Demonstration für Afghanistan in Berlin, September 2021
Mohsen Hassani
Wir sprechen uns gegenseitig Mut zu
Tahora Husaini ist zwar in Sicherheit in Deutschland, doch die Angst um ihre Familie in Afghanistan ist allgegenwärtig. Wie ihr geht geht es vielen ihrer Landsleute.
Tahora HusainiPrivat
09.11.2021

In Krisensituationen reagiert jeder Mensch anders. Ich persönlich habe an mir alle möglichen Emotionen und Reaktionen festgestellt. Für diejenigen von uns, die nicht in ihrer Heimat sein können, sind diese Zeiten womöglich besonders belastend. Hilflosigkeit ist allgegenwärtig.

Kurz nach dem Fall von Kabul hatte ich einen alten Freund angerufen, und für einige Minuten haben wir einfach nur geweint. Die Intensität unserer Schmerzen ließ sich gar nicht in Worte fassen. Nachdem wir uns etwas beruhigt hatten, war die erste Frage, wie viele Familienangehörige noch in Afghanistan seien und ob es einen Weg gäbe, sie da herauszuholen. Es fühlt sich an, als wären wir ohne Vorwarnung in einen kalten Ozean geschmissen worden.

Zuerst war ich einfach nur wütend - dann verzweifelt

Jedem, den ich hier aus der Community treffe, steht die Traurigkeit und Enttäuschung ins Gesicht geschrieben. Einige von ihnen bereuen es, dass sie nicht in Afghanistan sein konnten, um sich zu verabschieden und beneiden mich, dass ich das schöne Kabul noch ein letztes Mal zu Gesicht bekam. Der schmerzliche Gedanke daran, dass es vielleicht das letzte Mal gewesen sein könnte, lässt die Freude an meinem Besuch in der Heimat schwinden.

Als ich nach Deutschland zurückkam, war ich zuallererst furchtbar wütend und wollte alle um mich herum anschreien. Dann überkam mich eine Abscheu gegenüber all der Nationen, die maßgeblich zu dieser Misere beigetragen haben. Schließlich verfiel ich in nicht enden wollenden Kummer, erlebte mehrere Panikattacken und weinte nächtelang. Noch immer kann ich es nicht glauben. Meinen afghanischen Freunden geht es ähnlich. Sie können nicht glauben, ihr Heimatland verloren zu haben.

Es ist ein bitteres Lachen der Wiedersehensfreude

Erst vor wenigen Tagen traf ich mich mit einem ehemaligen Kommilitonen, der ebenfalls in Berlin lebt. Er kam erst am Morgen der Machtübernahme durch die Taliban nach Deutschland zurück. Als wir uns sahen, haben wir erst mal viel und laut gelacht. Es war ein bitteres Lachen, um unsere verwundeten Herzen etwas zu heilen.

Als er nach Deutschland zurückkam, fühlte er sich so krank, dass er zwei Wochen lang nicht zur Arbeit gehen konnte. Als ich ihm so zuhörte, fragte ich mich, wie wir nach diesem Schock wieder in ein normales Leben zurückkehren könnten. Immer, wenn ich mich etwas besser fühle, werde ich wieder von einer kleinen schaudererregenden Nachricht aus der Heimat erschüttert.

Kämpfen? Er?

In einem späteren Treffen sprach er davon, nach Afghanistan zurückzukehren und für unsere Heimat zu kämpfen. Er möchte Waffen besorgen und in den Krieg ziehen. 

Kämpfen? Er? Mit einem kleinen Lächeln sagte ich ihm, dass die Taliban mit Kalaschnikows kommen und ihn im Bruchteil einer Sekunde niederschießen würden. Und dann? Da riss er seine Augen auf und sah mich schockiert an. Mit einer Reaktion dieser Art hatte er scheinbar nicht gerechnet.

Dann erklärte er mir, dass er sich natürlich vorher für den Krieg ausbilden lassen würde. Ich sagte: „Für wie lange? Zwei Wochen, zwei Monate? Wo und von wem? Die Taliban haben sich 20 Jahre lang darauf vorbereitet und in der Kälte der Berge gelebt. Kennst du deinen Feind? Es gibt dutzende Nationen, die Vorteile aus der Taliban-Herrschaft ziehen sowie Gruppen wie ISIS oder Al-Quaida. Es sind bereits so viele junge Menschen und Soldaten gestorben, für nichts. Von Deutschland aus kannst du deine Familie wenigstens finanziell unterstützen.“

Die Taliban töten Menschen seiner ethnischen Gruppe

Er fragte mich, was wir denn noch machen können. Es muss doch etwas für das Heimatland getan werden. Taliban töten Hazara, die ethnische Gruppe, der seine Familie angehört. Sie werden von den Taliban verfolgt und aus ihren Häusern vertrieben. Dann wurden wir beide still und starrten unser Essen an, das inzwischen kalt geworden war.

Ich verstehe ihn. Es ist für alle von uns eine schwierige Zeit. Dein Land und deine Identität werden dir genommen. Jeden Tag verhungern und erfrieren Menschen, während wir gemütlich in der Wärme an einem gedeckten Tisch sitzen. Einerseits schreit deine innere Stimme danach zu helfen, anderseits wird dir immer wieder bewusst, wie wenig du tun kannst. Du kannst dein wenig Erspartes an deine Familie und Freunde senden, damit sie sich zumindest etwas zu Essen leisten können. Und wie kann man Gewissheit haben, dass sie in Sicherheit sind? Diese Frage lässt dich in keiner Minute jeden Tages los und frisst dich innerlich auf.

Das Treffen mit Landsleuten ist manchmal ein kleiner Trost. Wir verstehen einander, ohne überhaupt Worte zu wechseln und machen uns gegenseitig Mut und Hoffnung. Wir stellen uns vor, dass wir vielleicht schon nächste Woche mit unseren Familien beisammensitzen und Tee trinken. Doch am Ende müssen wir immer realistisch sein und einsehen, dass unser Land verloren ist und wir nichts dagegen tun können.

 

Neuen Kommentar hinzufügen

Der Inhalt dieses Feldes wird nicht öffentlich zugänglich angezeigt.

Plain text

  • Keine HTML-Tags erlaubt.
  • Zeilenumbrüche und Absätze werden automatisch erzeugt.