Der Bahnhof von Remagen im Winterhimmel
Der Bahnhof von Remagen im Winterhimmel
Thomas Rheindorf
Meine Existenz zwischen Baum und Borke
Unser Haus in Bad Neuenahr muss immer noch trocknen. Also leben wir im Exil in Remagen. Die Verkehrsanbindung ist unschlagbar, die Dusche heiß, der Bäcker um die Ecke. Trotzdem ist es eine Lektion in Geduld und Demut.
10.12.2021

Lisa, die Berufsviolinistin, spielt mal wieder ganz wunderbar auf einem Benefizkonzert. Ist es in Bad Neuenahr? Vermutlich. Zart streicht der Bogen über die Saiten. Ein reiner Ton erklingt, schwebend und klar. Doch dann rollt sich die Schnecke ihrer Violine zu einer pelzigen Zunge aus, die F-Löcher werden zu Mündern voller Zähne und sie sägt über die Saiten, dass sie zum kreischenden Crescendo Funken sprühen.

Ich öffne die Augen. Es ist Nacht. Ein schlechter Traum.

Schlechte Träume gehören für mich seit der Hochwassernacht dazu, und oft sind sie noch viel gruseliger als der hier von mir erinnerte. Immer wieder eine Rolle in meinen Träumen spielt ein ratternder Ton. Kein Wunder. Seit der Hochwassernacht haben wir eine provisorische Unterkunft gefunden und die liegt in Remagen, direkt gegenüber vom Bahnhof. Auf der Bahnanlage wird zu nächtlicher Stunde ein Zug rangiert. Wenn er über die Weichen rollt, entsteht eine volltönende Symphonie der Misstöne.

Hauptsache ein Dach über dem Kopf? Na ja...

Remagen ist unser Exil. Das von meiner jüngeren Tochter, meiner Frau und mir. Meine ältere Tochter ist nicht mitgekommen. Remagen liegt ungünstig zu ihrer Ausbildungsstelle. Sie lebt jetzt in Ahrweiler, in einer Wohnung unterm Dach. Das Hochwasser hat ihren Auszug bei uns beschleunigt. Es war eine abrupte Trennung.

Wir sind in einem alten Haus untergekommen, in dem teilmöblierte Appartements vermietet werden. Hauptsächlich an Studenten der ortsansässigen Fachhochschule. Deren Ansprüche sind so gering wie ihre Verweildauer. Und während nächtens scheinbar die Güterzüge der Rheinschiene einen Umweg durch unser Doppelmatratzenlager nehmen, geben sich die Studenten ausdauernd und geräuschvoll dem Studentenleben hin. Manchmal steigt im Treppenhaus süßlicher Qualm in die Nase:  Ein Vorhaben der Ampelkoalition ist hier schon vorweggenommen. Doch es ist zu wenig, um zu wirken. Ganz eindeutig sind wir Flutflüchtlinge die Neozoen im Gaudeamus-igitur-Biotop.

Die neuen Lebensformen der Flutopfer-Community

Unsere ist eine von vielen Variationen bei den Lebensformen der Flutopfer-Community. Ein Ehepaar lebt in einer Ferienwohnung in Glees beim Laacher See. Reizvolle Landschaft ganz weit ab vom Schuss. Unsere Nachbarn in Neuenahr sind im Haus geblieben und wohnen oben in der Wohnung, die sie für die Kinder hergerichtet hatten. Die sind schon lange fort. Unten Rohbau, oben elektrische Heizöfchen. Zwei reife Damen mit unbewohnbaren Domizilen haben eine WG in Kripp am Rhein gegründet und grübeln mit häufig wechselnden Einsichten, wie es weitergehen kann. Andere Bekannte versuchen eine Mischung aus dem Gästezimmer von Freunden, wo sie morgens lauschen, ob das Bad frei ist und ihrem Wohnmobil. Überzeugt sind sie nicht von ihrem Experiment. Ein ganzes Altenheim fand in einer Einrichtung in Köln Unterschlupf. Sie kommen zu Weihnachten zurück. In Köln wollte niemand bleiben.

Für den Bourbon ist es früh...

Als es hell wird, mache ich ein Foto aus dem Fenster und lade es auf den Computer. Und während draußen die Verkehrsadern pulsieren und die Studenten ruhen oder studieren, lege ich im Bildbearbeitungsprogramm einen Filter auf das Bild. Er heißt „düster“. Dann entferne ich die Farbe und erhöhe den Kontrast. Und schon bin ich in meiner eigenen Graphic Novel. Ein Blick wie aus einem schäbigen Detektivbüro in Zeiten, als Detektive wie Philip Marlowe waren. Für Bourbon ist es (mir) zu früh, filterlose Zigaretten vertrage ich nicht. Ich setze alle Einstellungen zurück und fahre ins Ahrtal: The place to be, wenn man noch zwei, drei Kleinigkeiten zu tun hat.   

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