Kältehilfe Saarbrücken
Eigentlich war ich nur neugierig
Im "Lehrer Lämpel" trafen sich früher Schüler in der Pause. Heute kriegt dort jeder was zu essen, der sich anstellt. Gordon Bolduan hilft mit bei "Ingos kleiner Kältehilfe"
Menschen stehen auf dem Bürgersteig der Stengelstraße und warten vor einer Gaststätte, deren Reklame "Lehrer Lämpel" schon seit Jahren nicht mehr leuchtet
Erst standen dort nur ein Dutzend, jetzt sind es über 60, manchmal sogar über 90 Menschen
Anne Ackermann

Seit einem halben Jahr helfe ich in "Ingos ­kleiner Kältehilfe" in Saarbrücken. Für Menschen mit leerem Magen und zu kleinem Geldbeutel habe ich Lebensmittel geschleppt, Brötchen geschmiert und Essensreste von ­Plastiktellern gekratzt. Ich bin 46 Jahre alt und habe das Privileg, mit dem Schreiben meinen Lebensunterhalt zu verdienen. Immer wieder hatte ich gesehen, wie viele Menschen dort anstehen, und eines Tages bin ich hingegangen.

Erst standen dort nur ein Dutzend, jetzt sind es über 60, manchmal sogar über 90 Menschen. Sie stehen auf dem Bürgersteig der Stengelstraße, einer der Hauptverkehrsadern in die Saarbrücker City. Sie warten vor einer Gaststätte, deren Reklame schon seit Jahren nicht mehr leuchtet. Im "Lehrer Lämpel" haben sich früher Schülerinnen und Schüler eine Pause gegönnt. Jetzt bekommt dort jeder etwas zu essen, der sich rechtzeitig anstellt. Die Fensterfront ist mit matter Folie beklebt, auf die bunte Hände gedruckt sind. "Von Menschen für Menschen" steht in grünen Lettern darauf.

Meine erste Schicht beginnt kurz nach 18 Uhr, es ist Mitte Juli. Im hinteren Raum rollen Brötchen aus einer Papiertüte auf einen Tisch. Eine Frau schiebt mir eine 500-Gramm-­Packung Margarine zu. "Du schmierst", sagt sie, "wir machen heute Abend 80 Brötchen. Vier davon mit Käse für die Vegetarier."

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Wir, das sind eine Frau mit tätowiertem ­Unterarm, eine Syrerin ohne linken Arm, ein ehemaliger Friedhofswärter, eine Seniorin und eine Münchner Molekularbiologin auf Heimat­urlaub. Wir haben weniger als zwei Stunden. Dann werden die Bedürftigen, wir nennen sie "unsere Gäste", zum Essen hereingelassen. Wir schmieren und belegen Brötchen, packen sie mit je einem Schokoriegel in Plastiktüten und, wichtig, verknoten sie mit einem halben Schlag. Die Gäste sollen die Tüten nachher noch anderweitig verwenden können. Wir reden, wir lachen. Themen sind Momente im Beruf, der jeweilige Beziehungsstatus und die Spritze zum Abnehmen. Noch geht es mir gut.

2016 fing Ingos kleine Kältehilfe als ­kleine Gruppe von Helfern an, dann kam ­Corona. Plötzlich waren sie nach ihrer eigenen ­Aussage die Einzigen, die sich um die Obdachlosen kümmerten. Seit 2021 ist die Kältehilfe im Lehrer Lämpel. Inzwischen öffnet sie auch im Sommer, jeweils montags, mittwochs, freitags. Im Winter gibt es jeden Abend ein kostenloses Essen.

Ingo, früher Fernfahrer und eine Zeit lang obdachlos, hat vor acht Jahren die Kältestube gegründet. Auch Vereinsvorsitzende Kerstin weiß, was Armut ist

Während wir die Provianttaschen packen, wartet draußen schon eine Handvoll Gäste. ­Einer von ihnen ist Markus, 41 Jahre alt. Er trägt Turnschuhe, eine kurze Hose und ein T-Shirt von "Pizza Hut". Die Haare sind kurz geschoren, die Mundwinkel scheinen immer etwas nach oben zu zeigen. Das Anstehen macht ihm nichts aus, sagt er, seine Eltern wissen auch davon.

Seinen richtigen Namen will er hier trotzdem nicht veröffentlichen, "damit die Verwandten im Saarland" nicht etwas über ihn lesen. Markus ist seit Monaten krankgeschrieben. Sein Körper und seine Psyche machen ihm zu schaffen. Er wartet auf eine Operation. Als sein Kühlschrank kaputtgeht und er die Reparatur nicht bezahlen kann, schlägt ihm ein Bekannter Ingos kleine Kältehilfe vor. Inzwischen hat er zwei Kumpels in der Schlange, Mike und Harry. Den Nikolausabend in der Kältehilfe im vergangenen Jahr bezeichnet er als seinen schönsten Moment.

Etwa 90 Minuten später stehen 40 Menschen in der Schlange, auch Frauen und ­Kinder. Autos dröhnen vorbei, ihre Scheinwerfer blenden. Markus steht ganz vorne, ­seine Kaumuskeln pulsieren unter seinen Wangen. Kurz nach acht wird er eingelassen, zehn ­Minuten später steht er wieder mit Mike und Harry vor der Tür. Sie haben gegessen und die Provianttasche am Mann.

Den Einlass regelt Ingo, der Namensgeber. Er sitzt auf einem Stuhl vor dem Eingang, weil sein 70 Jahre alter Körper nicht mehr ganz so will wie er. Rücken, Knie, Herzinfarkt. ­Letzteren, sagt Ingo, hätte er nicht überlebt, wenn er nicht gerade in der Kältestube ge­wesen wäre. Die Unterarme sind über der Brust gekreuzt, während sich das Kältehilfe- Shirt über dem Bauch spannt. Früher war er Fernfahrer, fuhr Erdbeeren von Malaga nach ­Hamburg in einer roten DAF-Sattelzugmaschine. Im Alter von 58 Jahren sackte er total ab, wie er sagt. Er lebte ein halbes Jahr auf der Straße, nicht in Saarbrücken, sondern weiter draußen in der Nähe eines Lebensmittelmarktes. Als die Temperaturen auf minus 18 Grad fielen, wurde er eingeliefert. Er enga­gierte sich im Kältebus und fand wieder zurück in das Leben. Sogar der Oberbürgermeister von Saarbrücken nennt ihn eine Legende.

80 Brötchen, davon vier vegetarisch. Einen Nachweis braucht es nicht, jeder wird satt.

Hilft man Menschen eher, wenn man ­selber schon mal ganz unten war? "Geholfen habe ich schon vorher", sagt Ingo. Doch er ist nicht der Einzige unter den Helfenden, der schon mal obdachlos war. Die Übrigen ­haben auch den Aufschlag gespürt oder spüren ihn noch jetzt: schwere Krankheit, Ehekrise, ­Ärger im Job. Auch Kerstin Lafontaine, Vor­sitzende von "Hand in Hand e. V.", dem Verein hinter der Kältehilfe, erinnert sich an den Moment, in dem sie einer Freundin gestand, dass sie nicht frühstücken konnte, weil nur noch eine Dose Erbsen im Schrank war. Kurze Zeit später stand die Freundin vor der Tür, samt Mann und Sohn. Jeder trug in jeder Hand eine Plastiktüte mit Lebensmitteln. "So etwas gibt man zurück", sagt Lafontaine.

Gordon Bolduan, 46, hat bei "Technology Review" gearbeitet und ist auf Computerthemen spezialisiert. Nicht nur deswegen ist diese Reportage für ihn etwas Besonderes

Die Gäste müssen nichts bezahlen und keinen Nachweis erbringen. Das macht Ingos kleine Kältehilfe so besonders. Und anfällig. Wenn das Leben teurer wird in Deutschland, wächst die Zahl der Menschen vor der ehe­maligen Gaststätte.

Am ersten Abend absolviere ich die zweite Schicht ab 20 Uhr als "Schreiber". Die ersten Gäste kommen. Es ist eine Mutter mit zwei zehnjährigen Jungen. Sie kommen aus der Ukraine. Ingo hat sie vorgelassen. Ich frage sie nach ihrem Vor- und Nachnamen, ihrer Adresse oder Telefonnummer. Dann schicke ich sie zum Tresen, wo jetzt zwei riesige silber­farbene Töpfe auf der Spüle stehen, und am anderen Ende reicht eine Helferin ihnen das Tablett mit Essen, Trinken und Nachtisch. Es stehen mehr Männer als Frauen an. Der Älteste ist 70 Jahre alt, der Jüngste ist drei und hängt an der Hand seiner Mutter. Auch sie kommen aus der Ukraine. Er hat flachsblondes Haar und trägt ein blau-weiß ­gestreiftes T-Shirt. Er bekommt immer den Teller, auf dem Spiderman zum Sprung ansetzt.

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Wenn jemand keine Adresse oder Telefonnummer hat, schreibe ich "O. F. W." auf, was für "ohne festen Wohnsitz" steht. Oft verstehe ich die Namen nicht. Es ist laut, und manche Gäste sprechen ihren Namen zu schnell oder zu leise. Ich dagegen bin wie aufgedreht. Auf das Hallo folgt ein Lächeln, auf das Schreiben ein herzhaftes "Guten Appetit". Ich bin glücklich, weil ich helfe. Nach gut einer Stunde lässt mein Helferhoch nach. Mir wird übel, weil ich das Gefühl habe, mich am Leid der anderen zu berauschen. Ich halte mich am Tisch fest.

Darf man sich glücklich fühlen, während man Menschen hilft, denen es viel schlechter geht? "Ja, klar", sagt Lafontaine, als ich sie ­Wochen später frage. "Erstens merke ich, dass es mir sehr gut geht. Zweitens wird mir auch bewusst, wie schnell sich das ändern kann." Sie ist seit 2016 in der Kältehilfe aktiv.

"Bin ich ­glücklich, weil ich ­helfe? Oder berausche ich mich am Leid?"

Gordon Bolduan

Eine Woche später, gleicher Ort, gleiche Schicht. Ich stehe in der Küche, die mit ­Ge­schirrregalen, Spülmaschine und Spül­becken mit Geschirrbrause so voll ist, dass nur zwei Personen darin arbeiten können. Ich schwitze unter meiner Gummischürze. Ich sehe nur noch die Hände der Gäste, weil sie ihr Tablett durch eine Gästeklappe zu mir schieben. Die Kunststoffteller sind unterteilt in drei Bereiche, ähneln einem Peace-Zeichen. Ich drehe sie so, dass der Teil mit den ­meisten Essensresten unten ist, und halte sie über den Müllsack in der Blechtonne neben mir. Den Rest kratze ich mit einem Teigschaber ab. Das Besteck fliegt in einen kleinen Eimer mit Spülwasser.

Am anderen Ende der Küche steht Lis Jacob vor dem Geschirrspüler aus Metall. Obwohl die Spülmaschinen­tür nicht ganz geschlossen ist, stützt sie ihre Arme auf die Metallplatte. Sie schnappt nach Luft. Seit fast drei Jahrzehnten leidet sie in Schüben an Multipler Sklerose, seit einigen Monaten hat sie einen fünffachen Bandscheibenvorfall. Das wissen aber die ­wenigsten. Die Arbeit in der Suppenküche lenke sie von den Schmerzen ab, sagt sie, es tue ihr gut, gebraucht zu werden. Vor fünf ­Jahren wollte Lis nur einmal einen Topf mit gekochtem Essen abgeben. Dann fragte jemand: "Und morgen?" Am nächsten Abend beobachtete sie, wie ein älterer Obdachloser in einen abgewetzten Lederkoffer griff, ein gestreiftes Jackett herauszog und seine schmutzige ­Wes­te hineinlegte. Mit einem Kamm fuhr er sich mehrmals durch die langen grauen Haare. "Ich wusste: Der macht sich fein, um bei uns zu essen", sagt sie. Sie traf eine ältere Frau, die trotz quälenden Hungers ein rotes Kleid trug und versuchte, sich zu schminken. "Ich dachte: Mein Gott, das ist die Generation, die Deutschland für uns aufgebaut hat, die sich den Buckel krumm gemacht hat. Jetzt haben die Hunger. Ich hole was zu essen", sagt sie.

Wer bei "Ingos kleiner Kältehilfe" mithilft, hat oft selbst bereits Leid erlebt

Eine knappe Stunde später haben rund 80 Gäste ihr Essen bekommen. Lis sitzt vorne am Eingang. Ihr Kopf ruht auf ihren Armen, die sie auf den Schreiber-Tisch gelegt hat, so dass nur ihre grauen Haare zu sehen sind. Langsam hebt sie den Kopf. "Ich komme nicht mehr hoch", sagt sie halblaut, dann laut in Richtung der Holztheke, "kann mich jemand in der Küche ablösen?" Die Helfer vor und hinter der Theke räumen auf, putzen, essen weiter. "Lis fragt, weil sie nicht mehr kann!", schreit jemand. ­ Lis ist nicht die einzige Person unter den ­Helfenden, die trotz Schmerzen arbeitet. ­Dennoch ist sie mehrmals in der Woche in und für die Kältehilfe aktiv.

Am 14. Oktober veranstaltet die Kältehilfe einen Tag der offenen Tür, um weitere Helfende und Sponsoren zu gewinnen. Auf dem Tresen stehen Kuchen, davor Ortsgruppen verschiedener Parteien. Lis raucht im Hinterhof auf einer der Bierbänke, auf denen sonst die Gäste beim Essen Platz nehmen, umringt von anderen Helfern. Sie wirkt erleichtert, dass diese für Ingos kleine Kältehilfe wichtige Veranstaltung gut abläuft. In zwei Wochen beginnt die Wintersaison. Dann ist die Kältehilfe jeden Abend geöffnet. Eine engagierte Helferin neben mir sagt mehr zu sich selbst als in die Runde: "Hoffentlich muss ich nur zweimal die Woche kommen." Dieser Satz hallt lange in mir nach.

Ich habe mich entschieden, weiter zu helfen.

Infobox

Spenden an: Hand in Hand e. V., Sparkasse ­Saarbrücken, IBAN: DE11 5905 0101 0067 0935 59

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