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Ein letztes Gespräch mit Klaus Eulenberger
(Berlin) 11.02.16; Dr. Johann Hinrich Claussen, Portraet, Portrait; Kulturbeauftragter des Rates der EKD, Leiter des EKD-Kulturbueros, evangelischer Theologe Foto: Andreas Schoelzel/EKD-Kultur. Nutzung durch und fuer EKD honorarfreiAndreas Schoelzel
03.11.2018

Klaus Eulenberger hat vielen Menschen, nicht nur in der evangelischen Kirche, viel bedeutet. Es ist erst wenige Monate her, dass ich mit ihm ein Email-Gespräch geführt habe, das im aktuellen Band der „Predigtstudien“, einer Anregungsquelle für Pastoren, veröffentlicht wurde. Es war mein letztes Gespräch mit ihm. Ich werde ihn vermissen. Deshalb hier ein Ausschnitt aus dieser Email-Unterhaltung.

Lieber Klaus,

gestern bin ich im Gottesdienst gewesen, aber ich habe weder geweint noch gelacht. Nur eine Frage habe ich mit nach Hause genommen, auch weil ich mich ertappt gefühlt habe. Der junge Kollege hat in seiner Predigt etwas gemacht, was mich – nicht geärgert, aber doch enttäuscht hat. Er hat sehr gut angefangen, hatte einen feinen Aufhänger, wusste auch etwas daran aufzuhängen. Aber am Ende, als es darum ging, eine Aussage zu wagen, die einem im Sinn bleibt und ins Herz trifft, ging ihm erkennbar die Luft aus, und er hat – ein Gedicht zitiert. Es war keines von den ganz schlechten, doch es war etwas Fremdes, eine bloß herbeizitierte Bedeutsamkeit. Doch, da habe ich mich schon geärgert, mich aber auch ertappt gefühlt. Auf dem Weg nach Hause fiel mir ein, wie oft ich es ähnlich gemacht habe. Sollten wir nicht lieber auf diese Zitate, besonders von Gedichten, ganz verzichten?

Dein

Johann

***

Lieber Johann,

ich habe eine Vermutung. Nämlich diese: Es macht einen Unterschied, ob jemand sich bemüht, ein „passendes Zitat“ zu finden – etwa, um den eigenen Gedanken eine höhere Autorität zu verleihen –, oder ob ihm auf dem Weg von der Einleitung zum Ende der Predigt etwas einfällt (ja: ein-fällt), was im gegebenen Kontext einfach unabweisbar ist. Nein, kein Sahnehäubchen, keine nette Verpackung für etwas, das eigentlich schon gesagt ist. Sondern: vielleicht eine kleine Passage aus einer Kurzgeschichte oder ein Gedicht, das „es“ einfach besser, genauer, inspirierter sagt, als ich es mit meinen eigenen Worten sagen könnte. Ich wäre nie darauf gekommen, eine Entsprechung zwischen den romanischen Bögen einer Kirche und dem Inneren ihrer touristischen Betrachter zu sehen. Der schwedische Poet Tomas Tranströmer hat sie entdeckt, und für mich (und Dich?) gleich mit:

In der gewaltigen romanischen Kirche drängten sich die Touristen im Halbdunkel.

Gewölbe klaffend um Gewölbe und kein Überblick.

Kerzenflammen flackerten.

Ein Engel ohne Gesicht umarmte mich

und flüsterte durch den ganzen Körper:

»Schäm dich nicht, Mensch zu sein, sei stolz!

In dir öffnet sich Gewölbe um Gewölbe, endlos.

Du wirst nie fertig, und es ist, wie es sein soll.«

Ich war blind vor Tränen

und wurde auf die sonnensiedende Piazza hinausgeschoben

zusammen mit Mr. und Mrs. Jones, Herrn Tanaka und Signora Sabatini,

und in ihnen allen öffnete sich Gewölbe um Gewölbe,

endlos.

Dieses Gedicht in einer Predigt zu hören, würde mich froh machen.

Dein Klaus

***

Lieber Klaus,

das kann ich nachvollziehen. Man kann in einer Predigt nicht bloß sagen, was man selbst halt so sagen kann. Deshalb greifen wir ja auch zu den biblischen Worten, weil sie etwas aussagen, das uns unerschwinglich ist. Aber es muss doch durch uns hindurchgegangen sein. Wir sollten es nicht nur aufgelesen, sondern uns auch einverleibt haben. Wenn wir etwas Literarisches finden oder legitimer Weise stehlen – der Heilige Geist kennt ja kein Copyright –, dann muss es bis zum Gang auf die Kanzel irgendwie unser eigenes geworden sein. Oder ist das ein zu hoher Anspruch?

Doch wenn wir es nicht so halten, dann setzen wir die Verbindung zu unserer Gemeinde aufs Spiel. Um mich gleich in einen pragmatischen Selbstwiderspruch zu setzen, sage ich das, was ich hier meine, mit einem Zitat, und zwar aus den unerschöpflichen „Notizheften“ von Henning Ritter (2010): „Warum so viele Zitate? Der Leser soll auch dann noch einen Gewinn haben, wenn der Autor ihm nichts von sich selbst gibt. Er ruht sich auf den schönen Zitaten aus. In gebildeten Zeiten bringt das Bildungszitat ein Wiedererkennen, stiftet Einverständnis, nähert Autor und Leser einander an. Das Gegenteil ist heute der Fall. Das Zitat vergrößert den Abstand zum Leser, gibt dem Autor weder Prestige noch Autorität – vielmehr zeigt es, dass er sich in anderen Kreisen bewegt und der Zuwendung des Lesers nicht bedarf.“

Dein

Johann

***

Lieber Johann,

etwas Literarisches, schreibst Du, muss „einverleibt“ sein, ehe es von der Kanzel aus weitergegeben wird. Ich bin völlig einverstanden. Wenn ich in einer Predigt etwas höre, das der Prediger „irgendwo“ gefunden hat, vielleicht in den ehemals beliebten „Zitate(n) zum Kirchenjahr“ (Vandenhoeck & Ruprecht) oder in einer Textsammlung, einem Lesebuch, spüre ich die Mühe des Suchens und die halbherzige Erleichterung: Ach, das könnte doch ungefähr passen. So herum geht es nicht. Ein literarischer Einfall kommt, oder er kommt nicht. Kommt er nicht, muss man es hinnehmen. Sonst – um es wiederum an einem Beispiel aus der Literatur zu verdeutlichen – wird man zu jenem Prediger, den Michael Krüger in einem Gedicht („Brief“) beschrieben hat:

… Vorne pickte der alte Pfarrer,

ohne eine Lösung zu fordern,

wie ein schwarzer Vogel lustlos

im Evangelium, schien aber nichts

zu finden, uns zu verführen.

Kein Leitfaden, kein Trost …

Kommt der Einfall aber – und besteht er vor dem kritischen Blick –, gehört das zu den glücklichsten Begebenheiten. Was er mit sich führt, tut dem biblischen Text keine Gewalt an, es verbiegt ihn nicht, unterwirft ihn sich nicht. Aber es taucht ihn in ein überraschendes Licht, in dem die Konturen klarer werden und die Tiefenschärfe zunimmt. Und er kann dazu beitragen, dass eine Predigt entsteht, die nicht nur das in der Regel kleine Kirchenvolk erreicht, sondern auch diejenigen, „die draußen sind“ (Kol 4,5). Und das gehört zu den vornehmsten Aufgaben der Predigtkunst heute. Finde ich.

Dein Klaus

***

Lieber Klaus,

das von dir nicht zitierte, sondern aufgerufene „Brief“-Gedicht von Krüger ist mir besonders lieb: Da geht einer in den Gottesdienst, alles ist totes Ritual, dem alten Pfarrer fällt nichts ein, „nach einer Stunde war alles vorbei“. Aber dann, beim Gang aus der Kirche, hinaus und zurück in die Welt, geschieht plötzlich dies:

Draußen lag ein unerwartet helles Licht

über dem See, und ein Wind kam auf,

der mich die Unterseite der Blätter

sehen ließ.

Vielleicht also geht es gar nicht um „Zitat oder Nicht-Zitat“, sondern viel grundsätzlicher darum, wie wir so leben und lesen, dass uns so etwas zufällt.

Dein

Johann

P.S.: Gerade habe ich erfahren, dass der Berliner Journalist Dirk Pilz mit nur 46 Jahren gestorben ist. Er war nicht nur ein wunderbarer Theaterkritiker, sondern – was ungewöhnlich ist – auch ein hochgebildeter und engagierter Theologe. In seiner „Berliner Zeitung“ ist ein sehr schöner und tieftrauriger Nachruf erschienen. Ganz am Ende gibt es einen Link zu Artikeln von Dirk Pilz. Es lohnt sich, sie zu lesen. Dies ist ja die beste Art, einen verstorbenen Autoren zu ehren: ihn lesen.

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