Eine Frau in Indonesien zeigt Schneidewerkzeuge, mit denen Beschneidungen vorgenommen werden.
Eine Frau in Indonesien zeigt Schneidewerkzeuge, mit denen Beschneidungen vorgenommen werden
Getty Images/AFP/Bay Ismoyo
Beschneidungen
"... sie wird sich niemals auf ein Fahrrad setzen"
Renate Sticke bietet Hilfe für beschnittene Frauen an. Im Interview erklärt sie, warum ihre Arbeit auch hierzulande wichtig ist
Tim Wegner
11.05.2023
5Min

Mitten in Kiel unterhält die Diakonie Altholstein eine Beratungsstelle für Menschen, die mit der rituellen Beschneidung bei Mädchen und Frauen zu tun haben. Warum ist das ein Thema in einem Bundesland wie Schleswig-Holstein?

Renate Sticke: Das ist ein typisches Vorurteil. Beschneidungen? Das betrifft die anderen irgendwo weit weg, in Afrika. Das stimmt so nicht. Beschneidungen gibt es weltweit, unter anderem auch in Indonesien oder Thailand. In Ägypten, einem Urlaubsland, ist jede dritte Frau beschnitten. Und das Problem ist längst in Schleswig-Holstein, Deutschland und Europa angekommen.

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Renate Sticke

Renate Sticke leitet das Projekt "TABU – Anlaufstelle Gesundheit" in Kiel, das zur Diakonie Altholstein gehört.
Tim Wegner

Nils Husmann

Nils Husmann ist Redakteur und interessiert sich besonders für die Themen Umwelt, Klimakrise und Energiewende. Er studierte Politikwissenschaft und Journalistik an der Uni Leipzig und in Växjö, Schweden. Nach dem Volontariat 2003 bis 2005 bei der "Leipziger Volkszeitung" kam er zu chrismon.

Wie ist Ihnen das klar geworden?

2015, als viele Geflüchtete zu uns kamen, arbeitete ich in einer Gemeinschaftsunterkunft. Damals war uns wichtig: Alle Frauen rauf aufs Fahrrad, Schleswig-Holstein ist ein Fahrradland, und wir machen die Frauen mobil. Aber dann merkte ich: Wenn eine Frau massiv beschnitten worden ist, wird sie sich niemals auf ein Fahrrad setzen, weil sie Schmerzen hat. Und dann ziehen sich diese Frauen zurück. Wir wussten schlicht zu wenig über das Problem. Und wenn wir mehr wissen, hilft das allen - uns, die wir uns das Problem gar nicht vorstellen können. Und den Frauen, die merken: Die wollen mich verstehen und mir helfen.

Was passiert bei einer rituellen Beschneidung?

Wir reden immer davon, dass die äußeren weiblichen Genitalien beschnitten werden. Es gibt vier Kategorien. Bei Typ 1 werden die Vorhaut und die Spitze der Klitoris beschnitten. Das sehen wir häufig bei Frauen, die aus dem Irak oder aus Eritrea stammen. Bei Typ 2 werden zusätzlich die inneren und äußeren Vulvalippen in unterschiedlichen Variationen abgeschnitten - angeblich überschüssige Haut wird entfernt. Bei Typ 3 wird das alles auch noch verschlossen, es bleibt nur eine kleine Öffnung der Vulva, was wir unter anderem aus dem Sudan kennen. Unter Typ 4 fallen alle weiteren gewalttätigen Verletzungen der weiblichen Genitalien.

"Oft steht patriarchales Denken dahinter – die Frau gehört dem einen Mann"

Warum kommt es zu so grausamen Handlungen?

Genitalbeschneidung gab es schon vor 3000 Jahren. Auf der ganzen Welt, es ist kein rein afrikanisches Thema. Hinter rituellen Beschneidungen steht häufig der Gedanke: Es ist richtig, Frauen in ihrer Sexualität zu begrenzen, damit sie vermeintlich rein sind und den Männern nicht hinterherlaufen. Oft steht patriarchales Denken dahinter – die Frau gehört dem einen Mann. Es gibt auch Kulturen, in denen dieser Schritt medizinisch begründet wird. In einigen Ethnien geht es um Schönheitsrituale. Für uns ist das heute schwer zu begreifen, aber früher wurden auch Frauen in westlichen Ländern beschnitten – etwa, um sie davon abzuhalten, lesbisch zu werden, oder psychiatrische Probleme zu heilen.

Mit welchen Problemen kommen die Frauen zu Ihnen?

Da ist der Name Programm, unsere Beratungsstelle heißt "TABU – Gesundheit". Diesen Titel haben wir mit den ersten Frauen entworfen, die zu uns kamen. Denn sie sagten anfangs: "Darüber reden wir nicht!" Deswegen ist das "Gesundheit" im Titel wichtig. Viele Frauen, die zu uns kommen, haben körperliche Probleme, weil sie beschnitten sind. Sie sagen uns zum Beispiel: "Ich habe Probleme beim Wasserlassen und mit den Nieren." Dann sind wir im Gespräch, ohne gleich das große Thema im Hintergrund anzusprechen – die Beschneidung. Die Frauen kommen auch nicht nur zu uns, sondern wir sind mit TABU mobil und digital in ganz Schleswig-Holstein aktiv, besuchen Gruppenunterkünfte oder auch Schulen.

Warum Schulen?

Weil Aufklärung wichtig ist, auch für die Lehrkräfte. Stellen Sie sich vor, ein Mädchen, das in der Heimat beschnitten wurde, braucht immer ganz lange auf der Toilette. Das liegt an der Verstümmelung. Beim dritten Mal fragt der Lehrer natürlich: "Warum dauert das wieder?" Er weiß nicht, was der Hintergrund ist. Das macht er ein- oder zweimal, und schon haben wir das Kind verloren. Wenn das Thema in Schulen präsent ist, hilft uns das zudem zu verhindern, dass Mädchen außer Landes gebracht werden, um beschnitten zu werden.

Das ist unvorstellbar!

Aber leider eine reale Gefahr. Alle elf Sekunden wird ein Mädchen weltweit diesem Ritual ausgesetzt. Selbst in Deutschland leben laut der Dunkelzifferschätzung 2022 von "Terre des Femmes" knapp 104.000 Opfer, die beschnitten worden sind. Bei uns in Schleswig-Holstein sind es 3000. Mehr als 17.000 Mädchen in Deutschland sind potenziell gefährdet, außer Landes gebracht und dort beschnitten zu werden. Hier bei uns im Norden sind es 461 Mädchen. Die Frage ist: Wie klären wir die Mütter so auf, damit sie diese Tradition nicht weitergeben? Wer beschnitten wurde, leidet ein Leben lang darunter, seelisch und körperlich.

Und wie schaffen Sie das?

Indem die Frauen ihre Fragen loswerden können. Wenn sie nie über ihren Schmerz reden konnten, können sie nicht wissen, was ihren Töchtern droht. Sie haben nicht gelernt, auf ihre Körper zu gucken. Sie denken sich nichts dabei, dass sie Probleme bei der Menstruation haben. Deshalb müssen wir in die Erstaufnahmeeinrichtungen gehen und dort offen über Körper und Sexualität reden. Und wir arbeiten mit Multiplikator*innen aus den Prävalenzgesellschaften, die innerhalb ihrer Community aufklären - also mit Menschen, die aus Gesellschaften stammen, in denen es das Problem gibt. Das ist sehr wichtig für die Prävention.

"Mein Grundsatz ist: nicht verurteilen!"

Welche Geschichten hören Sie von den Frauen?

Wenn die eigene Mutter so eine Verletzung einfordert, aber im Gegenzug ein großes Fest verspricht - wie soll eine Achtjährige verstehen, dass ein riesiges Unrecht geschieht? Mein Grundsatz ist: nicht verurteilen! Mit der Frage "Wie konntest du nur?" erreichen wir nichts. Wir müssen herausfinden, aus welcher Haltung eine Mutter erwägt, ihre Tochter beschneiden zu lassen.

Was sagen die Frauen?

Viele haben in ihrer Heimat gelernt: Nur wenn ich meine Tochter beschneiden lasse, kann ich ihr eine Zukunft bieten. Nur dann ist sie versorgt, kann einen Ehepartner finden. Ein unbeschnittenes Mädchen findet keinen Mann, es wird als Prostituierte gesehen oder auf der Flucht vergewaltigt. Ich kann mein Mädchen schützen, indem es verschlossen ist – das ist der Gedanke. Manche Frauen denken: Ich habe das auch überstanden, es wird schon weitergehen.

Wie oft gelingt es Ihnen, eine Beschneidung zu verhindern?

Das kann ich nicht beziffern. In Deutschland sind Beschneidungen verboten. Das wird den Frauen im Asylverfahren auch gesagt: Eine Beschneidung ist eine Straftat. Allein das hilft uns schon, weil es den Frauen die Stärke gibt zu sagen: Das kann ich hier nicht machen. Aber es muss noch etwas dazukommen.

Was denn?

Die Frauen müssen lernen, selbstbestimmt zu agieren und zu leben. Sie brauchen gute Sprachkurse. Auch die Töchter brauchen gute Sprachkenntnisse, eine gute Bildung, damit sie nicht mehr abhängig davon sind, zwangsverheiratet zu werden. Zwangsehen gehen oft mit Beschneidungen einher, das wissen wir. Ein wichtiger Schritt ist, das Thema zu enttabuisieren und zu reden, reden, reden - wertschätzend, nicht verurteilend. Und wir müssen die Männer und Väter mit einbeziehen.

Gelingt das?

Die Männer, die ihre Frauen zu uns begleiten, sind schon etwas sensibilisiert. Häufig wollen sich ihre Partnerinnen öffnen und rekonstruieren lassen, das ist medizinisch möglich. Dann muss der Mann mit uns reden. Wir begründen den Schritt meist mit gesundheitlichen Verbesserungen und damit, dass die Frau besser untersucht werden kann. Es ist schwierig, denn über diese Themen redet man in bestimmten Kulturen einfach nicht. Es gibt aber keinen Grund, darüber die Nase zu rümpfen. Wir reden ja auch immer noch über Schamlippen und den Schambereich. Das ist doch gar nicht mehr angemessen.

Spendeninfo

Die Diakonie Altholstein bittet um Spenden, um Frauen und Mädchen besser aufklären und helfen zu können. Sie möchten helfen? Dann klicken Sie bitte hier.

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