Nein: Ab und zu tut es richtig gut, die Beherrschung zu verlieren.
15.11.2010

Als Teenager rang ich auf der Kirchenempore oft verzweifelt um Fassung, wenn der Pfarrer einen Satz begann mit "Und Jesus sprach zu seinen Jüngern..." Leider, leider fiel mir dann immer die bei uns populäre Fortsetzung ein: "... wenn ihr keine Gabel habt, dann esst halt mit den Fingern." Ziemlich albern, ich weiß. Geprustet habe ich trotzdem ­ so lange, bis meine Mutter zischend "Contenance!" einforderte. Herrlich: Man sieht die strenge Miene förmlich vor sich, mit der Selbstbeherrschung verlangt ist ­ und lacht erst recht. Jedenfalls bin ich wegen ungebrochener Heiterkeit nicht aus der Kirche, aber ein paar Mal aus dem Unterricht in meiner Mädchenschule geflogen.

Der Ruf nach Contenance

Der Ruf nach Contenance, ein Wort wie aus einem Roman von Thomas Mann, bewirkt nur manchmal, dass man Haltung bewahrt, obwohl einem nach ganz anderem zumute ist. Danach zum Beispiel, mit Tellern zu werfen oder aus Leibeskräften zu schreien.

Trotzdem: Sich selber zu beherrschen ist eine zivilisatorische Leistung ­ wo kämen wir hin, wenn jeder allen Gefühlen zu jeder Zeit freien Lauf ließe? Das Miteinander in Familien, am Arbeitsplatz und im Freundeskreis geriete völlig aus den Fugen, schlüge der eine immer wieder mit der Faust auf den Tisch, und bräche die andere regelmäßig bei einer Beerdigung in herzhaftes Lachen aus. Es ist schon sinnvoll, sich selbst zu beherrschen, statt bei jeder Gelegenheit die Kontrolle zu verlieren. Außerdem muss man sich fragen, wie viel man anderen von sich selbst preisgeben möchte. Es müssen doch nicht alle wissen, dass einem der kalte Schweiß ausbricht, wenn die neue Chefin durch die Tür tritt. Genauso wenig hat es andere zu kümmern, wie sehr einem der heftige Streit mit der Partnerin am Morgen noch nachgeht.

Selbstbeherrschung dient einem geordneten Zusammenleben. Aber permanente "Contenance" kann einen Menschen kaputtmachen. Denn alles, was nach Reaktion schreit, wird so nach innen gewendet und hat dort keinen wirklichen Raum. Man kann krank werden von dem Zwang, sich ständig im Griff zu haben, statt die Seele ordentlich auszulüften. Warum soll der Mensch, der einen alle naselang am Telefon mit dem größten Unsinn behelligt, nicht mal mitkriegen, dass er einen nervt? Wer sagt, dass man sich die Geschichten von den wechselnden Amouren der Freundin stundenlang anhören muss, ohne ihr irgendwann mitzuteilen zu dürfen, dass es einem jetzt reicht?

Man kann ruhig mal vor Wut an den Türrahmen treten

Wer krank ist, wen die Gefahr für das eigene Leben aus der Kurve getragen hat, der weiß zumeist, was er sich bislang alles an Gefühlsausbrüchen verkniffen hat. Sprüche wie "Kopf hoch!" oder "Das wird schon wieder!" sind dann oft die Versuche der Mitmenschen, jemanden an die gewohnte Selbstbeherrschung zu erinnern und damit zu disziplinieren. Bloß nicht mitbekommen müssen, wie es dem anderen geht! Das könnte einen ja belasten und dazu nötigen, auf Gefühle von Trauer und Schmerz zu reagieren. Es wäre ganz verkehrt, sich dem Selbstschutz anderer zu unterwerfen. Man kann ruhig mal vor Wut und Verzweiflung an den Türrahmen treten, wenn einen Panik erfasst, weil es einem so hundsmiserabel geht. Mag sein, dass das die Umwelt erschreckt ­ aber irgendwann ist es fällig, Dampf abzulassen, wenn man unter einem riesigen Druck steht.

Viel besser, als von dauernd unterdrückten Gefühlen irgendwann krank zu werden, ist es, ihnen rechtzeitig richtig Platz zu schaffen. Es gibt keinen Zwang zu lächeln, wenn einem zum Heulen zumute ist. Oder lieblich zu säuseln, wenn man vor Wut platzen könnte. Allerdings muss man nicht jeden in vollem Umfang an der eigenen Stimmung teilhaben lassen. Zu heilsamer Selbstbeherrschung gehört es zu spüren, wann man wie viel herauslassen kann. Es ist nicht angenehm, hinterher zu bereuen, dass man viel zu viel von sich gezeigt, sich anderen damit ausgeliefert hat.

Die Fassung richtig zu verlieren, das geht am ehesten bei den Menschen, mit denen man vertraut ist und denen man selbst Vertrauen schenkt. Die eigene Flugangst braucht man nicht in der Welt herumzuposaunen ­ es reicht, wenn man sich unauffällig am Ehemann festhalten darf. Wirklich herzzerreißend heulen, das ist am schönsten bei der besten Freundin oder dem eigenen Partner. Übrigens: Lustvolle Zärtlichkeit, wilde Leidenschaft, Ekstase ­ das ist alles ein Verlust von Contenance. Berühmte Philosophen wie Hegel haben wunderbar beschrieben, wie großartig es ist, so ganz und gar aus sich heraus und im anderen aufzugehen. Auch unsereins kann mit Haut und Haaren merken, wie herrlich es ist, "zum Glück" immer wieder mal die Beherrschung zu verlieren.

Das meinen Leserinnen und Leser

Ich finde, dass man auch einmal ausrasten darf und sollte! Aber nicht permanent. Im Umgang mit Freunden sollte es nicht s0 weit kommen oder zumindest selten, denn da gibt es vorher schon die Möglichkeit, störende Dinge zu besprechen.

Ronald M. Filkas,

52 Jahre, Frankfurt am Main

Ja ­ weil ich von der Gesellschaft sonst argwöhnisch und abwertend betrachtet werde, weil mein Chef sowieso am längeren Hebel sitzt, weil die Familie nichts dafür kann, etc. etc.

Nein ­ weil es mich einsperrt, mich erdrückt, mich auffrisst. Ich kann alle nur ermutigen, mal Dampf abzulassen. Es tut gut!

Kerstin Sturm,

34 Jahre, Großröhrsdorf

Selbstbeherrschung sollte sein, schon aus Rücksicht auf den jeweiligen Gesprächspartner.

Man erhält, was man gibt. Ausrasten, brüllen ist in Ordnung; anbrüllen oder handgreiflich werden, nicht. Schon gar nicht bei vertrauten Menschen, die ja oft eh weniger sorgfältig behandelt werden.

Christopher Stewens,

37 Jahre, Landshut

Lieber einmal platzen, als alles unter den Teppich zu kehren. Womöglich verlernt man sonst, sich am Leben zu beteiligen.

Elke Dahlmann,

42 Jahre, Saarwellingen

Es ist allemal besser, bei Problemen und nervlichem Druck Hilfe zu suchen. Bei Freunden, Verwandten, der Familie. Reden, das Herz ausschütten ­ ein gutes Mittel, den Druck abzubauen und das große Ausrasten zu verhindern.

Uwe Maruhn,

42 Jahre, Görlitz

Mit meinen 52 Jahren bin ich meinen Emotionen gegenüber immer noch machtlos und kann mein Leben nicht meistern. Meine Erfahrung sieht so aus: "Gott, gebe mir die Gelassenheit, die Dinge anzunehmen, die ich nicht ändern kann, den Mut, die Dinge zu ändern, die ich ändern kann, und die Weisheit, das eine vom anderen zu unterscheiden!"

Hans-Christian Arlt,

52 Jahre, Potsdam

Wenn mich etwas aufregt (vor allem Dummheit), raste ich aus, brülle herum. Allerdings habe ich festgestellt, dass danach bei mir alles vergessen und vergeben ist, während andere (die coolen Typen) noch nach Jahren nachtragend sind.

Gerhard Rosenberg,

77 Jahre, Berlin

 

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