Geister vergangener Weihnachten
Geister vergangener Weihnachten
2014, Aus der Seria Weihnachtsbäume (2016) von Andreas Mühe/VG-Bild-Kunst, Bonn 2022
Geister vergangener Weihnachten
Andreas Mühe hat Christbäume aus 38 Jahren Familien­leben rekonstruiert. Dieser stammt aus einem guten Jahr. Was steckt hinter dem Fotoprojekt?
Lukas Meyer-BlankenburgPrivat
21.12.2022

Ist Baumschmücken Kunst? In ­vielen Familien beginnt mit dem Akt des Behängens und Ver­zierens das Weihnachtsfest. Und nicht wenige entdecken angesichts eines nackten grünen Tannenbaums den Dekorations­künstler in sich.

Auch der Fotograf Andreas Mühe hat das Baumschmücken zur Kunstform erhoben – allerdings eher als Versuch, Erinnerungen festzuhalten denn als besinnliche Einstimmung auf Heiligabend. Mit einer fast schon heiligen Beharrlichkeit hat Andreas Mühe, ­wegen einiger bemerkenswerter Angela-­Merkel-Porträts lange zu Unrecht als reiner Kanzlerinnenfotograf verbucht, aus Familien­alben die ersten 38 Weihnachtsbäume seines Lebens rekonstruiert.

Er hat dafür Strohsternchen, Wachskerzen oder Engelfiguren aus dem Keller der ­Eltern geholt oder, was fehlte, nach der Fotovorlage auf Trödel- und Antiquitätenmärkten zusammengesucht.

Es ist aber weniger die Dekoration, die an dem Baum als Erstes ins ­Auge sticht, als das mangelnde Licht. "O Tannenbaum, wie lang sind deine Schatten?!" Das ist die Assozia­tion, die sich beim Blick auf diesen Baum einstellt. Er ist regelrecht in die Ecke gedrängt, nüchtern in Szene gesetzt, seiner festlichen Symbolik beraubt – kein behaglicher Wohnzimmer­teppich, keine Kinder unterm Baum, die buntes Papier von den Geschenken reißen, kein angedudelter ­Vater im blinkenden Rentierpulli, der ­versucht, die Weihnachts­geschichte zusammenzukriegen.

In Aus­stellungen ­hängen Andreas Mühes 38 Weihnachts­bäume im Postkartenformat in der Regel ­neben- und unter­einander. Sie er­geben so ein Fotomosaik der Familien­geschichte, ­nadelige Erinnerungs­stützen. Die Unter­schiede beim Schmuck werden dabei offensichtlich: War es ein gutes Jahr in der Mühe-Familie, so wie offenkundig bei diesem Baum, ist er reich verziert. Unter einem traurigen Jahr hingegen leidet auch die Deko.

So war der Weihnachtsbaum der Familie im Todesjahr von Vater Ulrich Mühe (ja, dem Schauspieler) praktisch nackt und trug nur ein paar weiße Kerzen. "Zeichen der ver­rinnenden Zeit" hat Andreas Mühe seine Fotoserie genannt.

Die langen Schatten künden ­also ­weniger von einer lichttechnisch un­günstigen Studiosituation als vielmehr vom Verblassen der Erinnerung, vom Dämmern der Zeit. Was für ein passendes Symbol! Weihnachten gilt gemein­hin als Fest der Besinnung (nicht nur der Besinnlichkeit). Ein ­Moment zum Ende des Jahres hin, um noch einmal das zu sammeln, was in den vergangenen zwölf Monaten geschehen ist.

Die Dekoration ergibt sich aus dem Charakter des ablaufenden ­Jahres. Der Schatten rührt aber auch von der ungewissen Zukunft her: Denn von Weihnachten aus geht der Blick wieder stramm ins neue Jahr. Ein Baum an der Stelle des Übergangs – nehmen Sie sich also ruhig ein bisschen Zeit für den Schmuck. Es lohnt sich.

Neuen Kommentar hinzufügen

Der Inhalt dieses Feldes wird nicht öffentlich zugänglich angezeigt.

Plain text

  • Keine HTML-Tags erlaubt.
  • Zeilenumbrüche und Absätze werden automatisch erzeugt.