Wenn am 23. Mai ein neuer Bundespräsident gewählt wird, hätte Wolfgang Schäuble Grund zum Groll, war er doch selbst ein Favorit für dieses Amt. Doch statt sich zu ärgern, beschäftigt sich der Vordenker der Union längst wieder mit den Grundsatzfragen der Gesellschaft. Sein Appell: Protestanten, mischt euch mehr ein in die Politik! TEXT Wolfgang Schäuble
Wolfgang Schäuble
07.10.2010

Gerade in Zeiten zunehmender Orientierungslosigkeit wird von Christen, und zumal von uns traditionell eher streitbaren Protestanten, Orientierung erwartet. Christentum und Protestantismus ­ beide zusammen sind für die politische Kultur in Deutschland unverzichtbar. Ein solcher Satz ist ­ 200 Jahre nach dem Tode von Immanuel Kant ­ eine Provokation, mögen manche meinen, zumal in einem modernen, aufgeklärten Land, in dem Staat und Kirche laut Grundgesetz voneinander getrennt sind, auch wenn dies von Staatskirchenrechtlern als eine "hinkende Trennung" im Blick auf Militärseelsorge, theologische Fakultäten oder den staatlich garantierten Religionsunterricht bezeichnet wird.

Hat der Protestantismus dir Politik geprägt?

Nun lässt sich schwerlich bestreiten, dass der Protestantismus das deutsche Geistesleben und die deutsche Kultur seit der Reformation nachhaltig geprägt hat. Gilt das auch für die Politik? Darf es dort auch gelten? Fallen nicht ­ geschichtlich gesehen ­ politische Kultur und Christentum sowie Kultur und Protestantismus auseinander? Hatte doch Martin Luther gelehrt, dass nur der einzelne Mensch eine Antwort auf die Frage "Habe ich einen gnädigen Gott?" geben kann und diese Antwort nicht etwa in der Gesellschaft oder irgendwelchen Institutionen zu finden ist.

Konsequenterweise haben sich die religiösen Bemühungen vieler Christen eher auf die Innerlichkeit und nicht auf die Welt der Politik gerichtet. Zudem hatten sich die Landeskirchen in Deutschland traditionell mit ihren Landesherren verbündet, der obrigkeitlichen Autorität für alle Gläubigen. In den calvinistisch geprägten Staaten, in den Niederlanden, in Schottland oder in Neuengland als puritanischem Vorposten in den Vereinigten Staaten, sah dies anders aus. Dort stand die selbst verwaltete Gemeinde im Vordergrund, die in Glaubensfragen keinen Bischof oder andere Lehrautoritäten bemühen mochte. Eigenverantwortlich gestalteten sie ihr Gemeinwesen und trugen so entscheidend zu der Entwicklung einer politischen Kultur bei, die bis heute die Vereinigten Staaten und ihre Verfassung prägt und die Trennung von Staat und Kirche begründet.

Während der Laizismus in Frankreich den Staat vor der Kirche schützen wollte, war es Anliegen der puritanischen Gründerväter in Amerika, aufgrund ihrer Erfahrung religiöser Verfolgung in Europa die Religionsgemeinschaften vor dem Zugriff des Staates zu schützen. Während in Frankreich eine laizistisch geprägte Kultur entstand, entwickelte sich in Amerika eine stark religiös geprägte Kultur, in der nach jüngsten Umfragen bis heute ein erklärter Atheist von einer großen Mehrheit der Amerikaner als ungeeignet für das Präsidentenamt beurteilt wird.

Es ist kein Geheimnis, wie schwer sich die Deutschen nicht nur mit der Erkämpfung einer parlamentarischen Demokratie, sondern auch mit der Ausbildung demokratischer Verhaltensmuster getan haben. Das galt zuweilen auch für die Kirchen. Aber auch unser Land wäre sehr viel ärmer ohne den christlichen Glauben und ohne Kirchen. Unser gesellschaftlicher Zusammenhalt wäre geringer, als er es ohnehin schon ist, unser Wertebewusstsein wäre weniger ausgebildet und unser politisches Streben richtungs- und perspektivloser. Trotz aller Tendenzen zur Säkularisierung hat unser Land christliche Wurzeln, in seiner Geschichte, seinen Gesetzen und dem vorherrschenden Werteverständnis seiner Bürger. Weil der freiheitliche Staat auf solchen Voraussetzungen gründet, muss er für ihre Bewahrung auch aktiv eintreten.

Unsere Gesellschaft ist nicht unbestimmt interreligiös, sondern multireligiös

Würde der Staat auf die Vermittlung christlicher Inhalte in dem von den Kirchen verantworteten Religionsunterricht verzichten, so würden Schüler beim Besuch von Speyer, Köln, Magdeburg, Wittenberg oder Augsburg wie kulturelle Analphabeten durch die Straßen und Kirchen laufen. So wie Universitäten nicht interdisziplinär, sondern multidisziplinär sind, so ist unsere Gesellschaft nicht unbestimmt interreligiös, sondern multireligiös -­ mit einem klaren Schwergewicht auf den beiden großen christlichen Kirchen, denen immer noch zwei Drittel der Bevölkerung angehören. Und dies bleibt nicht ohne Konsequenzen für unsere politische Kultur, unsere Wertvorstellungen und unser Weltbild. Auch der interreligiöse Dialog wäre eine leere Hülle, wenn er nicht von gläubigen Menschen geführt würde, die ihre jeweilige Religion nicht nur verwalten, sondern leben. Wenn ein Staat aus falsch verstandener Neutralität eine ganze Lebensdimension, die für viele seiner Bürger prägend ist, aus dem gesellschaftlichen Leben herausdrängt, überschreitet er seine Kompetenz.

Das Christentum ist Teil unserer Kultur, die ihren Ausdruck auch in unseren Rechtsordnungen findet. In ihr ist die Ausübung der positiven Religionsfreiheit ein so hohes Gut, dass Schüler mit Kopftuch mit Blick auf die Religionsfreiheit, aber auch auf das Erziehungsrecht der Eltern anders zu schützen sind als staatliche Lehrkräfte mit Kopftuch, dass Teilnehmer an einer Gerichtsverhandlung ein Kopftuch tragen dürfen, ein in hoheitlicher Funktion tätiger Richter aber nicht. Religion und Religionsausübung ist eben nicht nur Privatsache, sondern Ausdruck der Persönlichkeit, die vom Staat nicht ausgeklammert werden darf. Nur so kann Religion zum kulturellen und politischen Leben beitragen in einem Prozess, in dem sich Staat und Kirche als Partner gegenseitig befruchten statt hemmen sollten, ohne einander nach dem Munde zu reden.

Die Vorläufigkeit allen menschlichen Tuns

Christen bringen in unsere politische Kultur noch Weiteres ein, zum Beispiel ein Verständnis von der Vorläufigkeit allen menschlichen Tuns. "Wo immer einer in der Welt nicht mehr weiß, dass er höchstens der Zweite ist, da ist bald der Teufel los", sagte der katholische Bischof Joachim Reinelt 1995 bei einer Feier zum Gedenken an die Zerstörung Dresdens. Die christliche Überzeugung der Welt als eine "vorletzte" Dimension ist für Politik und politische Kultur entscheidend. Die Erkenntnis der Vorläufigkeit des Handelns bewahrt einerseits vor Verblendung, andererseits befreit sie die politisch Handelnden von der Last, "letzte Dinge" zu entscheiden, und macht sie erst frei zur politischen Gestaltung und Verantwortung.

In meiner badischen Heimat wurden 23 Geistliche für ihr politisches Engagement durch staatliche Gerichte gnadenlos mit Haftstrafen belegt und verloren ihre kirchlichen Ämter. Dies fand nicht etwa zu Zeiten des Nationalsozialismus, sondern in den Revolutionsjahren 1848/49 statt. Das Großherzogtum Baden war ein Zentrum von demokratischem und republikanischem Geist, seine Wurzeln lagen im Protestantismus. Pfarrer, Theologen und Bürger waren sich einig in ihrer Forderung nach politischer Freiheit. Sie ging noch über Martin Luthers "Freiheit eines Christenmenschen" hinaus und machte auch vor einer Reform des landesherrlichen Kirchenregimentes nicht Halt. Synodalverfassung, Einbeziehung der Gläubigen, mehr Autonomie im Verhältnis von Staat und Kirche: Das waren die protestantischen Reformforderungen, die zusammen mit den politischen Forderungen am Ende allerdings blutiger staatlicher Unterdrückung zum Opfer fielen.

Dieser liberale, politisch aktive Protestantismus war keine Massenbewegung, konnte aber doch bleibende Spuren hinterlassen. Daher muss das Bild vom staatstreuen, obrigkeitsfixierten Protestantismus ergänzt werden: Evangelischer Glaube zeigte mit der Rezeption der Aufklärung auch immer ein offenes, kritisches, der Menschlichkeit zugewandtes Gesicht. Liberaler Protestantismus umfasst dabei das Streben nach religiöser, aber eben auch politischer Freiheit. Daran konnte die evangelische Kirche nach dem Kirchenkampf anknüpfen. Die Kirchen konnten protestantisches Profil gewinnen durch Theologen und vor allem auch Laien, die sich in Staat, Wirtschaft und Gesellschaft engagierten. Der protestantische Imperativ richtete sich nicht nur auf Innerlichkeit und Achtung der Obrigkeit, sondern auch auf die Öffnung hin zur Welt und auf politische Freiheiten.

Damit haben sich die Deutschen und auch der Protestantismus in Deutschland nicht immer leicht getan. Der Berliner Dom zum Beispiel ist allem protestantischen Liberalismus zum Trotz der steinerne Beweis für die unverbrüchliche Allianz von Thron und Altar. Wer dieses Gotteshaus betritt, wird leicht befremdet feststellen, dass nicht nur die Statuen der Reformatoren, sondern auch die der Kurfürsten, die die Reformation unterstützten ­ von Friedrich dem Weisen bis hin zum Bigamisten Philipp von Hessen ­, größer sind als die Darstellungen der vier Evangelisten. Das ist wahrlich ein Beitrag zur kulturellen Allianz von Thron und Altar, theologisch aber wohl ein eher fragwürdiger.

Zwar hat der Protestantismus am Ende des 19. Jahrhunderts versucht, den christlichen Glauben der Reformation mit der aus der Aufklärung hervorgegangenen Kultur der Vernunft in einer religiös begründeten Humanität in Einklang zu bringen, aber der feste Bezugspunkt blieb zunächst die Monarchie und nicht die Demokratie, von späteren Exzessen der Deutschen Christen ganz zu schweigen. Protestantismus hat aber stets viele Gesichter gehabt, sich immer wieder selbst reformiert und steht historisch nicht nur für Thron und Altar, sondern eben auch für obrigkeitskritischen Protest, ob in Wittenberg, in Barmen und auch in Leipzig im Herbst 1989.

Protestantismus als eine entscheidende Keimzelle des Protestes

Trotz aller Irrwege mancher Kirchenführer mit ihrer Anbiederung an die herrschende Klasse der DDR lag doch im Protestantismus eine entscheidende Keimzelle des Protestes: Mutige Pfarrer in Leipzig, Ost-Berlin und anderswo schafften eine Öffentlichkeit, boten Orte, wo sich Menschen sammeln konnten, Kirchenferne wie Kirchennahe. Protestant ist man nicht im stillen Kämmerlein, sondern in der Welt, in der man durch sein Wirken das tut, was Paulus "Zeugnis ablegen" nennt. Man steht seinen Mann oder seine Frau und leistet in Kultur und Gesellschaft seinen Beitrag. Sie zeigen sich zum Beispiel in der Bildungsarbeit der Evangelischen Akademien oder im konfessionellen Religionsunterricht. Ohne solche Beiträge kommt kein Gemeinwesen aus, egal wie ausgefeilt seine Verfassung sein mag.

Zur politischen Kultur gehört auch die protestantische Überzeugung, dass der Mensch allein durch den Glauben vor Gott gerechtfertigt ist. Jeder Mensch besitzt eine unverfügbare Würde als zur Freiheit berufenes Wesen, das Verantwortung übernimmt. Er besitzt die grundsätzliche Anerkennung der Anderen und der menschlichen Gemeinschaftlichkeit, die keinen ausgrenzt. Er kommt in den Genuss und verpflichtet sich selbst, die Grundwerte Frieden, Gerechtigkeit, Solidarität mit Leben zu erfüllen ­ mitsamt der Verantwortung für die Schwachen und einer politischen Ethik, die die minima moralia, die ethischen Kernwerte unseres Gemeinwesens, festhält. An diesen minima moralia markiert sich die Grenze von Religionsfreiheit: Eine Religionsgemeinschaft, die die Würde des Menschen für verfügbar hält oder demokratische Ordnungen des gemeinschaftlichen Zusammenlebens ablehnt, kann keinen Schutz der positiven Religionsfreiheit reklamieren, sofern sich ihre Aktivitäten gegen unsere freiheitliche demokratische Grundordnung richten. Ein Rechtsstaat kann nicht hinnehmen, wenn ein Kalif von Köln durch die Gründungen eines Gottesstaates im Staat Tatsachen zu schaffen versucht, die die freiheitliche demokratische Grundordnung aushöhlen.

Es heißt, dass es um den politischen Einfluss der Kirchen in der bundesrepublikanischen Realität nicht gut bestellt sei. Natürlich stimmt es: Das Vertrauen in die Kirche ist gesunken, zunehmend mehr Menschen kehren ihr den Rücken, und von einer Rechristianisierung in den neuen Bundesländern kann keine Rede sein. Auch wenn mir die Rede von der Volkskirche ohne Kirchenvolk übertrieben scheint ­ immerhin bringen die Kirchen in Deutschland mit sieben Millionen am Wochenende mehr Menschen auf die Beine als der Deutsche Fußball-Bund ­, hat die Kirche als Institution momentan zu kämpfen. Aber das tut sie nicht zum ersten Mal in ihrer Geschichte, und bisher hat sie durch 2000 Jahre hindurch eine Kontinuität vermittelt, die kein Weltreich je erreicht hat. Nicht nur für die katholische Kirche gilt, dass sie keine Divisionen hat und auch nicht braucht.

Die politische Kultur unserer freiheitlichen Demokratie bedarf gerade deshalb der Unabhängigkeit und der Bereitschaft des Christen, sich politisch einzumischen. Wer in die Politik geht und die Arbeit dort im Sinne Max Webers als seinen Beruf versteht, der muss für das Bohren dicker Bretter auch die nötige Standfestigkeit und Geduld mitbringen. Und wer sich als Bürger in einer politischen Sache engagiert und für eine bestimmte Problemlösung kämpft, der kann sich angesichts der komplexen Probleme und der verwickelten Prozesse politischer Willensbildung schnell ohnmächtig fühlen und resignieren. Christen sind da meiner Erfahrung nach enttäuschungsresistenter, denn ihre Kraft, ihre Motivation ist nicht allein weltlich, sondern kommt aus dem unverfügbaren Grund des Glaubens und der Hoffnung. Der jüngst verstorbene Sir Peter Ustinov beschrieb das Wesen von Hoffnung so: Wer statt Erwartungen Hoffnungen hat, wird in seinem Leben weit weniger enttäuscht. Als Christ wird man gelassener und nimmt sich selbst weniger wichtig. Das setzt allerdings auch voraus, dass Innerlichkeit und Spiritualität mit dem Engagement für weltliche und politische Belange in einer Balance stehen.

Das Christentum erinnert uns daran, dass wir uns dem Vorletzten zu stellen und es mit dem Blick auf das Letzte auszufüllen haben. Dieses Bild vom Letzten und Vorletzten verdanken wir Dietrich Bonhoeffer. Die Erfahrungen des vergangenen Jahrhunderts haben gezeigt, wie schnell sich totalitäre Systeme im politischen Raum breit machen können. Christen dürfen den Versuchungen und Verführungen des Absoluten nicht nachgeben, auch wenn diese heute in neuem Gewand daherkommen, etwa in dem des Extremismus, des religiösen oder politischen Fundamentalismus oder auch in dem eines einseitigen Wissenschaftsglaubens. Dabei gilt aber auch umgekehrt, dass die Politik die Kirchen daran erinnern muss: Der Glaube führt nicht zu allein gültigen politischen Positionen, wie sie in den beiden vergangenen Jahrzehnten bei den Themen Atomenergie oder Nachrüstung zu beobachten waren. Gerade christliches Denken sollte zur Einsicht führen, dass Menschen Fehler machen und Fehleinschätzungen erliegen.

Wir brauchen den Protestantismus

Wir brauchen den Protestantismus, der die reformatorischen Erfahrungen seiner historischen Entwicklungen bewahrt: das theologische Ringen um religiöse und politische Identität, die kritische Auseinandersetzung mit den sozialen und wirtschaftlichen Verhältnissen, die prägende Erinnerung an die Emanzipation des Individuums vom Staat. Wir erfahren nicht nur im parlamentarischen Raum, sondern in vielen anderen Bereichen öffentlicher Auseinandersetzung, dass ein "Dienst nach Vorschrift" oder das schlichte Befolgen altbewährter Denkmuster und Spielregeln in Zeiten grundlegender Veränderungen nicht mehr ausreichen.

Hier wächst beiden Kirchen immer mehr die Aufgabe zu, die Fähigkeit zur Kommunikation und zur Auseinandersetzung zwischen Menschen und Organisationen wiederherzustellen. Es gibt viele erfolgreiche Beispiele dafür: Ich denke an die "runden Tische" in der Zeit der Wiedervereinigung Deutschlands, aber auch an Mediationsverfahren, an denen sich Menschen aus den Kirchen beteiligten, um Kompromisse zu finden und neue Wege zu beschreiten.

Solcher Menschen bedarf es, um Politikern und Wirtschaftsführern, aber auch und vor allem der Bevölkerung Kontinuität und Sicherheit in Zeiten umwälzender Reformen zu vermitteln und so ihr Verständnis und ihre Bereitschaft zum Umdenken zu fördern. Die evangelische Kirche spielt hier mit ihren Denkschriften und Stellungnahmen, ob nun zur Wirtschafts- und Sozialpolitik, früher zur Ostpolitik oder zur Asylfrage, eine entscheidende Rolle. Das hat damit zu tun, dass sie als neutrale Vermittlerin jenseits des parlamentarischen Diskurses steht.

Mahner zu sein bedeutet aber auch, dass der Protestantismus zuweilen auch noch stärker Position beziehen sollte. Ansonsten wird er schnell zum einsamen Rufer in der Wüste. Obwohl wir intuitiv milde Richter und tolerante Kirchen wollen, sind Kirchen, die keine klar erkennbare Position beziehen, gehaltlos und entsprechend leer. Ich nenne hier exemplarisch die Frage nach der Sonntagsruhe: Es ist nicht nur ökonomisch kurzsichtig, diese von Odo Marquardt als "Moratorien des Alltags" bezeichneten Freiräume, jene Zeit der Zurüstung, immer mehr zu opfern.

Ähnliches könnte man beim Thema Religionsunterricht an Schulen feststellen, wo sich evangelische und katholische Kirche noch weitaus vernehmlicher äußern sollten. In einem solchen Unterricht muss der Zusammenhang zwischen Religion, menschlichem Leben und demokratischer Gesellschaft dargestellt werden, und dies nicht nur beschreibend in einem Lebenskundeunterricht wie beim Fach LER, sondern durch Lehrer, die ihr Fach persönlich engagiert und glaubhaft vertreten. Religiöse Urteilskraft entsteht nur durch glaubwürdige Vorbilder, mit denen sich Schüler auseinander setzen können. Auch das ist Teil unserer politischen und gesellschaftlichen Kultur.

Die Gestaltungsfähigkeit der Politik ganz neu herausgefordert

Die Gestaltungsfähigkeit der Politik wird angesichts der heraufziehenden Probleme des 21. Jahrhunderts ganz neu herausgefordert. Wenn André Malraux gesagt hat, dass dieses Jahrhundert entweder ein religiöses Jahrhundert sein wird oder eben nicht sein wird, erinnert uns das daran, dass sich ein viel beschworener "Kampf der Kulturen" sicherlich nicht dadurch umschiffen lässt, dass sich der Westen zur laizistisch-kulturfreien Enklave erklärt.

Im Gegenteil: Wenn wir uns mit den Religionen auseinander setzen, ist das eine der intensivsten Auseinandersetzungen mit uns selbst und unseren Werten, als Individuum wie auch als Gesellschaft. Der Protestantismus ist und bleibt für eine freiheitliche demokratische Kultur der Bundesrepublik Deutschland unverzichtbar. Eine Gesellschaft, die sich im Streben nach einem falsch verstandenen Laizismus dem verschließen und persönlich gelebte Religiosität ins Private verbannen wollte, legt die Axt an ihre eigenen Wurzeln.

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