Welchen Papst brauchen die Deutschen?
30.11.2010

Als er zum Papst gewählt war, am 2. November 1878, da strahlte Leo XIII. übers ganze Gesicht: "Oh, wie das meine Familie freuen wird!" Außer italienischem Familiensinn hatte der neue Papst noch eine zweite Leidenschaft: lateinische Gedichte schreiben. Schöner als Virgil sind die klassischen Hymnen, mit denen Leo XIII. den Petersdom gefeiert hat, wie er im Schein unzähliger Kerzen erstrahlt: "Sacra iam splendent..."

Kein eiserner Preuße hat Deutschland den konfessionellen Frieden beschert, sondern ein italienischer Papst.

Das ist der Papst, den die Deutschen heute brauchen. Keinen andern. Genau den. Kein Papst der Neuzeit hat uns so viel zugute getan wie dieser. Leo XIII. war es, der mit erlesener römischer Diplomatie Bismarck herausgeholfen hat aus der fatalen Falle seines "Kulturkampfs" gegen die katholische Kirche. Kein eiserner Preuße hat Deutschland den konfessionellen Frieden beschert, sondern ein italienischer Papst.

Im Übrigen war Leo XIII. der Auffassung, dass er nicht unbedingt alles auf der Welt selber am besten zu verstehen brauche. Seine wichtigste Enzyklika hat er sich deshalb in der Schweiz schreiben lassen. Rerum Novarum! Ein sozialpolitisches Programm aus dem Vatikan ­ weitsichtiger, humaner als alles, was die Genossen Schröder & Clement heute in Berlin im Sinn führen. Und bei alledem hat dieser Papst insgesamt sehr wenig an Deutschland gedacht. Ungleich wichtiger schien es ihm, lateinische Hymnen zu schreiben. Oh, die wunderbaren Hymnen, in denen Papst Leo XIII. den Patron der Industriearbeiter "mit den Engelschören" preist: "Te, Joseph, celebrent agmina coelitum!"

Das Papsttum: eine liebenswerte, uralte Dame, zerbrechlich wie China-Porzellan

Von Martin Luther stammt die Idee, die Christenheit bedürfe, um zu genesen, eines deutschen Donnerhalls in Rom. Das Ergebnis jener lutherischen Donnerhall-Therapie hat Conrad Ferdinand Meyer in einen herben kalvinistischen Zweizeiler zusammengefasst: "Der Drache Rom, getroffen bis ins Mark, durch seine Wunder wird er wieder stark." Unsinn! Das Papsttum ist kein höllischer Drache. Diese antike Institution ist eine liebenswerte hochbetagte Dame, so durchsichtig und so zerbrechlich wie uraltes chinesisches Porzellan. Hochbetagte Damen mit Donnerschlägen zu verschrecken ist mehr als unchristlich. Es ist humorlos.

Am Papsttum schwer zu leiden ist nämlich viel leichter, als selber etwas Christliches zu tun.

Liegt es nur an unserer nordischen Biestigkeit, dass wir, seit fünfhundert Jahren schon, so qualvoll am Papsttum leiden? Nein, noch schlimmer. Dies ist ein ernster Fall von religiösem Selbstbetrug. Am Papsttum schwer zu leiden ist nämlich viel leichter, als selber etwas Christliches zu tun. Fast alles, was in der deutschen Christenheit zu tun ansteht, könnten wir selber tun, ohne dass der Heilige Vater einen Finger zu rühren braucht. Das beste Beispiel ist die Politik.

Es waren einmal drei christliche Politiker: Adenauer, Schuman, De Gasperi. Alle drei, auch der Lothringer Schuman, auch der Trentiner De Gasperi, deutscher katholischer Bildung. Den romantischen deutschen Traum vom "christlichen Abendland" hatten sie, alle drei, im Sinn. Aus katholischer deutscher Romantik heraus haben sie die größte politische Leistung des 20. Jahrhunderts vollbracht: die europäische Einigung. Der Papst tat nichts dazu. Wo sind heute die christlichen deutschen Politiker? Wo sind ihre schöpferischen Träume? Wo sind ihre überragenden Leistungen? "Ausgestorben trauert das Gefilde." (Schiller) Dafür leiden wir alle ganz schwer daran, dass der Papst uns noch immer nicht die Fackel des universalen Fortschritts voranschwingt.

Kein Papst hindert die deutschen Katholiken, fast alle Positionen kirchlicher Macht mit Frauen zu besetzen. Regiert wird die deutsche Kirche ja von den bischöflichen Generalvikariaten. So wie es den Kölner Domherren möglich war, eine Frau zur Dombaumeisterin zu ernennen, so wäre es längst möglich, Hunderte von höchst einflussreichen Stellen in den deutschen Generalvikariaten mit Frauen zu besetzen. Warum geschieht das nicht? Ach, es ist so viel leichter für den christlichen Mann, über die Frauenfeindlichkeit des Papstes zu jammern, als auf die eigene Karriere im Speckgürtel der Mutter Kirche zu verzichten.

Speckgürtel-Karriere zu machen ist aber gar nicht das Wichtigste im Leben eines katholischen deutschen Mannes. Wichtig ist, dass er heilig wird. Wo sind die deutschen Heiligen unserer Tage? Wen von uns hindert der Papst daran, heilig zu werden?

Stadtpatron von Rom ist der heilige Filippo Neri. Gelebt hat er unter der Nase des fünften Pius. Pius der Schreckliche, der stolz darauf war, dass in seiner ganzen Amtszeit die Scheiterhaufen in Rom niemals erloschen. Zu eben dieser Zeit tanzte der heilige Filippo Neri mit einem religiösen Straßenkabarett durch Rom, das sich nichts als lustig machte über den Vatikan. Und dabei hat Filippo Neri nicht nur Papst Pius V. überlebt. Er ist sogar heilig geworden. Jeder von uns kann das auch werden. Wenn's sein muss, wie der Stadtpatron von Rom.

Von allen Katholiken dieser Welt sind etwa drei Prozent Deutsche. Mehr als die Hälfte lebt in Südamerika. Der Rest lebt am Mittelmeer oder auf den Philippinen. Aber nicht in Mülheim an der Ruhr. Trotzdem sind wir felsenfest überzeugt, als nächster Papst müsse einer gewählt werden, der die religiösen Aspirationen aus Mülheim an der Ruhr endlich erfüllt.

Nanu! Das hatten wir doch gerade. Was anderes war Johannes Paul II. als genau der Papst, den die Deutschen wollten? In Mülheim an der Ruhr. In Hamburg auch. Nie habe ich atheistische Gesichter so strahlen sehen vor religiöser Begeisterung wie in der Hamburger Medienszene nach Wojtylas Wahl. Jetzt würde alles anders in der Welt! Jetzt, da es den deutschen Kardinälen endlich gelungen war, die italienische Macht im Vatikan zu brechen.

Jetzt mal ganz unter uns: Sich einen Papst zu wünschen genügt jedoch nicht. Man muss auch etwas vom Papsttum verstehen. Es folgt ganz eigenen Gesetzen. Seit Jahrhunderten gilt das elementare Gesetz: Der Papst, der gewählt wird, weil er fortschrittlich ist, wandelt sich im Amt unweigerlich zum Reaktionär.

So war es mit Pius IX. Als Herold der Demokratie und der Liberalität war er 1846 gewählt worden. Als Papst des Unfehlbarkeitsdogmas und der Verdammung von Demokratie und Religionsfreiheit, als reaktionärster Papst aller Zeiten sank er 1878 ins Grab. Was für eine Erblast für seinen Nachfolger. Zum Glück kam dann Leo XIII., der Dichter. Nicht nur zum Glück seiner italienischen famiglia, sondern zu unser aller Glück. Denn er trat als Konservativer an. Deshalb hatte er nicht von vornherein die Zwänge des Amtes gegen sich. Er hatte Spielraum. Mit großer religiöser Intelligenz hat er ihn genutzt. Zum Wohl der Deutschen.

Und der nächste Papst? Ein Bolivianer? Was wird der wohl an den Sonntagen tun?

Und bei alledem hat Leo XIII. seine Zeit nicht damit verbracht, sich Sorgen zu machen, na, sagen wir mal, über die Dränge und Zwänge des Zölibats in Mülheim an der Ruhr. Seine italienischen Verwandten und ihre Kinderchen waren ihm wichtiger. Am wichtigsten war ihm, Macht und Herrlichkeit Jesu Christi zu preisen: "Sit tibi, Jesu, decus atque virtus!" Das ist der Papst, den die Deutschen jetzt wieder brauchen. Genau so einen. Wenn möglich ­ bei Gott ist kein Ding unmöglich ­ denselben redivivus. Und wenn es doch, wie alle Spatzen vom Petersdom pfeifen, ein Südamerikaner wird? Ein Bolivianer vielleicht aus dem Altiplano? Wie wird ihm zumute sein, wenn er am Sonntagnachmittag, zur schönsten Kaffeezeit, herumsitzen muss in der Ödnis seiner Privatbibliothek, ohne familia, einsam und allein? Dann hat er hoffentlich den gleichen Einfall wie Johannes XXIII. kurz nach seiner Wahl.

Zum Entsetzen der Schweizergarde ließ der neue Papst am Sonntagnachmittag ein Auto bereitstellen, stieg ein und gab eine nie zuvor gehörte Anweisung: "Zum Flughafen Fiumicino, bitte!" Um Gottes willen, wollte der Papst, am Sonntag ganz allein, dem Vatikan entfliegen? Nein! Ins Flughafen-Café setzte er sich, an eins von vielen runden Tischchen. Und bestellte sich ein Eis. Ein Eis für sich, den Papa der Kirche, genau so ein Eis wie für die lieben italienischen Kinderlein an den Tischlein ringsum.

Worüber der Papst wohl nachgedacht hat, während er, seine Eiscreme schleckend, zusah, wie die Flugzeuge von Alitalia aufstiegen in den blauen Himmel über Rom? Gott weiß, vielleicht hat er an die Deutschen gedacht. Und dass sie sich Sorgen machen sollten um die Zukunft des Papsttums. Ja doch, gewiss, Sorgen. Aber auch nicht mehr Sorgen als um die Zukunft von Alitalia.

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