"Hast du eigentlich auch Angst?", fragt mich Max, 10 Jahre, als wir vor kurzem vor einer Hütte in Österreich in der Sonne sitzen. Ich, mit Sonnenbrille auf der Bank neben ihm, habe die Augen zu und antworte kurz und knapp: "Ja, ich habe auch Angst", ohne nachzufragen, auf was genau er hinaus will. "Und was machen wir dagegen?", fragt er weiter.
Anna-Nicole Heinrich
Wenn ich mich heute an die Situation vor wenigen Wochen erinnere, erscheint sie mir beinahe absurd. Wir sitzen mitten in einem idyllischen Tal, die Sonne beginnt gerade, über die Bergspitze zu klettern. Die Natur zeigt sich von ihrer besten Seite, die Atmosphäre ist friedlich.
Weit weg von Corona-Zahlen oder dem russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine und den Drohszenarien gegen die ganze Welt sprechen wir über Angst. Nicht über die Angst, die die bedrückenden Nachrichten auslösen, und auch nicht über konkrete Sachen, die uns in unserer gemeinsamen Auszeit direkt betreffen könnten. Nicht über die Angst, dass wir uns bei unseren Touren verletzen könnten, nicht über die Angst, dass das Wetter unsere Pläne für die gemeinsame Woche durchkreuzen könnte, nicht über mögliche Höhenangst, wenn ich daran denke, dass wir mit der Verbindungsgondel über einem sehr tiefen Tal schweben werden.
Fast schon ein bisschen philosophisch fangen Max und ich an, über Angst zu reden, ohne sie auf eine konkrete Situation zu beziehen. Und auch wenn wir beide sicher sehr konkrete Sachen in unseren Köpfen haben, behalten wir sie für uns. Wir reden über die Angst als solche, über unsere Gefühle und ringen gemeinsam darum, einen Umgang damit zu finden.
In der Ruhe liegt die Kraft - manchmal
Wir machen uns klar: Manche Ängste sind sicher unbegründeter als andere. Und einige von ihnen lösen einfach nur Panik aus, ohne dass wir es erklären können, und dann lähmen sie uns. Sie entmutigen uns, sie lassen uns verzweifeln. Diese Ängste sind da, aber sie bringen uns nicht weiter, denn Max’ Oma sagt immer: "Angst ist ein schlechter Ratgeber", und von einem schlechten Ratgeber wollen wir uns nicht leiten lassen. Wir sind demnach besser dran, wenn wir uns die Ohnmacht eingestehen, die wir in diesen Situationen haben, wenn wir lieber erst mal ratlos damit stehen bleiben und in aller Ruhe darüber nachdenken, denn so sagt meine Oma immer: "In der Ruhe liegt die Kraft."
Nachdem wir festgestellt haben, dass es Ängste gibt, die wir stehen lassen müssen, entdecken wir Angst, die überwunden werden kann oder die zumindest kleiner wird, wenn wir die Themen und Situationen, die sie ausgelöst haben, anpacken, wenn wir aktiv werden, wenn wir zuversichtlich handeln. Sie treibt uns dann an, anstatt uns lähmen. Auch wenn das zunächst irgendwie widersprüchlich klingt: Angst kann am Ende sogar etwas Positives bewegt haben.
Von der Angst zur Zuversicht
Die Sonne ist nun komplett über den Berg geklettert und strahlt uns mitten ins Gesicht, es wird uns dort langsam zu heiß. Und auch wenn wir die Frage, was man gegen Angst machen kann, nicht wirklich beantwortet haben, merken wir doch, wir haben uns weg von der Angst hin zur Zuversicht gedacht, und so starten wir unverzagt in den Tag. "Denn Gott hat uns nicht gegeben den Geist der Furcht, sondern der Kraft und der Liebe und der Besonnenheit." (2. Tim 1,7)
Als wir kurze Zeit später in der Verbindungsgondel über dem Abgrund schweben, sagt Max noch mal: "Danke, das war gut vorhin vor der Hütte." Ich antworte: "Danke dir, Max." Er nimmt seine Sonnenbrille ab, lächelt mich verschmitzt an, als hätte ich ihn damit jetzt herausgefordert: "Darf ich dich noch etwas fragen?"
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