Das Medienhandicap des Protestantismus ist eigentlich eine Stärke
30.11.2010

"Trompeten und Trommeln im Norden. Die Zuschauer haben gewartet, geschwitzt, wurden übellaunig, haben sich wieder beruhigt, den glühendheißen Tag und ihre Nachbarn erduldet, doch jetzt scheint ihre Geduld bald belohnt zu werden. Klatschfetzen sind durch die Menge geflogen... (Der Papst) zwinkert im grellen Licht, seine Geduld verebbt schneller. Eine Gestalt bewegt sich schwankend unter überhängenden Häusern. Geschmeidige Geschöpfe, von Männern mit Turbanen an Ketten geführt, gehen ihr voraus und betonen ihre Größe, ihre Masse. Die Schatten schwinden, und er kann die Blicke seiner Kardinäle spüren. Er rutscht unruhig auf seinem Sitz herum, kann nicht stillhalten, möchte, kann nicht. Das Tier kommt aus dem dunklen Korridor heraus, und die Augen des Papstes weiten sich. Es bleibt im jähen Sonnenlicht stehen und reckt den Kopf himmelwärts. Der Papst erhebt sich und streckt die Arme aus, als wolle er beifällig klatschen."

Im farbenprächtigen Zeitalter des Medici-Papstes Leo X. (1513 ­ 1521) bedarf es eines urgewaltigen Tieres, um die Massen zu begeistern, wie der Schriftsteller Lawrence Norfolk in seinem Roman "Ein Nashorn für den Papst" hintersinnig erzählt. Es ist erstaunlich. Vielleicht sogar ein Wunder. In unserer ästhetisierten Lebenswelt, die noch sehr viel bunter und lauter ist als die der Renaissance, ist dieser Aufwand gar nicht nötig! Das öffentliche Sterben eines Papstes. Ein Konklave. Eine Papsteinführung mit dreistündiger Messe. Und die Massen sind schier begeistert. Der Medienpapst selbst ist die Attraktion.

Was tun die Protestanten angesichts von Papstwahl und Weltjugendtreffen?

Im Kernland der Reformation titelte nach der Wahl des deutschen Kardinals Ratzinger die Zeitung mit der fraglos stärksten Gefühlskompetenz: Wir sind Papst. Wenig gentlemanlike wählte die britische Zeitung "The Sun" als Überschrift: From Hitler Youth to Papa Ratzi. Zumindest der Ausdruck Papa Ratzi traf aber erstaunlich genau, was sich in wenigen Tagen abspielte, denn allen Unkenrufen zum Trotz zeigte sich vor den Augen der staunenden Menge, wie elegant der Kardinal Ratzinger seine Rollen zu wechseln verstand. Über die Nähe und die Ferne des Katholizismus zur Moderne darf man genüsslich streiten, aber fraglos ist, wie souverän der neue Papst in die neue Rolle schlüpfte, wie aus dem unbeugsamen Hüter in Glaubensfragen ein milde lächelnder, knuffiger Papst wurde, als wollte er den hypermodernsten Rollentheoretikern demonstrieren, wie ihre Lehren auch gelebt werden können. Und in einer wundersamen Schnelligkeit wurde aus dem hochreflektierten Dogmatiker ein kluger Elementarlehrer: "Wer glaubt, ist nicht allein", lautete seine erste frohe Botschaft, die die Länge einer "Bild"-Schlagzeile nicht überschritt.

Der "Spiegel" erfand die JP2-Generation, man kann vermuten, dass sie ohne Brüche in eine BENE16-Generation mündet. Die Motivlagen dürfen vielfältig sein. Vielleicht sind es Reaktionen auf die leisen Dramen, 68er-Eltern zu haben. Deren psychologischer Selbstfindungsparcours schreckt offensichtlich immer mehr ab. Man sucht eine Bindung, an der man sich reiben kann. Hinzu kommt eine Oberflächenmüdigkeit. Die Suche nach Authentizität in einer Medienwelt voller Doubles findet in der Figur des Papstes ihr Ziel. Attraktiv für die Jugendlichen scheint zu sein, dass sie hier auf eine Person treffen, die für das einsteht, was sie sagt. Man wird dieser BENE16-Generation nicht vorschnell vorwerfen dürfen, sie sei bedürftig nach Komplexitätsreduktion oder sehne sich nach vormodernen Strukturen. Viele der JP2- und jetzt BENE16-Anhänger pflegen keine engen kirchlichen Bindungen, sind zwar religiös sehr interessiert, sehen aber etwa Fragen der Empfängnisverhütung ganz anders als dieser Papst. Offensichtlich schadet das nicht der Begeisterung. Wir sind Papst, okay, aber wir sind doch auch davon entlastet, alles eins zu eins einzulösen. Die katholische Medien-Ikone ist Klasse, aber über die Inhalte kann man entspannt streiten. Und man muss kein Prophet sein, um zu ahnen, dass die Papamania bei dem anstehenden Weltjugendtreffen anhalten wird.

Und die Protestanten? Ich jedenfalls habe wie ein echter Paparazzi mit großer Begeisterung hingeschaut und den Papst auf den Schirmen verfolgt. Jetzt, nachdem der erste Hype abgeflaut ist, bin ich nachdenklich geworden. Es geht auch um Machtfragen, um eine religiöse Ökonomie, wer will das leugnen. Dass das Konklave mit der Wahl des deutschen Kardinals auch das Mutterland der Reformation beglücken wollte, steht außer Frage. Das bietet aber auch die Chance, die eigene Position erneut zu schärfen.

Um ein Nachäffen kann es nicht gehen. Die Performance, die der Protestantismus zu bieten hat, ist in dieser Hinsicht fraglos zweitklassig. Ein evangelischer Bischof im Bratenrock mit Stehkragen oder im Janker mit Kreuz um den Hals muss gegen die farbensatte Inszenierung auf dem Petersplatz verlieren. Freundlich formuliert: Der Protestantismus pflegt die Ästhetik der Schwarz-Weiß-Fotografie, als sei der geschasste Art-Direktor des guten alten "Spiegels" Berater der Evangelischen Kirche in Deutschland geworden. Weniger freundlich ausgedrückt: Die Auftritte wirken, als habe der Theatermacher Christoph Schlingensief im Fundus gekramt, um die bekannten Vorurteile, der Protestantismus sei sinnenfeindlich und feieruntüchtig, auf einen Blick sinnfällig zu machen. Bereits um die Mitte des 18. Jahrhunderts hat sich der Berliner Spätaufklärer Friedrich Nicolai in seinem Roman "Sebaldus Nothanker" seitenlang über die Mode und den Symbol-Wirrwarr der protestantischen Geistlichen lustig gemacht. In Modefragen ist man offensichtlich nicht weitergekommen. Die Entscheidung zwischen Kenntlichkeit und basisdemokratischer Unkenntlichkeit ist nie gefällt worden. Im Zweifelsfall dann lieber in Zivil.

Bildung statt medialer Bannung: der Protestantismus ist ideologiekritisch

Das protestantische Selbstbewusstsein speist sich aus anderen Quellen. Der Protestantismus traut dem einzelnen Gläubigen zu, ein Navigationssystem auszubilden, um auf dem Meer der Glaubensangebote vor Untiefen geschützt zu werden. Pastoren und Pastorinnen ermuntern ­ inzwischen nicht mehr nur verkopft, sondern auch sinnenfreudig ­ die Gläubigen zu einer selbständigen Aneignung der Glaubensüberlieferung. Aufklärung ist manchmal schmerzhaft und Bildung tut manchmal weh ­ das stimmt. Wir muten viel zu, weil wir ein ungebrochenes Zutrauen in die Urteilskraft der Gläubigen besitzen. Die Nähe der Pastoren und Pastorinnen zur Gemeinde ist auch deshalb häufig sehr viel enger und wärmer als die zwischen katholischen Priestern und ihrer Gemeinde. Die Gottunmittelbarkeit der protestantischen Gläubigen zieht die Distanz zwischen Pastoren und Gläubigen angenehm ein, weil die Kirche, anders als im Katholizismus, kein Heilsinstitut ist. Wo in Südamerika die Nähe zwischen Gemeinden und Priestern zu eng wurde, hat die katholische Amtskirche wohl nicht zufällig mit Angst reagiert.

Der Protestantismus hat stets die Würde und Freiheit des Individuums verteidigt und mit der Unterscheidung zwischen dem Menschen und dem liebenden Gott verbunden. Diese Unterscheidung müsste oft entschiedener eingeklagt werden, zum Beispiel in der Politik und in der Wissenschaft, um die transzendente Instanz als Bezugspunkt jeder Wissenschaft und aller Politik anzumahnen. Mehr Mut also in eigener Sache! Früher hätte man von Ideologiekritik geredet.

Verbinden lassen sich beide Aufgaben, die Bildung der im engeren Sinne Gläubigen und die ideologiekritische Bildung der Entscheidungsträger in Wirtschaft und Politik, aufs schönste an einem ganz speziellen Ort. Wer sagt denn, dass ein farbenprächtiges und faszinierendes Ritual notwendig mit einer hierarchischen und dogmatischen Struktur verbunden sein muss? Das muss es nicht! Der evangelische Kirchentag demonstriert, wie viele Wohnungen es im Hause Gottes gibt ­ so jüngst in Hannover. Hier käme keiner auf die Idee, von einem Relativismus zu sprechen. Der Kirchentag präsentiert das Leben in der Fülle seiner Möglichkeiten. Es wird offen diskutiert mit allen. Und gefeiert wird auch. Von einem Medienhandicap ist hier nichts zu spüren.

Albrecht Dürer, vom Nashorn für den Papst fasziniert, ohne es gesehen zu haben, hat auf seinem berühmten Holzschnitt von 1515 dem Rhinozeros ein zweites Horn auf dem Nacken als Rückenverteidigung hinzufügt. Kleiner zwar, aber sehr effizient. Und ungeheuer elegant. Er wird gewusst haben, warum er es tat. Die Reformation stand vor der Tür.

 

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