20.10.2010

Am Morgen des 11. September 2001 klingelten in New York viele Handys. Frauen und Männer verabschiedeten sich von ihren Kindern, von den Partnern, Ehefrauen und Eltern. Ein "Du bist der Sonnenschein meines Lebens", ein "Ich liebe dich" als letztes Wort, bevor das World Trade Center in sich zusammenstürzte und Tausende von Menschen unter sich begrub. Sie hatten versucht, telefonisch alles zu sagen, was ihnen wichtig war ­ und das ist im Angesicht des Todes nicht mehr viel, aber wesentlich. Der andere soll nicht zurückbleiben, ohne noch einmal gehört zu haben, dass er einem alles bedeutet, dass man ihm oder ihr ein gutes Leben wünscht, auch wenn man selber sterben muss.

Sie alle waren morgens aus dem Haus gegangen, mehr oder weniger liebevoll verabschiedet, vielleicht aber auch mit zornigen Worten auf den Lippen. So, wie es halt oft ist: Es eilt, man schüttet hastig einen Tee hinunter, der Ehemann hat mal wieder vergessen, den Müll wegzubringen, was die Frau bissig kommentiert. Er fragt im Gehen, was noch ansteht; sie ärgert sich, weil sie schon dreimal gesagt hat, was alles erledigt werden muss. In letzter Sekunde mäkelt sie an ihm herum, weil die Krawatte einen Fettfleck hat, er passt ja nie auf beim Essen...Rumms, Tür zu und tschüss! Das ist kein Abschied, der der Liebe zwischen Menschen gerecht wird.

Sich so zu trennen ist leichtfertig. Niemand weiß, wann es tatsächlich das letzte Mal ist, dass man die Partnerin, den Ehemann oder die Kinder in die Arme schließt. Es braucht keine Terroranschläge, um für immer auseinander gerissen zu werden: ein Autounfall oder Eisenbahnunglück, ein Herzinfarkt ­ und als letztes Wort ein Kommentar zu Biomüll und Saucenflecken? Für mich eine grauenvolle Vorstellung, die mich sofort einholt, wenn ich einmal das Haus in Rage verlassen habe. Die nächstbeste Gelegenheit wird genutzt, um meinen Mann anzurufen, mich gegebenenfalls zu entschuldigen und das Gespräch mit einem lieben Wort zu beenden. Er macht das umgekehrt genauso.

"Im Grunde nimmt man jeden Tag von irgendetwas Abschied, ohne es zu wissen", schreibt der Schriftsteller Lion Feuchtwanger. Immer und immer wieder verabschiedet man sich ­ mal ganz selbstverständlich, mal vergnügt und optimistisch, mal unter Trauer und Schmerzen: von Schulzeit und Jugend, vom ungezwungenen Leben als Single, von trauter Zweisamkeit, wenn der ersehnte Nachwuchs kommt, im Alter von den so genannten besten Jahren, zwischendrin von Gesundheit und Elan, von Plänen und Ideen. Vom Ende des Tages oder vom Ende der Nacht bis hin zu den Jahreszeiten gibt es unendlich viele Hinweise darauf, dass dieses Leben nicht von Dauer, sondern von Vergänglichkeit gekennzeichnet ist.

In einem Psalm des Alten Testamentes steht der Satz: "Herr, lehre uns bedenken, dass wir sterben müssen, auf dass wir klug werden." Wir sollen uns der Endlichkeit des Lebens bewusst sein. Psychologen nennen das "abschiedlich leben". Aber wie kann man das lernen?

Wir könnten dahin schauen, wo ausführlich Abschied genommen wird und die Szenerie mit allen Sinnen in uns aufnehmen. Ein Spaziergang zum Bahnhof, eine Fahrt zum Flughafen, sie zeigen Menschen, die sich umarmen, als wär's das letzte Mal. Auf dem Bahnsteig oder vor dem Check-in wird geküsst, geweint und gewunken. Manchmal ­ "da, nimm, das ist für dich!" ­ wechselt noch schnell eine Blume, ein Stofftier oder ein hübsch verpacktes Päckchen den Besitzer. Man wünscht "Komm gut wieder" und sagt "Danke für alles".

Im Krankenhaus begleitet der Patient seine Besucher zum Ausgang, ein tapferes Zeichen für die Absicht, alsbald wieder auf den Beinen zu sein. Andernfalls bleibt man ermattet liegen, hebt grüßend die Hand und hofft, dass die Tür sich bald wieder öffnet und der geliebte Mensch hereinkommt. Der Zurückbleibende wie der, der fortgeht, lernen in diesen Situationen, dem anderen mit Worten und Gesten Gutes, Liebes zu tun, ihm im Wortsinn "Bemerkenswertes" statt Oberflächliches zu sagen. Abschied lässt kein Geschwätz zu, er fordert die Hauptsache.

Wer sich den alltäglichen Szenen des Abschieds als Zuschauer ausgesetzt hat, kann noch ein wenig in der Literatur blättern. Könige oder Ritter werden mit Fanfarenstößen verabschiedet, Soldaten mit militärischen Ehren. Festmahle werden ausgerichtet, um Reisende zu stärken für die Strecke, die vor ihnen liegt. Man singt und tanzt, damit der Abschied frohen Mutes vonstatten geht. Nun muss man sich im Angesicht der Vergänglichkeit nicht unbedingt Gläser hebend und mit Sambaschritten verabschieden ­ das könnte falsch ausgelegt werden. Aber eine Kultur des Abschieds ließe sich entwickeln, eine gepflegte Art und Weise, auseinander zu gehen in dem Wissen, es könnte für immer sein.

Man kann anderen herzliche Wünsche mitgeben ­ "fahr gut", "hab Acht auf dich" ­ oder Sehnsucht ausdrücken: "Ich freue mich schon jetzt auf dich!" Statt dem belanglosen "Bis die Tage" oder einem unverbindlichen "Wir telefonieren" ist "Adieu!" (wörtlich "Gott befohlen") weitaus tiefgründiger. Meine Schwägerin sagt stets "Behüt dich Gott", um auszudrücken, dass das Leben nicht allein in unserer Hand liegt. Neben vertrauten Worten braucht es zarte Rituale, die den Abschied unvergesslich machen: einen Kuss, nicht lustlos hingeschmatzt, sondern zärtlich auf die Lippen gedrückt, eine innige Umarmung, ein Einatmen am Hals des anderen, um seinen Duft in Erinnerung zu behalten ­ mindestens bis zum Wiedersehen.

Das meinen Leserinnen und Leser

Ich zeige meinen Lieben gern durch ein herzliches Ritual, dass ich sie im Herzen mitnehme: Mein Mann bekommt einen innigen Kuss, mein einjähriger Sohn einen Kuss auf die Stirn und Küsse durch die Luft. Der Kleine hat sich an das Ritual gewöhnt und lässt mich fröhlich winkend gehen, weil er das Urvertrauen hat, dass ich dann auch wiederkomme.

Mahalia Kelz, 31 Jahre, Basel

Früher war es so: Ehe das Haus verlassen wurde, setzten wir uns alle noch einmal hin und hielten still. Ich fand es sehr feierlich. Meine Eltern hatten diese Sitte aus Russland mitgebracht. Es hat wohl mit dem Zeitmangel zu tun, dass wir heute so kurz angebunden sind. Ein "Gott behüte dich" kann aber nie schaden.

Agnes Kaiser, 76 Jahre,

Potsdam

"Tschüss" reicht wirklich und beinhaltet mehr als mancher meint! Die Hugenotten brachten im 17. Jahrhundert den französischen Abschiedsgruß "à dieu" ("Gott befohlen") mit nach Berlin, der zunächst in atschüss, dann in tschüss umgewandelt wurde. Als Restform hat er sich vielerorts erhalten.

Georg Ellendorff, 54 Jahre,

Bielefeld

"Einen schönen Tag noch!" Die ersten Male freute ich mich beim Einkaufen über diesen Gruß. Danach wurde er mir regelrecht lästig. Als höflicher Mensch möchte man "Danke" sagen; dabei sind es doch nur vom Arbeitgeber angeordnete Floskeln. Ich bleibe beim konservativen "Auf Wiedersehen".

Johannes Stephan, 75 Jahre,

Radebeul

An die letzte Geste kann ich mich immer sehr lange erinnern. Ein Blick, eine Haltung oder ein Kuss fassen zusammen, in welcher Stimmung wir uns trennen. Beim Wiedersehen versuche ich, da anzuknüpfen. Will sagen: Wir sollten die Erwartung des Wiedersehens in jeden Abschied einbauen.

Uwe Geilert, 62 Jahre,

Schwalmtal

Zu einer traurigen Freundin sage ich: "Pass auf dich auf", weil ich das ihr und mir wünsche. Wenn Gäste gehen, sage ich: "Kommt heil nach Hause", und in den vielen, alltäglichen Auf-Wiedersehen-Situationen klingt "Mach's gut!" immer noch schöner als das lieblose "Tschüss", finde ich.

Carolin Courts, 24 Jahre,

Köln

Stillschweigend ist bei uns niemand aus dem Haus gegangen. Doch, einmal: Als meine Frau starb, durfte ich mich nicht von ihr verabschieden. Denn selbst in der letzten Stunde sagte sie: "Es wird schon wieder!" ­ Dann kann man sich nicht verabschieden!

Ulrich Dieckhoff, Lübeck,

59 Jahre

Das Verabschieden habe ich von meiner Oma gelernt. Beim Abschied sagte sie jedes Mal: "Ich möchte nicht, dass du zu meiner Beerdigung kommst. Besuche mich lieber noch lebendig." Bei meinem letzten Besuch sah ich meine winzige, zarte Oma, wie sie mir winkte und sagte: "Denk dran!" Ich werde immer daran denken.

Beate Augustin, 41 Jahre,

Hildesheim

Ein Abschiedskuss, ein ermutigendes Wort für den Tag sind für uns seit Jahrzehnten lieb gewordene Gewohnheit ­ ein Ritual, dessen Verletzung auf beiden Seiten ein ungutes Gefühl hinterlassen und dem Tag einen Knacks geben würde.

Sabine Eberling, 48 Jahre,

Ranstadt

Im Vertrauen

Jeden Monat laden wir Sie, liebe Leserinnen und Leser, ein, uns Ihre Erfahrungen zu einem vorgegebenen Thema mitzuteilen. Schildern Sie Erlebnisse und Begegnungen, lassen Sie uns an Ihren Beobachtungen teilhaben!

Das Thema im September: Krank ­ selbst schuld? Ein Mensch wird schwer krank. Und die Umgebung tuschelt: Er oder sie hätte eben nicht rauchen dürfen, hätte abnehmen müssen, seine Gefühle mehr ausleben oder die Beziehung zur Mutter klären müssen! Muss man sich das gefallen lassen? Sind wir an unserem Kranksein oft selber schuld?

Zu diesem Thema schreiben Sie uns bitte, mit Angabe Ihres Alters und Wohnorts, bis zum 31. Juli

chrismon

Stichwort: Im Vertrauen Postfach 203230, 20222 Hamburg E-Mail: im-vertrauen@chrismon.de

Verzwickte Fragen aus dem Alltag ­ sie reizen zur schnellen Antwort und lassen einem doch keine Ruhe. Leserinnen und Leser sowie eine Expertin wagen sich an eine Lösung. SUSANNE BREIT-KESSLER ist gelernte Theologin und Journalistin. Heute wirkt sie als Regionalbischöfin in München

Rumms, Tür zu und tschüss! Kein Abschied, der der Liebe zwischen Menschen gerecht wird

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