Lena Uphoff
15.11.2010

Neulich saß ich mal wieder im Wartezimmer einer Arztpraxis. Wie fast immer war ich auch dieses Mal nicht darauf vorbereitet, dort längere Zeit zuzubringen. Ich hatte weder ein Buch bei mir noch ein Sudokuheft. Und die Tageszeitung hatte ich bereits durch. Lustlos wühlte ich in der Lektüre, die auf dem kleinen Tischchen in der Mitte des Raumes aufgehäuft lag. Die Ausgaben der politischen Montagsmedien stammten aus vergangenen Zeiten. Das erkannte ich an den Titelbildern und am abgegriffenen Zustand der Hefte. Nichts für mich dabei.

Die Modewelt ist nicht meine. Wenn sich Menschen über Stunden oder viele Hochglanzseiten darüber ereifern, was man im nächsten Frühjahr tragen sollte, bleibe ich staunend außen vor. Auch die Modemagazine ließ ich liegen. Sport- und Kulturzeitschriften waren im Sinne des Wortes bereits vergriffen. In der Not nahm ich mir eine Lifestyleillustrierte.

Fünfmal in der Woche zum Steppen, Radeln, Rudern und an den "Butterfly"

Schon das sogenannte Editorial hatte es in sich. Die Chefredakteurin erklärte mir mit religiösem Ernst, wie sie zur Fitness- und Wellnessbewegung gefunden hatte: "Früher verbrachte ich die Winterabende am liebsten mit einem guten Buch und einem Glas Wein auf der Couch oder sah mir einen Film im Fernsehen an. Hätte mir jemand vorgeschlagen, ein Fitnessstudio aufzusuchen, hätte ich nur abgewunken: Bedaure, das ist mir viel zu anstrengend." Durch einen puren Zufall verschlug es sie schließlich doch in eine Muckibude. "Die Vielfalt der Geräte begeisterte mich. Und meine Angst vor körperlicher Anstrengung verschwand in kürzester Zeit." Nun geht die gute Frau fünfmal in der Woche zum Steppen, Radeln, Rudern und an den "Butterfly".

Drei Seiten weiter wurde mir der typische Sonntag einer "fitten Familie" präsentiert. Um 8.30 Uhr, noch vor dem Frühstück, wird fröhlich gejoggt. Nach Fruchtsäften und mageren Geflügelhäppchen wird ein wenig Gymnastik getrieben. Um die Mittagszeit spielt man gemeinsam Ball. Um 17 Uhr steht Krafttraining auf dem Programm, es folgt der Saunagang. "Nach einem solch intensiven Sonntag kann die Woche nur schön werden. Wenn wir fit sind, kann uns kein Problem wirklich etwas anhaben. Wir sind elastisch, ausdauernd und belastbar."

Was war ich froh, dass ich nichts zu lesen mitgebracht hatte. Mir wäre diese Offenbarung glatt entgangen. Dankbar begann ich, über das Gelesene nachzudenken. Und sehr schnell ergriff mich ein tiefes Gefühl der Scham. Traurig, traurig. Aber ich mag es nicht länger verschweigen.

Lesen, auch im Sommer, im Herbst und sogar im Frühling.

Ich bekenne: Ich bin eines jener verkommenen Subjekte, die gegen alle Vernunft am Lesen von Büchern festhalten. Und zwar nicht nur an langen Winterabenden, nein, noch schlimmer: auch im Sommer, im Herbst und sogar im Frühling. Ich gebe zu, dass es mir Freude macht, einen spannenden Film zu sehen und dabei ein Gläschen Rotwein zu trinken. Ich räume zerknirscht ein, dass ich Fitnesstempel meide. Zwar bewege ich mich gerne sportlich, am liebsten aber unter freiem Himmel.

Am meisten beelendet mich aber, wie meine Sonntage aussehen, wenn ich sie mit dem typischen Ablauf dieses Tages in der fitten Familie vergleiche. Ich vergeude diesen Tag damit, auszuschlafen, einen Gottesdienst zu besuchen, Ausflüge mit meiner Frau zu unternehmen, ins Theater oder ins Kino zu gehen, zu relaxen oder am PC zu daddeln. Ein, zwei Stündchen Sport können auch dabei sein - müssen aber nicht.

Nun muss ich allerdings einräumen, dass mir nach einem solchen als schön empfundenen Sonntag Probleme leider immer noch etwas anhaben können, obwohl ich mich elastisch und entspannt fühle. Ich ahne, warum: Ich glaube nicht an Zaubertränke, an Zaubersprüche und auch nicht an die religiöse Wirkung von Fitnessritualen und anderen Bußübungen. Und ich bin leider auch davon überzeugt, dass weder die "fitte Familie" noch die Kollegin Chefredakteurin selbst daran glauben. Sie wollen, wie alle Ablassprediger, einfach etwas verkaufen. Wenn der Taler im Kasten klingt, die Seele in den Himmel springt ...

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