Aber bitte! Toleranz hat noch keinem geschadet!
15.11.2010

Gerade haben wir uns im Restaurant an den Tisch gesetzt, freuen uns auf eine Kürbiscremesuppe und gebratenen Fisch. Ein entspanntes Essen? Mitnichten! Ein Geschwisterpaar galoppiert zwischen den Tischen umher. Die Kleinen sind niedlich anzusehen ­ das Mädchen mit Rastazöpfchen, der Junge in grauer Hose und gelbem Hemdchen. Sie bekämpfen ihre Langeweile mit fröhlichen Hetzjagden quer durchs Lokal. Es ist ja auch wirklich öde abzuwarten, bis die Eltern fertig gegessen haben. Trotzdem, bei allem Verständnis ­ irgendwie stört uns das muntere Gerenne um die Tische. Wir hatten gehofft, ausnahmsweise einmal Muße zum Essen zu haben. Was tun? Abwarten, bis Vater oder Mutter die Kinder zu sich rufen? Das kann dauern. Sie kennen ihre Kinder nicht anders. Außerdem essen sie gerade selbst und freuen sich über ungestörte Minuten.

Warum also nicht mit dem Kind selber reden?

Fremde Menschen anzusprechen, damit sie ihre Kinder zur Räson rufen, ist schwierig und meist auch überflüssig. Eltern sind dünnhäutig, wenn jemand ihren Nachwuchs kritisiert. Ihr Beschützerinstinkt regt sich und sie denken, das Herummäkeln an den Kleinen sei ein Angriff auf die eigenen pädagogischen Fähigkeiten. Warum also nicht mit dem Kind selber reden? Ziemlich oft hat man Erfolg damit, wenn man Frederik oder Lara freundlich ermahnt: "Du, ich bin hundemüde. Es wäre schön, wenn ich jetzt in Ruhe hier sitzen und essen könnte." Kann schon sein, dass man sich mal wiederholen und noch etwas deutlicher werden muss. Aber wenn ein Kind merkt, dass es als Gegenüber ernst genommen wird, dann respektiert es umgekehrt Erwachsene mit ihren Bedürfnissen.

Kinder wollen außerdem wissen, was passiert, wenn sie eines tun und anderes lassen. Man kann Anton sagen, dass es wehtut, wenn er einen an den Haaren zieht. Oder Pauline erklären, dass man es gar nicht witzig findet, wenn sie CDs aus dem Regal räumt. Eltern, die man gut kennt, sind manchmal froh darüber, dass man ihren Kindern gleich selbst klipp und klar sagt, was los ist ­ und sie in dem unterstützt, was sie ihren Söhnen und Töchtern beibringen möchten. Auf keinen Fall soll man Kinder zusammenstauchen, weil sie dürfen, was einem früher verboten war ­ nach dem Motto: "Was ich nicht durfte, das sollst du auch nicht dürfen!" Solch später Neid wäre ein kleinlicher Ratgeber. Man kann allerdings auch erleben, dass Eltern gerade deshalb ihren Kindern unbegrenzte Möglichkeiten eröffnen, weil sie selbst rigide erzogen wurden. Sohn und Tochter können so, ohne es zu wollen, zu Nervensägen werden, die beständig um Aufmerksamkeit buhlen (müssen); die darum werben, dass man auf ihr Verhalten eingeht und ihnen ­ liebevoll! ­ zeigt und sagt, was sie damit bewirken. Man sollte unbedingt sowohl Kindern von Freunden als auch denen von Fremden seine eigenen Gefühle und Wünsche klarmachen.

Man muss aber genau darauf achten, ob hinter dem, womit Kinder einen herausfordern, nicht ein trauriger Hilferuf steckt. In Deutschland haben Kinderarmut und mit ihr die körperlichen und seelischen Nöte von Jungen und Mädchen in den letzten Jahren stark zugenommen. Es kann sein, dass man sich einen Ruck geben und mit Eltern darüber sprechen muss, was bei ihnen zu Hause los ist. Die Reaktion darauf ist ungewiss: Zusammen mit einer anderen Hausbewohnerin klingelte ich vor Jahren bei einer Familie, deren Kind seit Wochen nächtelang erbärmlich schrie. Wir haben gemeinsam unsere Sorge um das Mädchen ausgedrückt, angeboten, jederzeit als Babysitter auszuhelfen und überhaupt nach Kräften anzupacken, wo immer es nötig wäre. Der Vater schlug uns nach wenigen Minuten wütend die Tür vor der Nase zu.

"Manchmal hat ein Kind nur einen einzigen Menschen, der ihm das Leben rettet. Vielen Dank."

Für mich blieb nur der besorgte ­- und etwas ängstliche -­ Gang zum Jugendamt. Dort hat man mich nach einem halben Jahr zu einem neuen Gespräch gebeten. Die Familie wohnte inzwischen nicht mehr im Haus. Der entscheidende Satz, der sich mir in die Seele gebrannt hat, lautete: "Manchmal hat ein Kind nur einen einzigen Menschen, der ihm das Leben rettet. Vielen Dank." Mehr habe ich nie erfahren.

Kinder sind direkt und aufrichtig ­ auch in den Signalen, die sie aussenden. Erwachsene sollten genauso wenig heucheln und verdrängen, sondern eigenen und fremden Kindern gegenüber aufrichtig reagieren. Man sollte ihnen sensibel begegnen, mit Klarheit und Wahrheit.

Und mal abgesehen von aller nötigen Toleranz: Ist es nicht wunderbar, dem vierjährigen Jan zuzuhören, wenn er beim Kicken im Garten begeistert über sein erstes Tor kreischt, auch wenn sein Jubel den Spielfilm übertönt? Ist es nicht süß, wie die zweijährige Luisa mit beiden Füßen durch die Pfütze patscht (was man, ganz ehrlich, selber gerne mal wieder tun würde) ­ selbst wenn sie einem dabei Matschflecken auf die Hose verpasst? Im Notfall kann man Fenster schließen und Kleidung in die Waschmaschine werfen. Denn: Sorglose Lebenslust ist jedem Kind zu wünschen. Sie könnte doch herrlich ansteckend wirken...

 

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