Anzeige muss sein! Und es gibt Betroffene, die dann aufgeben. In dem von Ihnen geschilderten Fall kann es also durchaus sein, dass diese Verwaltung tatsächlich versuchte zu verhindern, dass jemand Ansprüche geltend macht.

Dann müsste ich Widerspruch einlegen, vielleicht sogar das Versorgungsamt verklagen?

Ja. Aber ohne Anwältin ist das schwer. Und da sind wir beim nächsten Problem. Es gibt in Deutschland Fachanwaltschaften für alles Mögliche, aber es gibt keinen Fachanwalt für Opferrecht. Das heißt, Sie landen bei Fachanwälten für Sozialrecht, die haben aber häufig keine Ahnung von Opferentschädigung. Ich hatte einen Anwalt für Sozialrecht, der mich auch kannte und ein Interesse hatte, mir zu helfen, aber es hat nicht funktioniert, weil man sich nicht mal eben auf die Schnelle in dieses Rechtsgebiet einarbeiten kann. Im Sozialrecht haben Sie mit ganz anderen Themen zu tun – Hartz IV oder Arbeitsunfälle …

Wie finde ich geeignete Anwälte?

Betroffene tauschen untereinander Adressen aus. Es muss nicht jemand um die Ecke sein, das meiste lässt sich doch per Mail, Telefon, Post regeln. Aber ich schätze, Sie werden nicht mehr als 20 Anwälte, Anwältinnen finden, die tatsächlich vielfältige Erfahrungen im Opferentschädigungsrecht haben und mehrere Verfahren durchgeführt haben. Das ist eine große Krux.

Jetzt habe ich endlich doch eine Anwältin gefunden – und dann dauert das …

Ja, die Verwaltungsverfahren zur Anerkennung nach dem Opferentschädigungsrecht sind unzumutbar. Sie halten die eigentlich nur aus, wenn Sie rundum ein stabiles Umfeld haben und wenn Sie nicht existenziell auf Leistungen angewiesen sind. Also ich sag mal, ich hab den Luxus, ich hab einen Mann, der arbeitet und Geld verdient. Ich konnte es mir auch finanziell leisten, mich mit dem Versorgungsamt zu streiten. Und ich konnte es mir leisten, den Anwalt zu wechseln. Wenn Sie über Prozesskostenhilfe einen Anwalt bekommen, den aber wechseln wollen, weil er keine Ahnung hat, dann müssen Sie die Kosten selbst zahlen. Das sind mehrere Hundert Euro. Es gibt viele Hemmnisse.

Was genau ist "unzumutbar" an diesen Verfahren?

Sie treffen zum Beispiel immer wieder auf Mitarbeiter, die völlig ungeschult sind im Umgang mit traumatisierten Menschen. Das Versorgungsamt verweist Sie für die Prüfung bestimmter Dinge an andere Ämter. Ich hatte das mit der Agentur für Arbeit und mit der Rentenversicherung. Wo landen Sie? Sie landen zum Beispiel in einem Callcenter. Und wenn ich erst in Telefonschleifen hänge und dann wildfremden Menschen, die ich auch kein zweites Mal erwischen werde, erklären muss, warum ich eine Fortsetzung der Psychotherapie brauche, das ist einfach nicht auszuhalten. Denn die Menschen, die einem da gegenübertreten, sind für den Umgang mit Betroffenen sexualisierter Gewalt einfach nicht geschult. Du musst immer stark genug sein, um abzupuffern, dass der andere nicht weiß, wie er mit dir umgehen soll.

Das heißt, die hören "Missbrauch" und sagen "O Gott!".

Entweder das, oder sie sagen: "Aber sie sind doch jetzt schon 50, Sie haben das bisher doch auch hingekriegt ..." Es ist Betroffenen nicht zuzumuten, mit ganz vielen unterschiedlichen Menschen über diese massiven Gewalterfahrungen in Kindheit und Jugend zu sprechen. Es ist eben keine einfache Gewalttat, es ist kein Einmal-Trauma – ich bin überfallen worden in meinem Kiosk – , sondern sie sind einem massiven Gewaltsystem über Jahre ausgesetzt gewesen. Und darüber immer wieder sprechen zu müssen, ist eben oft retraumatisierend.

Es bräuchte Lotsen, die Betroffene durch das OEG-Verfahren führen.

Ja. Aber es gibt niemanden, der es als Auftrag annimmt, ihnen bestmöglich, zielgerichtet, schnell und aus einer Hand zu helfen, so dass ihr Leben wieder eine Perspektive bekommt. Betroffene ziehen da immer wieder den Kürzeren.

Nun wurde ja extra der Fonds sexueller Missbrauch geschaffen, um wenigstens kurzfristige Linderung zu erreichen…

Aber anstatt kurzfristig und zeitnah dauert es zwei Jahre, bis man überhaupt erstmals eine Antwort auf einen Antrag bekommt. Die Betroffenen sexualisierter Gewalt werden gesellschaftlich im Regen stehen gelassen.

Was raten Sie? OEG-Antrag: ja oder nein?

Ich kann niemandem uneingeschränkt sagen: Setz dich einem OEG-Verfahren aus. Überhaupt nicht empfehlen kann ich, dass jemand das alleine macht und Stunde um Stunde nachts vor dem Computer sitzt und googelt. Da geht man unter. Ich kann aber sagen: Wenn man gute anwaltliche Begleitung hat, wenn man geeignete Begleitung über eine Fachberatungsstelle oder Selbsthilfeorganisation hat, wenn man also die Chance hat, das Verfahren auch loszulassen, weil man es in die Hände von jemandem legen kann, und wenn man noch dazu weiß, dass das alles dauert, dann lohnt sich ein OEG-Antrag. Weil das Opferentschädigungsrecht tatsächlich geeignet ist, dass man Zukunftsperspektiven entwickeln kann, dass man Lebensdinge nachholen kann, die einem aufgrund der Biografie verwehrt waren, zum Beispiel einen Schulabschluss, eine Berufsausbildung. Das ist weit mehr als die Grundrente, über die immer geredet wird. Dieses biografisch-individuelle Nachholenkönnen – das ist immens wichtig.

Angenommen, ich habe es geschafft, dass ich keine Anzeige erstatten muss, um Opferentschädigung zu beantragen – dann stehe ich vor der nächsten Hürde: Ich muss dem Versorgungsamt beweisen, dass mir Gewalt angetan wurde. Aber wenn ich keine Beweise habe und keine Zeugen?

Es gibt Beweiserleichterungen für Gewaltopfer: Wenn ich nicht daran schuld bin, dass keine Unterlagen zur Tat vorliegen, dann genügt es, dass es glaubhaft erscheint, was ich sage. Und die Versorgungsverwaltung müsste einen gleich darauf hinweisen. Aber viele in den Ämtern beraten anders: "Die Taten lassen sich ja kaum beweisen, ich kann Ihnen nicht empfehlen, einen Antrag zu stellen…" Das heißt: Wir reden auch hier von einer mindestens zwei Jahre dauernden juristischen Auseinandersetzung, bis Sie als Betroffene tatsächlich von dieser Beweiserleichterung profitieren.

Kann ich auch anders belegen, dass ich zum Opfer geworden bin?

Ich rate Betroffenen, digitale Medien zu nutzen, um eine direkte oder indirekte Bestätigung für Vorgefallenes zu bekommen. Wenn man einen Täter in einen Whatsapp-Chat verwickelt und in diesem Chat – natürlich nicht in der ersten Nachricht, sondern schrittweise – solche Dinge einfließen lässt, die unwidersprochen bleiben, dann sind das starke Indizien. Ich selbst habe einzig und allein eine Chance zum Nachweis gehabt, weil ich diesen Pfarrer, der mich missbraucht hatte, 2003 in einen E-Mail-Wechsel verstrickt habe und mich als klein und bedürftig gegeben habe: Du, großer Meister, erkläre mir, was war das damals eigentlich? Ich tat auch so, als hätte ich noch irgendwelche Briefe. Mit seinen Antwortmails waren dann zwar die Taten nicht im Detail belegt, aber es war belegt, dass es ein Missbrauchssystem war. Wenn ich ein, zwei, drei dieser Indizien sammeln kann, vielleicht auch über die Schülerakte, weil da irgendwas über physische Gewalt verzeichnet ist, dann ist das total hilfreich. Ich kann jedem nur empfehlen, sich von jemandem begleiten zu lassen, der oder die in der Lage ist, sehr strategisch zu denken.

Wenn ich keinerlei Belege auftreiben kann – glaubt man Missbrauchsopfern, was sie berichten über die Taten?

Betroffene werden beispielsweise von der Beweiserleichterung ausgeschlossen, weil sie unter der Gewalt eine Persönlichkeitsspaltung entwickelt haben, eine dissoziative Identitätsstörung. Dann wird generell bezweifelt, dass ein Antragsteller überhaupt authentische Angaben machen kann.

Aber man weiß doch, dass die Persönlichkeitsspaltung eine typische Folge von schlimmster Gewalt ist und nicht Folge davon, dass es zu Hause nie Nachtisch gab!

Ja, das weiß die Traumapsychologie, aber diese Expertise wird immer noch nicht gehört. Es sind Psychiater, die definieren, was eine Gesundheitsstörung ist. Und Psychiater forschen nicht zu Traumafolgestörungen, das machen Psychologen. Es gibt einen großen Kenntnisstand der Traumaforschung, aber dieses Wissen erreicht die Psychiater nur schwer. Deshalb gibt es auch keine allgemein anerkannte Liste darüber, welche Störungen regelmäßig typische Folgen eines Traumas sind. Das macht große Probleme in den OEG-Verfahren.

Stimmt es, dass es von Nachteil ist, eine Psychotherapie gemacht zu haben?

Ja. Weil viele Gutachter meinen, dass das, woran Sie sich erinnern, auch eine durch die Therapie erzeugte "Erinnerung" sein könnte. Damit wird jede Erinnerung diskreditiert, die jemand erstmals in der Therapie berichtet. Als okay gelten nur Therapien, die der reinen Stabilisierung dienten und nicht der Aufarbeitung.

Eigentlich müssten die Versorgungsämter doch möglichst vielen Opfern helfen wollen, denn so will es das Gesetz. Stattdessen scheinen viele Ämter das Ziel zu haben, es den Opfern so schwer wie möglich zu machen.

Aus Angst, jemand könnte zu Unrecht staatliche Hilfen bekommen, wird lieber in Kauf genommen, dass so viele Betroffene ohne Hilfen bleiben. Das ist unerträglich. Dabei gibt es Studien über Falschbeschuldigungen, also dazu, wie viele Leute zu Unrecht behaupten, sie seien missbraucht oder vergewaltigt worden. Man geht in Deutschland von sehr wenigen, unter fünf Prozent aus. Und wegen dieses geringen Risikos, dass jemand zu Unrecht unterstützt wird, wird es allen anderen so schwer wie möglich gemacht, Entschädigung zu bekommen.

Jetzt hat das Bundesministerium für Arbeit und Soziales endlich einen Entwurf für ein reformiertes Opferentschädigungsgesetz vorgelegt. Sind Sie zufrieden?

Nein. Für Betroffene sexualisierter Gewalt bleibt es so schwer wie bisher, Entschädigung zu bekommen. Für all die Probleme, über die wir hier geredet haben, hat das Ministerium keine Lösungen präsentiert. Die Verwaltungen werden genauso restriktiv und sperrig im Umgang mit Betroffenen bleiben. Das heißt, es wird wieder alles gerichtlich geklärt werden müssen.

Im Koalitionsvertrag steht eigentlich, dass sich die Lage der Betroffenen von sexualisierter Gewalt verbessern soll…

Das wurde nicht erreicht, im Gegenteil: Man schränkt einfach das Leistungsspektrum ein, auch damit die Verwaltung es einfacher hat. Aber das Problem mit dem bisher geltenden Gesetz war nie das Leistungsspektrum. Das Problem ist, dass Menschen nicht an die Hilfen kommen, die ihnen zustehen, und das liegt an der Verwaltung und ihren Strukturen.

Hat das Ministerium denn nicht Expertinnen und Experten von außen gefragt, etwa vom Betroffenenrat?

Viel zu wenig. Es gab keine kontinuierliche Einbeziehung. Und das merkt man. Beim Bundesteilhabegesetz, wo es um Menschen mit Behinderungen geht, hat das Ministerium viel mehr Expertise von außen abgefragt. Hier nicht. Man hätte zum Beispiel Fachleute vom Weißen Ring, vom Betroffenenrat, von den Fachberatungsstellen und den Unabhängigen Beauftragten für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs einbeziehen können. Wenn Sie nur im inneren Kosmos eines Ministeriums arbeiten und vor allem Kontakt mit den Versorgungsämtern haben, dann kriegen Sie natürlich immer das Gleiche zu hören: Das ist von uns nicht zu leisten, das ist zu komplex, wir müssen diesen alten Zopf abschneiden. Wenn Sie das oft genug hören, ist das Ihre Motivation zu handeln. Dann sind nicht die Betroffenen Ihre Motivation. Dabei ist bekannt, dass die Missbrauchsbetroffenen hier in Deutschland eine sehr Gewaltopfergruppe sind.

Was ist das Schlechteste an dem Gesetzesentwurf?

Dass man sich künftig nicht mehr jedes Gewaltopfer individuell anschauen will: Wo wäre dieser Mensch, hätte sich die Gewalttat nicht ereignet? Danach werden bislang die Hilfen ausgerichtet. Entschädigung ist was Individuelles, weil jeder andere Dinge verliert durch eine Gewalttat, das lässt sich nicht pauschal beziffern. Das Leistungsspektrum des bisherigen Opferentschädigungsrechts ist sehr gut, nur kommen Betroffene nicht ran. Das neue Gesetz bessert nichts an diesen Problemen, kürzt aber das Leistungsspektrum. Vor allem will man die Individualisierung weitgehend aufgeben, man will die Betroffenen auf die üblichen sozialen Sicherungssysteme verwiesen.

Also auf normale Reha-Maßnahmen?

Ja. Aber denken Sie an Menschen, die über Jahre sexualisierte Gewalt erfahren haben, die nach der neunten Klasse von der Schule abgegangen sind, die keine Berufsausbildung durchstehen konnten, die gebrochene Erwerbsbiografien ohne Ende haben? Wenn zu erwarten gewesen wäre, dass Sie Abitur machen, können Sie nach bisherigem Recht auch mit 40 noch Abitur machen oder ein Hochschulstudium nachholen. Weil es dieses "Hätte-Konstrukt" gibt: Welchen Beruf hätte ich erreicht ohne die Gewalttat? Und auf diese höchst individuelle Art und Weise können Sie sich dann eine eigene Zukunftsperspektive aufbauen.

Die Betroffenen sind ja oft jüngere Menschen – die könnten noch was werden!

Genau. Und die Entschädigung ist auch volkswirtschaftlich sinnvoll. Was hilft es denn, wenn die Menschen von Hartz IV oder einer minimalen Erwerbsunfähigkeitsrente leben? Die meisten wollen sich nicht in einer Hängematte ausruhen. Wenn ich mir anschaue, dass in Deutschland Millionen Menschen leben, die in Kindheit und Jugend von sexualisierter Gewalt betroffen sind oder waren … Da haben Sie Menschen, die würden darüber vielleicht nie reden, haben aber eine Suchterkrankung, die eine Folge der Gewalt ist, oder sie kriegen in ihrer eigenen Familie keine Stabilität hin. Diese Menschen wollen keine Daueralimentierung! Sie wollen Hilfe zur Selbsthilfe. Sie wollen Zukunftschancen. Davon profitiert der Einzelne, am Ende aber auch wieder der Staat.

Sie betonen die Zukunft – es geht also um mehr als eine rein finanzielle Absicherung?

Genau. Aber finanzielle Sicherheit ist die Grundlage, um überhaupt die Kraft zu haben, zum Beispiel an eine Ausbildung zu denken. Dafür setzt sich der Betroffenenrat ein. Mit Glück bleibt dann, dass ich betroffen war von einer bestimmten Gewaltform – aber dass ich heute kein Opfer mehr bin, weil ich nicht nur überlebe, sondern mich unabhängig von den Gewalttaten weiterentwickeln kann. Diesen Perspektivwechsel brauchen Gewaltopfer – und dafür muss Entschädigung stehen.


 

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