Lena Uphoff
15.11.2010

Einer der Ersten, die mir den Status des Experten zuerkannten, war ein Oberstudienrat, der mich in Latein unterrichtete. "Expertus" ist lateinisch und heißt deutsch "erfahren" oder "erprobt". Bei der Rückgabe der Klassenarbeiten würdigte er den Fleiß meiner Klassenkameradin Silke: "Das Mädel hat diesmal eine Drei geschrieben. Die hat sich echt auf den Hosenboden gesetzt und Vokabeln gebüffelt, Respekt." Dann lobte er den aufrechten Widerstand meines Nebensitzers Michi: "Michi weiß nix, kann nix, will nix. Und er versucht nicht einmal zu schummeln. Er hat ein leeres Blatt abgegeben. Eine glatte Sechs. Das nenne ich Konsequenz."

Und dann kam der Mann auf mich zu sprechen: "Wir haben da einen Experten. Keine Ahnung von Latein, aber es hat leider wieder zu einer Vier minus gereicht. Der Arnd weiß in jeder Zeile ein Wort, den Rest fantasiert er zusammen und schreibt es in flüssigem Stil auf. Und dann macht er bei den historischen Zusatzfragen noch ein paar Punkte. Freundchen, dich erwische ich noch! "

Experten: Ein Quäntchen Ahnung, eine ordentliche Dosis Fantasie

Wenn ich von der finalen Drohung absehe, muss ich zugeben: Der genervte Altphilologe hatte an meinem Beispiel tatsächlich ziemlich präzise die Grundausstattung des Experten beschrieben. Diese in den Medien allgegenwärtige Spezies bedarf keineswegs eines absoluten Fachwissens. Ein Quäntchen Ahnung, eine ordentliche Dosis Fantasie, vor allem aber ein flüssiger, selbstbewusster Vortrag - das sind die wichtigsten Attribute des modernen Experten. Und viele von ihnen nennen sich Journalisten. Wie ich.

Jemand, der sich wie mein Lehrer tief in die absoluten Ablative bohrt, der weiß, was einen Akkusativ mit einem Infinitiv verbindet, dem ist das freundlich Ungefähre und Dreiviertelsgenaue der alltäglichen Kommunikation ein Gräuel. Theologen, die dreibändige Standardwerke über die Fußwaschung Christi geschrieben haben, können nicht verstehen, wenn Medienleute versuchen, den Inhalt ihres Werkes knapp und klar auf 40 Zeilen Länge wiederzugeben. Neurochirurgen, Nanophysiker, Staatsrechtler, Meteorologen, Polizeipsychologen nehmen es gequält hin, wenn gemeine Journalisten ihr Tun der breiten Öffentlichkeit erklären wollen. Lediglich die sogenannten "Fachjournalisten", die in "Fachmagazinen" für ein "Fachpublikum" publizieren, finden Gnade in ihren Augen.

Ohne die "Experten" keine Publicity

Andererseits wissen die tatsächlichen Fachleute, dass es ohne die "Experten" in den Medien keine Publicity und ohne Publicity keine Breitenwirkung für ihre Thesen, Erkenntnisse, Theorien und Taten geben würde. Es geht ihnen ganz ähnlich wie den Helden der Antike oder der keltischen Sagenwelt. Was wäre Achilles ohne Homer? Was wären Artus, Lancelot und Gawain gewesen ohne die Barden und Troubadoure in den Hütten und Burgen? Niemand würde sie kennen. Und niemand hätte den Erzählern ihrer Geschichten zugehört, wenn sie pedantisch und penibel Landschaft, Ausrüstung und Schwertherstellung beschrieben hätten.

Den Experten in den Medien wird von alters her eine andere Qualifikation abverlangt als Detailgenauigkeit. Sie müssen vereinfachen, ohne zu verfälschen, Verständnis und Neugier wecken, ohne zu überfordern, der Wahrheit mit den Augen ihres Publikums nahekommen. Und das alles, ohne selbst Nuklearmediziner, Quantenphysiker, Ballistiker oder Sportwissenschaftler zu sein. Journalisten sind Übersetzer.

Es steht ihnen dabei gut zu Gesicht, bescheiden zu bleiben. Sie wissen, dass ihren Texten wie allem Verständlichen eine gewisse Vorläufigkeit anhaftet. Nicht anders verhielt es sich mit meinen Latein-Arbeiten. Dass ich zu wenig Vokabeln gebüffelt hatte, war mir durchaus vorzuwerfen. Flüssigen Stil als versuchten Betrug zu qualifizieren, hielt ich schon damals für Unsinn.

Michi blieb konsequent und wurde ein weithin geschätzter Goldschmied. Silke spielt Bratsche in einem Sinfonieorchester. Und Latein ist eine wunderbare Sprache.

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