Blog: Als Familie in Deutschland eine neue Heimat finden

Parya - Schutzengel der Familie
Lufbruecke - Parya beim Fußball

Fatima Ahmadi

In Deutschland ist das möglich: Jeden Sonntag ein kleines Match für Parya und ihre Freundinnen

Lufbruecke - Parya beim Fußball

Ich war fünfzehn, als meine kleine Schwester geboren wurde. Unser Vater überließ meiner älteren Schwester und mir die Ehre, ihr einen Namen zu geben. Wir einigten uns auf den Namen Parya, was Engel bedeutet - unser Schutzengel

Parya hatte immer ein Lächeln auf ihrem Gesicht, egal welche Herausforderungen auf sie zukamen.

Im Gegensatz zu ihr ist ihr Bruder sehr zurückhaltend und introvertiert. Parya war immer ein beschützender und wachsamer Schutzengel für ihn, vor allem, wenn es um den Umgang mit Schlägern in der Schule ging. Sie ging über sich hinaus, um ihn vor Unheil zu bewahren, und kehrte oft mit schmutziger Kleidung und Schrammen von ihrem heldenhaften Einsatz nach Hause zurück. Ihr Bruder suchte Schutz hinter ihr, während sie ihn tapfer verteidigte. Mit weit aufgerissenen Augen und stolzer Körperhaltung erzählt Parya von ihren Erlebnissen, als sie sich für ihren Bruder zur Wehr setzte, der von "dummen Jungs" ins Gesicht geschlagen worden war.

Als sie älter wurden und lesen lernten, wurden sie sich der Angst bewusst, die das Leben in Afghanistan aufgrund der Bedrohung durch die Taliban beherrschte. Sie hörten Geschichten von Erwachsenen, die unter dem Unterdrückungsregime gelebt hatten, und das löste in ihnen ein Gefühl der Angst aus. Eines Tages nahm Parya eine Zeitung vom Schreibtisch unseres Vaters und las laut die Schlagzeile vor: „Kommen die Taliban zurück?“ Ihr Lächeln erlosch, sie wandte sich mir zu und fragte: „Schwester, wo verstecken wir uns, wenn sie kommen?“ Ich umarmte sie und versprach ihr, dass sie niemals kommen würden – ein Versprechen, das leider nicht eingehalten werden konnte.

In einer traditionellen und frauenfeindlichen Gesellschaft werden furchtlose und mutige Mädchen nicht immer toleriert

Schon mit sieben Jahren war sie fasziniert von der Moderation und dem öffentlichen Reden. Sie zog ihren Stuhl zu uns, setzte sich aufrecht hin, schlug die Beine übereinander, begrüßte alle und begann laut zu reden und uns zu unterhalten. Ihr Mut und ihre soziale Kompetenz wurden von allen bewundert. Aber in einer traditionellen und frauenfeindlichen Gesellschaft werden furchtlose und mutige Mädchen nicht immer toleriert, und als Parya älter wurde und alle ihre älteren Geschwister das Land verließen, wurde sie immer schüchterner und weniger mutig. Jedes Mal, wenn ich sie besuchte, sprach sie zögerlicher, mit gesenktem Kopf, und ihre Stimme war nicht mehr laut und enthusiastisch. Die Arbeit unseres Vaters als Journalist verschlimmerte die Situation, und beide mussten zu ihrer eigenen Sicherheit die meiste Zeit zu Hause bleiben. Für mich als ältere Schwester war es eine Qual, das mit ansehen zu müssen. Parya schaute zu mir auf, aber ich konnte nichts tun, um ihr zu helfen, die selbstbewusste und erfolgreiche Frau zu werden, die sie sein wollte.

Als die Selbstmordattentate zunahmen, machte ich mir ständig Sorgen um den Schutz meiner jüngeren Geschwister. Nach dem Zusammenbruch der Regierung am 15. August 2021 wurden unsere schlimmsten Befürchtungen wahr. Pary war damals 16 Jahre alt. Am 28. August 2021, als meine Familie nicht durch die Tore des Kabuler Flughafens gelassen wurde, während Tausende von Menschen zum Flughafen eilten, um dem Grauen zu entkommen, ging ihr Telefon verloren. Parya erzählt in lebhaften Worten, wie sie drei Stunden lang in hüfthohem, schmutzigem Wasser standen und all ihre Habseligkeiten verloren. Die Soldaten am Tor weigerten sich, sie durchzulassen.

An diesem Tag fühlte ich mich wie eine Versagerin, und nicht einmal das Weinen konnte den Schmerz in meinem Herzen lindern. Aber all diese Momente der Qual, all die Jahre der Alpträume und Sorgen vergehen, wenn ich sie heute mit ihrer Sporttasche sehe, wie sie mit ihren neuen Freunden zum Fußballspielen geht oder wenn sie über ihre Entscheidung für eine Ausbildung spricht.

Ein Leben Ohne Angst und Konflikt

Es ist nun fast ein Jahr her, seit meine Brüder und Schwestern in der gleichen Stadt angekommen sind, in der ich zu Hause bin. Ich habe einige Zeit gebraucht, um diese Realität zu begreifen und zu akzeptieren, dass mein lang ersehnter Traum von einem normalen Leben ohne Angst für sie endlich wahr geworden ist. Jetzt können sie über ihre zukünftigen Ziele und Wünsche sprechen und darauf hinarbeiten, anstatt nur davon zu träumen. Parya wird trotz der verstrichenen Zeit immer noch von den traumatischen Erlebnissen verfolgt. Oft spricht sie von der Nacht, in der die Taliban die Macht übernahmen, und erinnert sich an die Schüsse, die durch die Nacht hallten. Auch scheinbar harmlose Ereignisse, wie ein Feuerwerk in der Silvesternacht, können bei ihr Erinnerungen an diese Nacht auslösen und sie in Angst und Schrecken versetzen. Ein nächtlicher Spaziergang im Park kann sie an die Zeit erinnern, als sie sich an der pakistanischen Grenze verirrte und große Angst und Schrecken empfand. Diese Flashbacks können überwältigend sein und dazu führen, dass sie sich verletzlich und ängstlich fühlt.

Trotz aller Traumata hat sie noch viele Herausforderungen, um in der neuen Gesellschaft anzukommen

Meine kleine Schwester ist inzwischen größer als ich und ist in schwierigen Zeiten zu einer Stütze für unsere Familie geworden, immer geduldig und mit einem Lächeln im Gesicht. Sie rennt von einem Arzttermin zum nächsten, um die Gesundheit unserer Mutter zu erhalten, und hilft der Familie, eine Wohnung zu finden. Obwohl sie noch jung ist, zeigt sie eine Reife, die über ihr Alter hinausgeht. Aber die Umstellung auf ein neues Land kann entmutigend sein, und es gibt noch viele Herausforderungen, die sie zu meistern hat, um ihren Platz hier zu finden. Ich frage mich, ob es ihr gelingen wird, das Selbstvertrauen und die Kühnheit des Mädchens wiederzugewinnen, das sich auf einem Stuhl vors Publikum saß und laut und fröhlich sprach.

Manchmal ruft meine kleine Schwester ihre Freunde in Afghanistan an, um sich nach ihnen zu erkundigen, aber nach dem Anruf wird sie still und zurückgezogen und ist stundenlang in Gedanken versunken. Ich fühle sehr mit ihr, denn ich weiß, dass sie sich eine bessere Zukunft für ihre Freundinnen und für alle Mädchen in Afghanistan wünscht, eine Zukunft, in der sie ihren Träumen ohne Angst und Gefahr nachgehen können.

Über diese Kolumne

Die afghanische Frauenrechtlerin Tahora Husaini hat in Berlin Zuflucht gefunden. Oft ist sie mit ihren Gedanken in ihrer Heimat, bei ihrer Familie, bei den hochragenden Bergen um Kabul. In ihrem Blog nimmt sie uns mit.

Tahora Husaini
Nur eine Woche bevor die Taliban in Kabul einmarschierten, besuchte die jetzt in Deutschland lebende Tahora Husaini noch ihre Familie. Sie engagiert sich seit Jahren für die Rechte von Frauen im Nahen Osten, speziell in Afghanistan. Was geschieht dort jetzt nach dem Einmarsch der Taliban? Vor allem mit den Frauen? Tahora Husaini erzählt.

Kolumnen auf chrismon.de

Hier finden Sie eine Übersicht aller Kolumnen auf chrismon.de
Und hier können Sie alle Kolumnen direkt abonnieren

Kolumnen

Text:
35 Beiträge

Als Klinikseelsorgerin und Krebspatientin kannte Pfarrerin Karin Lackus den medizinischen Alltag unterschiedlichen Perspektiven und hat darüber gebloggt. Ende April 2023 ist Karin Lackus gestorben. Der Blog bleibt online, und in Absprache mit den Angehörigen haben wir im Blog noch einige Texte veröffentlicht, die Karin Lackus vor ihrem Tod verfasst hat.

Text:
42 Beiträge

Die afghanische Frauenrechtlerin Tahora Husaini hat in Berlin Zuflucht gefunden. Oft ist sie mit ihren Gedanken in ihrer Heimat, bei ihrer Familie, bei den hochragenden Bergen um Kabul. In ihrem Blog nimmt sie uns mit.

Text:
38 Beiträge

Als das Hochwasser kam, war Pastor Thomas Rheindorf gerade zur Seelsorge unterwegs. Geschichten aus dem Ahrtal: über Trauer, Tod und Hoffnung.

Text:
Hanna Lucassen
41 Beiträge

Schwester, Schwester! Hanna Lucassen erzählt von Streiks, Spritzen und Sonntagsdiensten.

Text:
Susanne Breit-Keßler
31 Beiträge

Fußball ist ihr Leben - sagt die ehemalige Regionalbischöfin und Schiedsrichtertochter Susanne Breit-Keßler. Und da der Ball rund ist und das zugehörige Spiel mindestens die wichtigste Nebensache der Welt, schreibt sie - wie schon bei der EM 2016 und der WM 2018 - wieder auf, was sie während der EM 2021 bewegt.

Text:
Dominique Bielmeier, Dorothea Heintze, Anne Buhrfeind
30 Beiträge

Zwei Redaktionen, ein Blog: Dominique Bielmeier arbeitet bei der Sächsischen Zeitung in Dresden. Anne Buhrfeind und Dorothea Heintze bei chrismon in Frankfurt. Nun bloggen sie: Über ihren Redaktions-Austausch, ihr Leben als Ossi im Westen, ihr Leben als Wessi im Osten. Und ihren Alltag, hier wie dort.

Text:
Claudius Grigat
25 Beiträge

Schön bunt ist das Familienleben, manchmal auch zu bunt. Geschichten aus dem turbulenten Alltag von Claudius Grigat