Junge Frau mit langen, rot gefärbten Haaren, läuft in einer Parkanlage an einem Bach entlang
Nidal*, 23, fühlt sich auch in Europa nicht frei
Sophie Pausch
Repression in der Heimat
Wie eine Studentin aus Saudi-Arabien Europa erlebt
Wirklich offen reden, gar auf Demonstrationen gehen kann die junge Frau auch in Europa nicht, denn nach dem Studium geht es wieder zurück in ihr Heimatland
03.01.2024
3Min

Nidal*, 23:

Ich wollte immer weg aus Saudi-Arabien. Ich ­hoffte, die Kette um meinen Hals würde sich lösen, wenn ich nur ins Ausland könnte. Seit zwei Jahren ­studiere ich in einem europäischen Land. Aber ich werde zurückkehren müssen.

Meine Eltern sind konservativ, aber nicht besonders religiös. Ihnen ist wichtig, was die Leute ­denken, aber zu Hause oder in unseren Urlauben in dem südasiatischen Land, aus dem meine Mutter kommt, ­konnten wir offener reden und uns freizügiger kleiden. Meine Eltern haben geheiratet, weil es für beide Vorteile hatte. Meine Mutter kommt aus einer armen Familie, sie suchte nach Sicherheit, mein Vater wollte eine schöne junge Frau.

Weil ich aussehe wie meine Mutter, eher asiatisch als arabisch, galt ich schon im Kindergarten als anders, ­obwohl ich aus einer angesehenen Familie komme. In Saudi- Arabien leben und arbeiten viele Menschen aus Süd­asien, sie haben weniger Rechte als Saudis und werden als ­minderwertig angesehen. Ich wurde bis zur Mittelschule wegen meines Aussehens gemobbt. Die Erfahrung, ­sowieso nicht dazugehören zu können, hat mich kritisch gegenüber den herrschenden Normen gemacht.

Als ich elf, zwölf war, trendeten die ersten Videos von ­Loujain al-Hathloul, einer Aktivistin für Frauenrechte. Ich war fasziniert, aber damals dachte ich noch, dass die Ungerechtigkeiten in Ordnung wären. Obwohl sich die ungleiche Behandlung von Frauen tief in meinem Inneren nie richtig angefühlt hatte. Zum Beispiel, dass Frauen bis vor kurzem einen männlichen Vormund brauchten, wie Minderjährige. Ich habe dann viel gelesen. Die Opposition findet in den sozialen Medien statt, unsere einzige Waffe.

Ich bin bisexuell

Mit 14, 15 ist mir bewusst geworden, dass ich bisexuell bin. Das ist ein weiterer Grund, weshalb ich mir nicht vorstellen kann, dauerhaft in Saudi-Arabien zu leben. Eine Frau könnte ich dort nur im Hyperprivaten lieben. Aber ich muss zurück, mindestens für eine Weile, weil ich mich gegenüber Geldgebern dazu verpflichtet habe. Ich hoffe, dass ich später, wenn meine Schulden abgegolten sind, ­einen Job in Europa finde.

Leseempfehlung

Seit Kronprinz Mohammed bin Salman regiert, hat es Änderungen gegeben. Frauen dürfen jetzt reisen, Auto fah­ren und auch allein in einer Wohnung wohnen. Aber meiner Einschätzung nach ist vieles nur für das ­Ansehen Saudi-Arabiens im Westen gemacht worden. An der ­extrem frauenfeindlichen Haltung der Menschen hat sich nichts geändert, auch nichts an der Klassengesellschaft, in der männliche Saudis aus den richtigen Familien am höchsten stehen und weibliche Arbeitsimmigranten am niedrigsten. Und öffentliche Kritik an der Regierung ist immer noch lebensgefährlich.

Ich erinnere mich noch gut an die ersten Tage nach der Ankunft in Europa. Freiheit, das war für mich ­damals das Gefühl des Windes, der durch meine Haare weht. In der Stadt, in der ich aufgewachsen bin, mussten wir einen Gesichtsschleier tragen, wenn wir nicht be­leidigt oder be­lästigt werden wollten. Natürlich ist für mich Freiheit mehr, als tragen zu können, was ich will. Ich sehe große Ungerechtigkeiten hier: Menschen, die sich entweder ­Essen kaufen oder ihre Stromrechnung ­bezahlen ­können. Freiheit muss entwickelt werden, überall. Frauen­feindlichkeit ist weniger offensichtlich, aber ich erlebe sie auch hier.

Kritik wird geahndet

Schmerzlich für mich ist, dass ich selbst hier nicht ­offen protestieren kann. Ich engagiere mich für Klimaschutz und für soziale Gerechtigkeit, aber mir bleibt nur unterstützende Arbeit im Hintergrund. Die saudische Regierung ahndet jede Form von Kritik, auch im Ausland. Loujain al-Hathloul, die Aktivistin, die ich so sehr bewunderte, saß drei Jahre im Gefängnis, vermutlich wurde sie gefoltert. Eine Doktorandin, die wie ich im Ausland lebte, wurde vor einem Jahr während eines Heimatbesuchs zu jahrelanger Haft verurteilt – wegen Tweets zu Frauenrechten.

Ich muss sehr vorsichtig sein. Selbst wenn ich es ­schaffe, eines Tages dauerhaft in Europa zu leben, werde ich bei meinen Äußerungen die Willkür der saudischen ­Regierung berücksichtigen müssen. Es sei denn, ich ­breche mit meiner Familie und reise nie wieder in mein Heimatland. So, wie ich hier stehe, bin ich nicht frei. Die Kette um meinen Hals ist, seit ich in Europa lebe, deutlich leichter geworden, mittlerweile sitzt sie auch lockerer. Aber sie ist immer noch da.

Protokoll: Sophie Pausch

* Name zum Schutz der Person geändert

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