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Pippi im Kulturkampf
Eine Plage dieser Tage sind die hocherregten, zerstörerischen und zugleich sinnfreien Kulturkämpfereien. Vielleicht hilft es, wenn man sich ihre Mechanik genauer anschaut. Zum Beispiel im Fall von Pippi Langstrumpf.
(Berlin) 11.02.16; Dr. Johann Hinrich Claussen, Portraet, Portrait; Kulturbeauftragter des Rates der EKD, Leiter des EKD-Kulturbueros, evangelischer Theologe Foto: Andreas Schoelzel/EKD-Kultur. Nutzung durch und fuer EKD honorarfreiAndreas Schoelzel
28.10.2022

So ist die Welt: Alles ändert sich. Was früher selbstverständlich galt, wird heute in Frage gestellt. Was man früher sagen konnte, stößt heute auf Protest. Manchmal kommt es dabei zu Übertreibungen. So will ich nicht leugnen, dass es so etwas wie „cancel culture“ – besonders in akademischen Kreisen – gibt. Das nervt und sollte aufhören. Andererseits gibt es massive Widerstände dagegen, dass sich Leitvorstellung und Sprachkonventionen ändern. Mit apokalyptischem Furor wird das Ende der Meinungsfreiheit beschrien – mit dem durchsichtigen Ziel, überhaupt jede Veränderung niederzubrüllen. Da es für eine „linke Meinungsdiktatur“ nur sehr wenige und schwache Belege gibt, bauen hartrechte Ideologen Beispielgeschichten auf, die sie dann endlos wiederholen – in der leider berechtigten Hoffnung, dass sie dann haften bleiben. So im Fall von Pippi Langstrumpf.

Darum geht es in Wirklichkeit: In den Passagen, in denen Astrid Lindgren davon erzählt, wie Pippi ihren verlorenen Vater wiederfindet und dann in der Südsee besucht, wo er auf der Taka-Tuka-Insel wie ein König regiert, benutzt sie – zeittypisch – recht häufig das N-Wort. Irgendwann ist dem Verlag aufgefallen, dass dies heute problematisch ist, und hat diese Stelle heutigem Sprachempfinden angepasst.

Daraus machen hartrechte Ideologen: Eine Welle der Zensur erfasst die gesamte Kinderliteratur, vor nichts schrecken die Linken zurück, jetzt vergreifen sie sich sogar an Lindgren und indoktrinieren kleine Kinder – wo soll der „cancel“-Wahnsinn noch hinführen?! Oft und oft habe ich das gelesen – in neurechten Schmuddelblättern, aber auch in der vermeintlich liberalen „Zeit“, wenn ich mich recht erinnere.

Was ist dazu zu sagen? Offensichtlich haben die hartrechten Dauererhitzer länger nicht oder noch nie Kindern vorgelesen. Dann wüssten sie nämlich, dass dies nicht nur etwas sehr Schönes, sondern auch Verantwortungsvolles ist. Es ist zudem eine Einübung in Vergänglichkeit. Man bekommt als Vorleser ja sofortige Rückmeldungen, wenn etwas mit dem Text nicht stimmt. Kinder sind das ehrlichste Publikum. So muss man erfahren, dass die Bücher, die man selbst als Kind geliebt hat, nur selten von den eigenen Kindern geliebt werden. Die bedeutende Kinderbuchautorin Kirsten Boie hat es mir einmal nüchtern erklärt: Kinderbücher haben eine kurze Lebensdauer, denn Kinder lesen nicht historisch, sondern gegenwärtig, das Buch muss sie jetzt ansprechen, weshalb schon zehn- oder zwanzig Jahre alte Bücher für sie kaum mehr zu gebrauchen sind. Es gibt nur wenige Ausnahmen: Grimms Märchen oder eben die Bücher von Astrid Lindgren.

Es ist ein Wunder, wie zeitlos ihre Geschichten und Figuren sind. Mehrfach habe ich ihre Bücher vorgelesen. Es war jedes Mal ein Fest. Nur über diese eine Stelle mit der Taka-Tuka-Insel und dem N-Wort bin ich jedes Mal gestolpert. Und weil wir eine ältere Ausgabe besitzen, habe ich hier – das bekenne ich frei – beim Vorlesen den Text verändert und von „Südseekönig“, „Inselbewohnern“ usw. gesprochen. Ich wollte unseren Kindern das verletzende Wort nicht beibringen. Ich wollte vermeiden, dass sie es als normal wahrnehmen und selbst benutzen. War das jetzt häusliche „cancel culture“? Ich denke, dass es einfach erzieherische Verantwortung war, über die sich aufzuregen, niemand ein Recht hat.

Dennoch wird dieser sogenannte Fall wieder und wieder hochgezogen und mit ähnlichen Nicht-Skandalen um Winnetou, den schwarzen der drei Könige usw. vermixt. Am besten, man schaut sich die Mechanik dieser reaktionären Propaganda einmal an, um sie zu verstehen und um dann beim nächsten Erregungsthema einfach abzuschalten.

P.S.: Jaana Espenlaub (eine studierte Theologin) arbeitet bei „arbeiterkind.de“ und unterstützt junge Menschen, die als erste in ihren Familien ein Studium antreten möchten. Mit ihr spreche ich in meinem Podcast „Draußen mit Claussen“ über die Frage „Arbeiterkind – wohin?

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