Wie geht es Menschen in der Nähe vom ukrainischen Bachmut?
Mit dem schönen Wetter kommen die Bomben
Aus Tschassiw Jar nahe Bachmut sind die meisten Leute geflohen oder evakuiert. Svetlana und Igor, Zinaida und die Soldaten sind geblieben. Sie versuchen in der ostukrainischen Kleinstadt zu überleben.
Weder das Donnern der Artillerie noch der Rauch der Bombenangriffe hält Sergei und Dima davon ab, den alten roten Lada zu waschen. Tschassiw Jar, Ukraine, 10. April 2023.
Weder das Donnern der Artillerie noch der Rauch der Bombenangriffe hält Sergei und Dima davon ab, den alten roten Lada zu waschen.
Antoni Lallican und Johanna-Maria Fritz / Ostkreuz
23.05.2023
8Min

Aus einem Hinterhof am Stadtrand von Tschassiw Jar feuern ukrainische Soldaten mit einer 105-mm-Kanone auf russische Stellungen in drei Kilometern Entfernung

In Tschassiw Jar treiben die Bäume entlang der deformierten Straßen junge Blätter aus. Es ist der zweite Frühling seit Beginn der Invasion. "Ultra", früher Poolbauer, jetzt stellvertretender Kommandeur der 57. motorisierten Infanterie­brigade, schaut nach oben. "Der Himmel ist klar – gute Sicht für russische Drohnen", sagt er.

Mit dem schönen Wetter kommen auch die Bomben. Die Kleinstadt liegt westlich von Bachmut, wo die russischen Truppen auf dem Vormarsch sind und die ukrainische Armee eine Gegenoffensive plant. Tschassiw Jar dient der ukrainischen Armee als Rückzugsort. Seit Mitte Februar wird sie täglich bombardiert.

Die Soldaten der 57. motorisierten Infanteriebrigade sind am Stadtrand für die Luft­verteidigung über der Stadt zuständig. Sie hocken auf der Ladefläche eines Last­wagens neben einer 23-mm-Kanone, als plötzlich in der Ferne ein Knall ertönt. "Es kommt auf uns zu!", ruft Ultra, bevor er vom Fahrzeug springt, um sich in Sicherheit zu bringen. Zusammengekauert in einem kleinen Erdloch warten sie auf das Ende des russischen Artillerie­beschusses.

Eineinhalb Stunden lang kreischen Raketen über ihre Köpfen, ­wenige Dutzend Meter neben ihnen schlagen sie ein. Die Männer rauchen eine Zigarette nach der anderen.

Silhouetten von Einwohnerinnen erscheinen durch einen schwarzen Rauchschleier in einem Stadtteil, der nur wenige Minuten zuvor von der russischen Armee bombardiert worden war. Früher war er Poolbauer, jetzt ist er Soldat. Sein Kriegsname lautet "Ultra"

"Der Himmel ist klar – gute Sicht für russische Drohnen"

Ultra

Die ukrainische Infanteriebrigade ist für die Luftverteidigung über Tschassiw Jar zuständig. Hülsen von 23mm-Geschossen liegen auf dem Boden neben einer Luftabwehrkanone.
Ein ukrainischer Soldat steht nach seinen Verletzungen bei russischen Bombenangriffen auf die Stadt Bakhmut unter Schock. In einem Feldlazarett am Stadtrand von Tschassiw Jar wartet er auf seine Evakuierung

Um die Zeit totzuschlagen, unterhält sich Ultra per Walkie-Talkie mit Franzos, einem seiner Männer. Franzos ist im Haus, das ­ihnen als Stützpunkt dient, geblieben. Zwischen ­einigen Witzen sprechen sie über das ­Abendessen, als ihr Gespräch durch den Knall einer Explosion unterbrochen wird. "Franzos, wie ist die Lage?", fragt Ultra. ­Keine Antwort. Ultras Gesicht versteinert sich, er wiederholt: "Franzos, wie ist die Lage?" Funkstille. Die Männer tauschen besorgte Blicke aus, als eine Stimme aus dem Walkie-Talkie ertönt: "Hier Franzos, die Rakete hat das Nachbarhaus getroffen. Keine Verletzten."

Von ihren Schützengräben aus beobachten die Infanteristen, wie die glühenden ­Partikel der russischen Bomben langsam auf die ­Häuser der Stadt niederprasseln.

Einer der Soldaten merkt an, dass es sich um 9M22S-Raketen handle, die von Grad-­Trägern, Raketenwerfern, vom Boden aus abgefeuert würden. Sie sollen mit ungefähr 180 Magnesiumkapseln beladen sein, eine hochentzündliche pyrotechnische Verbindung.

Der Einsatz solcher Brandwaffen ist durch die Genfer Konventionen streng reguliert, erlaubt ist er gegen militärische Ziele. In einer Gegend mit vielen Zivilisten: ein Kriegsverbrechen. Die Ukraine hat Russland in den letzten Monaten immer wieder Angriffe mit Brandmunition vorgeworfen. Medien wie "Le Monde" oder der "Spiegel" berichteten, dass sie bei Angriffen gegen die Ukraine eingesetzt worden sein könnte.

Igor und seine Mutter Svetlana verlassen den Kellerraum selten. Ihren Holzofen nutzen sie nur nachts, weil der Rauch sie tagsüber verraten könnte.

"Wir hörten einen gewaltigen Knall. Überall war Rauch, der Dachstuhl brannte"

Igor, 28 Jahre alt

Swetlana im Keller ihres Hauses am östlichen Stadtrand von Tschassiw Jar. Dieses Viertel ist besonders intensiven russischen Bombenangriffen ausgesetzt.

In Tschassiw Jar findet man die Überreste dieser Kapseln überall in der Stadt, auf den Bürgersteigen oder vor den Eingängen von Wohnhäusern. Svetlana, 55, und ihr Sohn Igor, 28, sagen, sie hätten sie im Garten ge­funden, nachdem ihr Haus von Bomben getroffen worden war.

privat

Johanna-Maria Fritz

Die deutsche Fotojournalistin Johanna- Maria Fritz (29) und der französische Fotojournalist Antoni Lallican (35) haben als Team bereits in vielen Konfliktgebieten gearbeitet. Sie schreiben auch die Texte und glauben, dass es wichtig ist, die Stimmen der Menschen vor Ort zu hören, um Bewusstsein für ihre Situation zu schaffen.
Privat

Antoni Lallican

Antoni Lallican ist ein in Paris ansässiger Fotojournalist, der in Frankreich und auf internationaler Ebene vor allem über soziale und gesellschaftliche Themen sowie über Konfliktgebiete arbeitet. Seine Arbeiten wurden in der französischen und internationalen Presse veröffentlicht.

Igor erinnert sich noch genau an den 20. März. Er sagt: "Es war gegen 18 Uhr. Wir hörten einen gewaltigen Knall. Ich ging nach oben, um zu sehen, was los war. Überall war Rauch, der Dachstuhl brannte. Ich nahm unseren Feuerlöscher, aber ich musste auch unsere Wasservorräte anbrechen, um das Feuer zu löschen."

Seitdem verlassen ­Mutter und Sohn nur selten den Keller, wo sie Tag und Nacht mit ihren drei Katzen in einem zehn Quadratmeter großen Raum ohne Strom hausen. In fast völliger Dunkelheit leben sie nicht mehr nach der Uhr, sondern nach dem Rhythmus der Bombeneinschläge. Svetlana kocht nur nachts. Tagsüber könnte der Rauch des Holzofens den russischen Drohnen ihre Position verraten. "Das erhöht das Risiko, bombardiert zu werden."

Da die Front in den vergangenen Monaten immer näher rückte, legten Svetlana und Igor Wasservorräte an. Sie haben auch Dutzende Obst- und Gemüsekonserven aus dem Garten vorbereitet und rationiert. Das ermöglicht ihnen, autonom zu leben, jetzt, da es zu gefährlich geworden ist, sich in ihrem Viertel zu bewegen. Ihr Haus liegt am östlichen Rand von Tschassiw Jar – drei Kilometer von den russischen Stellungen entfernt.

Im Schein einer Öllampe, die sie mit einer Sardinenbüchse behelfsmäßig angefertigt hat, erinnert sich Svetlana an ihre Stadt vor dem Krieg. Sie nannte sie die "kleine Schweiz" wegen ihrer grünen Hügel und blauen Wasser­becken, den vollgelaufenen Tongruben der ehemaligen Ziegelfabrik. Mit einem Lächeln auf den Lippen erzählt sie von ihrer Ent­lassung aus der Entbindungsstation nach der Geburt von Igor: "Als ich nach Hause kam, legte ich ihn hin. Ich bereitete einen Kraut­salat vor und stellte die Schüssel auf einen Stuhl neben sein Bett. Da hat Igor in die ­Schüssel gepinkelt! Seitdem essen wir jedes Jahr an seinem Geburtstag Krautsalat."

Das Haus, das sie nicht verlassen will, hat sie gemeinsam mit ihrer Mutter gebaut. Selbst wenn die Russen kommen sollten, werde sie das nicht davon abhalten zu bleiben, versichert sie.

Ein von Bomben getroffenes Haus. Die Statue von Maxim Gorki im Zentrum von Tschassiw Jar: zerstört

Sie und Igor sind die letzten Bewohner ihrer Straße. Einer ihrer Nachbarn weigerte sich ebenfalls zu gehen, doch nachdem er bei einem Bombenangriff verletzt wurde, blieb ihm keine Wahl, auch er wurde evakuiert.

Kontakt zur Außenwelt nur durch Austausch mit Soldaten

Isoliert, ohne Internet- oder Telefonverbindung, können sie nur durch die Detonationen die Situation außerhalb ihrer vier Wände er­ahnen. Ihre einzige Interaktion mit der Außen­welt beschränkt sich auf den seltenen Austausch mit den Soldaten, die sich im Haus gegenüber niedergelassen haben. Dort verschanzt sich eine Artilleriebrigade, die vom Garten aus den ganzen Tag mit einer 105-mm-Kanone auf russische Stellungen schießt.

Die letzten Bewohner Tschassir Jaws ­blicken nicht mehr in die vertrauten Gesichter der Nachbarn, sondern in die ernsten Mienen von Soldaten, gezeichnet von monatelangen Kämpfen.

Eine Frau zieht sich nach einer Artilleriedetonation die Hand über den Kopf, während sie vor dem Zentrum für humanitäre Hilfe in Tschassiw Jar ausharrt.
Maxime und Ira begegnen auf einer Straße im Zentrum von Tschassiw Jar einem gepanzerten Fahrzeug der ukrainischen Armee, als sie mit ihren Motorrollern nach Hause fahren.

In dem Städtchen gibt es kein fließendes Wasser, keinen Strom mehr, von einst 13 000 Einwohnern sind wohl rund 1000 Zivilisten geblieben. Wie Schatten sieht man sie durch die mit Trümmern übersäten Gassen huschen.

Sie sind bei Tagesanbruch unterwegs, um Brennholz zu sammeln oder in einem der drei noch geöffneten Geschäfte einzukaufen. Im Stadtzentrum organisieren freiwillige Helfer eine Lebensmittelausgabe in einem Raum, der mit einem Generator und einem Starlink-­Netzwerk ausgestattet ist. Die Leute kommen auch hierher, um sich mit dem Internet zu verbinden und mit ihren Angehörigen zu chatten. Ein letzter Treffpunkt für die Bürger. Am Sonntag, 9. April, liegt das Fragment einer Brand­kapsel vor dem Eingang des Freiwilligen­zentrums, drei Männer diskutieren darüber. "Man sieht sie vom Himmel fallen, aber man weiß nicht wirklich, was es ist", sagt einer.

Am frühen Nachmittag schließt das Zentrum seine Pforten. Denn jeder weiß, dass die Bombenangriffe hier ab 14 Uhr intensiver werden. Zu Fuß oder mit dem Fahrrad eilen die Zivilisten mit Plastiktüten und Wasser­kanistern nach Hause. Der Heimweg führt sie an ukrainischen Panzern vorbei, die an die nahe gelegene Front rasen. Staub legt sich auf die Fassaden der im sowjetischen Stil erbauten Plattenbauten.

Zinaida, eine 76-jährige Bewohnerin von Tschassiw Jar, betet in einem Raum mit Wänden voller orthodoxer Ikonen. Hier lebt sie seit über 30 Jahren allein

"Ich sehne mich nach dem Himmel, hier habe ich das Gefühl, in der Hölle zu sein"

Zinaida, 76 Jahre alt

Drei Stunden am Tag betet Zinaida für den Schutz ihrer Stadt

Zinaida, eine 76-jährige Schneiderin im ­Ruhestand, muss nur 300 Meter von der Innen- stadt zu ihrer Wohnung laufen. Wegen der Liebe zu einem Soldaten verließ sie ihre russische Heimat und zog vor einem halben Jahrhundert nach Tschassiw Jar. Heute lebt Zinaida allein und schöpft die Kraft, trotz der Gefahr zu ­bleiben, aus ihrem Glauben an Gott. In einem Zimmer ihrer Wohnung hat sie einen Andachtsraum eingerichtet, den sie "Kelyia" nennt, ein ukrainischer Begriff für eine Mönchszelle. Als orthodoxe Christin betet sie drei Stunden am Tag für den Schutz ihrer Stadt.

Durch die trüben Fenster ihres Wohnzimmers fällt ein fahles Licht in den mit Ikonenbildern verzierten Raum. "Ich sehne mich nach dem Himmel, hier habe ich das Gefühl, in der ­Hölle zu sein", sagt sie unter den sanften Blicken ihrer Schutzheiligen. Zinaida ist überzeugt davon, dass mit dem Frieden die Zeit der Vergebung kommen wird.

Ultra ist zwar auch praktizierender orthodoxer Christ, aber aus dem Schützengraben heraus scheint ihm Verzeihen unmöglich – "nur Gott kann vergeben".

Brandmunition russischer Bomben leuchtet am Himmel über Tschassiv Jar

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