jhc
Steht noch dahin..
Anfang dieses Jahres habe ich mir eine neue Lese-Regel gegeben – eine gute Entscheidung: Im Wechsel wollte ich auf jedes neue Buch ein altes lesen. Jetzt fand ich in einem vergilbten Taschenbuch einen Text, der mein gegenwärtiges Empfinden besser ausdrückt, als ich es bei vielen jüngeren Gedichten erlebt habe.
(Berlin) 11.02.16; Dr. Johann Hinrich Claussen, Portraet, Portrait; Kulturbeauftragter des Rates der EKD, Leiter des EKD-Kulturbueros, evangelischer Theologe Foto: Andreas Schoelzel/EKD-Kultur. Nutzung durch und fuer EKD honorarfreiAndreas Schoelzel
13.06.2023

Die unzählbaren neuen Buchveröffentlichungen erschöpfen mich. So viel wird publiziert, ich komme nicht hinterher. Und wenn ich es versuche, bin ich danach nicht selten enttäuscht. Außerdem führt die literarische Innovationsflut dazu, dass ich großartige ältere Texte verpasse. Deshalb greife ich jetzt regelmäßig nicht nur nach Klassikern, sondern auch zu vergessenen Büchern. Das kostet mich ja nur zwei Klicks und wenige Euro – schon habe ich sie bestellt. Hier hat der bedrohliche Satz „Das Internet vergisst nicht“ etwas Gutes.

So bin ich der Empfehlung einer älteren Dame gefolgt, die noch wusste, dass Marie Luise Kaschnitz eine großartige Autorin war. Ich muss gestehen, dass mir das nicht so klar war. Eigentlich kannte ich von ihr nur das Gedicht „Aufstehen“ („Manchmal stehen wir auf / Stehen wir zur Auferstehung auf / Mitten am Tage…“).

Es dürfte kein modernes Gedicht geben, dass so häufig in Osterpredigten zitiert wird, wie dieses – was meine Neugier auf andere Texte von Kaschnitz gemindert hat. Aber dann bekam ich den Tipp, es mit ihrem dünnen Band „Steht noch dahin“ von 1970 zu versuchen. Es ist eine Sammlung von Prosagedichten, die jeweils eine halbe Seite lang sind. Dichte, klare und manchmal präzis-bösartige Texte, sehr erfrischend jedenfalls. Am meisten hat mich gleich der erste angesprochen/umgetrieben/aufgestört:

„Ob wir davonkommen ohne gefoltert zu werden, ob wir eines natürlichen Todes sterben, ob wir nicht wieder hungern, die Abfalleimer nach Kartoffelschalen durchsuchen, ob wir getrieben werden in Rudeln, wir haben‘s gesehen. Ob wir nicht noch die Zellenklopfsprache lernen, den Nächsten belauern, vom Nächsten belauert werden, und bei dem Wort Freiheit weinen müssen. Ob wir uns fortstehlen rechtzeitig auf ein weißes Bett oder zugrunde gehen am hundertfachen Atomblitz, ob wir es fertigbringen mit einer Hoffnung zu sterben, steht noch dahin, steht alles noch dahin.“

P.S.: Über Askese spreche ich mit dem Schriftsteller John von Düffel in meinem Podcast „Draußen bei Claussen“. Denn er hat gerade ein wichtiges Buch über „Das Wenige und das Wesentliche“ veröffentlicht – eine Einladung zu einem guten Leben, das auf Überflüssiges verzichten kann.

Neuen Kommentar hinzufügen

Der Inhalt dieses Feldes wird nicht öffentlich zugänglich angezeigt.

Plain text

  • Keine HTML-Tags erlaubt.
  • Zeilenumbrüche und Absätze werden automatisch erzeugt.

Kolumne