Dies ist ein Märchen von Menschen in New York City, die alle Hoffnung aufgaben und am Ende sich selbst. Sie lebten auf der Straße. Und als kein guter Rat, kein Almosen und kein Gesetz ihnen half, da fanden sie schließlich ein Haus, das gab ihnen ihre Würde zurück
07.10.2010

Es war einmal ein Haus, nahe beim hell leuchtenden Times Square in New York, das war dunkel und gefährlich. In seinen Gängen, in denen die Lampen längst zerbrochen waren, huschten Ratten, in manchen der Zimmer wohnten sechsköpfige Familien zusammengepfercht, in anderen bitterarme Rentner, die sich vor lauter Angst nicht mehr vor die Tür trauten. Das Haus in der 43. Straße, Ecke 8. Avenue galt als eine der übelsten Sozialunterkünfte der Stadt. Hell's Embassy sagten die Leute dazu, Botschaft der Hölle. Wer hierher kam, war fertig mit der Welt. Spätestens an der mächtigen Drehtür im Erdgeschoss ließ ein neuer Bewohner alle Hoffnung fahren.

Denn eines führte das Haus jedem, der es betrat, auf bedrückende Weise vor Augen: Kein Ruhm, kein Wohlstand ist von Dauer. Diese Botschaft flüsterte der staubige Stuck von Decken und Wänden. Sie hallte durch die ehemals herrschaftliche Lobby, wo sich einst die Kultur-Schickeria getroffen hatte ­- Menschen, deren Zukunft so glänzend ausgesehen hatte wie die Türknaufe an den Broadway-Theatern. Die Botschaft von der Vergänglichkeit klang nach bis in den letzten Winkel des Hauses, das erbaut war im Art-déco-Stil, als ein Tempel des Erfolgs.

Wie sollte er wieder hinaufsteigen aus dieser Hölle ­- zurück in ein bürgerliches Leben?

Wenn ein mächtiges Haus so fallen konnte, vom Weltstadt-Glanz zur Absteige zwischen Billig-Bars und Sex-Shops, wie sollte dann ein einzelner Mensch sein Schicksal wenden? Wie sollte er wieder hinaufsteigen aus dieser Hölle ­- zurück in ein bürgerliches Leben?

Der Aufzug endet im 15. Stock. Man tritt hinaus auf die Dachterrasse des "Times Square", spürt den Wind in den Haaren und den Schatten der Nachbarhäuser auf der Haut. Versucht, da unten ein paar der Broadway-Reklamen zu erkennen, die pausenlos zucken und blitzen, auch am Tag. Und blickt dann nach vorne: auf den Hudson-Fluss und die Skyline von Jersey City, die sich dahinter wie ein Raumschiff erhebt. Es ist ein großartiger Ausblick aus einer großartigen Kulisse, er macht euphorisch und schüchtern zugleich.

Cynthea, die Malerin, ist fast nie auf der Dachterrasse. Wozu auch: Sie wohnt im 11. Stock, Blick auf den Hudson, das ist ihr Panorama genug, und gute Laune hat sie ohnehin. Cnythea lacht, es klingt frech und übermütig, und so sieht sie auch aus: eine rundliche Frau Anfang 50, die viel jünger wirkt, mit Lachfalten und Pferdeschwanz. Seit kurzem unterrichtet sie an einer Kunstschule, es ist ihr erster Job seit sechs Jahren und der vorerst letzte Schritt auf einer langen Treppe zurück ins Leben.

Die meisten der 652 Bewohner des "Times Square" waren schon mal am Fuß einer solchen Treppe. Es ist dunkel dort unten, kalt und einsam, sagt Cynthea. Lange fiel es ihr schwer, über das zu sprechen, was war, bevor sie hierher kam und wieder anfing, nach vorne zu sehen, anstatt immer nur zurückzublicken. Auch jetzt noch kommen die Worte langsam. Die Menschen, die sie am meisten geliebt hatte, ihr Vater und ihr Mann, waren kurz nacheinander gestorben. Jeder hatte einen Teil von ihr mit sich genommen: der Vater den Optimismus, der Mann die Träume.

Cynthea hatte Depressionen, konnte nicht mehr arbeiten, lebte zwei Jahre lang auf der Straße und in Shelters, den gefürchteten New Yorker Obdachlosenheimen. Bis ihr eine Sozialarbeiterin eines Tages vom "Times Square" erzählte: Es gebe da so ein Haus, hatte sie gesagt, ein ehemaliges Luxushotel, zwischendurch völlig heruntergekommen. Nun aber lebten dort zur einen Hälfte Künstler und Schauspieler, zur anderen alte, sozial schwache und psychisch kranke Menschen. Es sei ein Wohnprojekt, initiiert von einer Hilfsorganisation namens Common Ground. Jeder habe dort ein Zimmer mit Küche und Bad für sich, es gebe Ärzte, Therapeuten und ein Jobtraining im Haus. Und die Miete sei erschwinglich, sogar für Leute, die von ganz wenig Geld oder Sozialhilfe leben müssen. Ob sie sich nicht mal vorstellen wolle?

Das "Times Square" ist ein Meister im Verändern

Cynthea ging hin. Sie trat durch die messingbeschlagene Eingangstür. Sie sah sich um. Monatelang hatte sie in einer kargen Obdachlosen-Unterkunft gelegen oder auf einem Stück Pappe in einem Hauseingang, in ständiger Furcht, bestohlen oder verprügelt zu werden. "Ich fand es hier sofort wunderbar", sagt Cynthea. "Die Bilder überall, die Architektur." 2002 zog sie ein. Und das Haus begann Cynthea zu verändern.

Das "Times Square" ist ein Meister im Verändern, sagen die, die dort wohnen. Es macht dich stark und mutig und stolz, weil es selbst so gelassen im Chaos des Theaterviertels steht, zwischen all den Leuchtbändern und Lautsprechern, wie ein unerschütterlicher Verkehrspolizist mitten auf der Kreuzung. Weil es dich mit seinen marmornen Stufen und Säulen, mit seinen Kronleuchtern und stuckverzierten Wänden empfängt wie ein Schloss seinen König. Weil es beweist, dass das Leben nicht nur Abstiege kennt.

Dennoch setzte Cynthea sich nach ihrem Einzug nicht sofort in die elegante Lobby, sie nahm an keinen Therapiegruppen oder Kunstkursen teil, besuchte keines der Dinner. Cynthea ging einfach in ihr neues Zimmer und schloss die Tür mit der Nummer 1149 hinter sich. Sie bleib allein. Ohne Zimmergenossen, ohne Heimpersonal, ohne naserümpfende Passanten. Größe und Glanz bot ihr das "Times Square", vor allem aber Geborgenheit.

Als Cynthea ihre Tür im 11. Stock wieder öffnete, war es Sommer geworden. Sie ging hinaus auf die Straße, in den Central Park, die Sonne schien. Abends kehrte sie zurück in ihr Zimmer. Es dauerte lange, bis sie mehr wollte: wissen, was jenseits der Zimmertür im Haus passierte. Sie begann, durch die Gänge zu spazieren und sich die ausgestellten Bilder der Bewohner auf der Galerie anzusehen. Sie sprach mit anderen Bewohnern, besuchte einen Kunstkurs. Die Lehrerin ermunterte sie, wieder mit dem Malen anzufangen. Eines ihrer ersten Bilder zeigt einen Mann im roten Hemd, im Hintergrund eine Flasche Chilisauce.

Im gewaltigen Leib des Hauses verlaufen die Gänge wie Arterien. Schmal und verwinkelt führen sie zu den Zimmern, so dass man manchmal nicht mehr weiß, in welchem der vier Türme des Gebäudes man sich eigentlich befindet. Man steigt im 5. Stock aus dem Fahrstuhl, er fährt weiter. Es ist still. Bis auf etwas Sonderbares: Vogelgezwitscher, Meeresrauschen.

Man folgt den Tönen, biegt links ab, dann rechts, läuft an Türen vorbei, die mit Postkarten, Fahnen, Trockenblumen dekoriert sind und neugierig machen, auf das, was dahinter wartet. Nur von außen wirkt das "Times Square" wie eine Einheit, innen ist es eine Stadt in der Stadt, ein Kosmos für sich. Der eine Bewohner hat ein Häschenbild an seine Tür geklebt, der andere eine Warnung, das Zimmer zu betreten. Jeder hier hat das Recht, seine Welt zu bauen, egal wie wunderlich die auch sein mag.

Dann steht man dort, von wo das Tschilpen und Plätschern kommt: vor dem Zimmer von Miss Sadie. Die Tür ist einen Spaltbreit geöffnet, dahinter ein Dschungel aus Girlanden, Ketten, Bildern, Postern und einem CD-Player, aus dem die Geräusche kommen. Mittendrin: ein faltiges Häuflein Mensch, behängt mit Brille, Perlenketten, Decken, das ist Miss Sadie. Seit 35 Jahren wohnt sie im "Times Square", seit der Zeit also, als das Haus in der 43. Straße noch als Hotel der Luxusklasse galt. Miss Sadie arbeitete damals am Empfang, heute ist sie die älteste Bewohnerin des "Times Square". Miss Sadie könnte viel erzählen über dieses Haus, aber ach, sie fühlt sich wieder mal nicht gut, das Atmen macht Probleme, nein, man solle einen anderen fragen. Die Tür fällt zu, das Tschilpen verstummt.

Eine von diesen New-York-Storys.

Ein paar Türen weiter öffnet Ed. Er bittet herein, ein großer, massiger Mann mit sorgfältig gestutztem Bart und weichen Gesichtszügen, bietet einen Stuhl an, gleich unter den Fotos, die ihn als jungen Mann mit seiner Schwester zeigen. Ed erzählt bereitwillig: dass er fast Soziologie-Professor geworden wäre, damals, in den achtziger Jahren. Mit seiner Doktorarbeit hatte er schon angefangen, dann kamen ihm psychische Probleme dazwischen, der Tod des Lebensgefährten, der Verlust der Wohnung, Einsamkeit, Obdachlosigkeit. Eine von diesen New-York-Storys.

Eines verließ Ed nie: die Ahnung, dass eigene vier Wände ihm helfen würden, sein Leben neu zu ordnen. So trat auch Ed schließlich durch die Drehtür. Er besichtigte den Fitnessraum und das Musikzimmer, die Dachterrasse und den Speisesaal. Seit 2001 lebt er im "Times Square". Demnächst wird er 60. Erst jetzt, sagt er, nach so vielen Jahren, fühle er sich erstmals ruhig und zufrieden.

Was hat das Haus damit zu tun? Ed beginnt von den Menschen zu erzählen, die es bewohnen, von seinen neuen Freunden. Dann bricht er ab und fährt runter in die Lobby. Wenn das "Times Square" ein Herz hätte, würde es hier schlagen. Ein Kronleuchter glitzert an der Decke, ein goldener Engel an der Wand. In der Mitte steht ein Klavier. Alle, die kommen oder gehen, müssen hier durch. Was soll Ed da noch erklären?

Hier ist man nie einsam.

Er bleibt sitzen, wie so oft, er beobachtet. Er hört zu, wie Dora mit den weißen Haaren und der schwarzen Hornbrille, die fast jeden Nachmittag in Nachthemd und Puschen in die Lobby gerauscht kommt, auf dem Klavier "Girl from Ipanema" spielt. In der Lobby ist es nie still. Hier ist man nie einsam.

Und nie unbeobachtet. "Ich fühle mich hier manchmal wie ein Hamster im Käfig", klagt John, der Fotograf, der mit seinem Hund vom Gassi-Gehen kommt und erst einmal durch eine Metallschranke muss. Später werden ihn an der Decke installierte Kameras bis zu seinem Zimmer begleiten. Wenn Besucher kommen, müssen sie einen Hausausweis ausfüllen, mehr als drei Personen dürfen nicht mit aufs Zimmer. John und die anderen Künstler im "Times Square" hassen das. Einschränkung der persönlichen Freiheit, nennen sie es. Sicherheit, nennen es Ed und Cynthea.

Das "Times Square" ist kein zurückhaltendes Haus. Trotz der stillen Gänge und der ruhigen Zimmer. Es zeigt, was es hat. In seiner auftrumpfenden Bürgerlichkeit macht es klar, wer hier die Regeln bestimmt. Die meisten Bewohner nicken dazu. Vielleicht weil sie wissen, dass das "Times Square" auch Zeiten kannte, in denen es keine Regeln gab und keinen Glanz.

Steven kann sich noch erinnern. Steven mit dem breiten Grinsen, der stets korrekt gekleidet ist. Bevor er hierher kam, verbrachte er ein Jahr als aufgeflogener Drogendealer im Gefängnis und zwei als Alkoholiker auf der Straße. Heute verziert er Holzstäbe mit Friedenssymbolen und hält in Schulen Vorträge über Obdachlosigkeit. Steven trifft man überall, im Lift, in der Lobby, vor der Tür, wo sich die Taxis hupend ihren Weg bahnen. Er selbst fuhr hier auch manchmal vorbei, vor 15 Jahren, als seine Geschäfte noch legal waren und gut liefen. Der Name "Times Square" dagegen stand für Dealer, Zuhälter, Besoffene.

Man hätte das Haus damals auch abreißen, einfach aus dem Stadtbild wischen können, mitsamt seinen Bewohnern, wie einen lästigen Fleck. Doch es bekam eine zweite Chance und so konnte etwas von seiner Würde abfärben auf Steven. Selten zeigt er sich ohne Anzug und Krawatte. Selbst für das "Spaghetti-Dinner" an diesem Abend, zu dem sich einmal pro Woche ein Großteil der Bewohner trifft, putzt er sich heraus wie für eine Gala.

Auch Ed ist zum Dinner gekommen. Ein dreigängiges Menü für zwei Dollar ­ das gibt es in New York sonst nirgendwo. Ed hat sich für das Essen frisch gemacht, die Haare zurückgekämmt, ein neues T-Shirt angezogen, er lächelt unternehmungslustig, als er mit den Augen nach seinen Freunden sucht.

Cynthea ist mal wieder auf ihrem Zimmer geblieben. Dort steht sie am Fenster, genießt den Blick auf den Fluss, neben sich ihr erstes Bild nach den verlorenen Jahren: der Mann mit der Chiliflasche. "Das ist mein Vater", erklärt Cynthea. "Er war ein großartiger Koch." Sie lacht.

 

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