"Der Chief war zu Tränen gerührt"
"Der Chief war zu Tränen gerührt"
Wolfgang Günzel
"Der Chief war zu Tränen gerührt"
Die Leiterin des Weltkulturenmuseums in Frankfurt am Main spricht im Interview über den Umgang mit der kolonialen Vergangenheit.

chrismon: Wir stecken mitten drin in postkolonialen ­Debatten. Welche Rolle kommt den Museen 2022 zu?

Eva Raabe: Wir müssen aufarbeiten, woher unsere Sammlungen stammen und unter welchen Umständen sie zu uns gelangt sind, also den kolonialen Kontext erforschen. ­Natürlich haben uns die Biografien der Objekte schon ­immer interessiert und die Frage, durch welche Hände ein Gegenstand gegangen ist.

Wie gehen Sie dabei vor?

Man muss alte Quellen und Inventarbücher lesen, Schriften verstehen braucht lokale Expertise, man muss die richtigen Ansprechpartner einer ethnischen Gruppe finden . . . Einer meiner Kollegen hat beispielsweise ein Dreivierteljahr die Identität eines Sammlers erforscht. Es geht auch nicht nur um die deutsche Kolonialzeit, gesammelt wurde vorher und nachher und über die deutschen Kolonialgebiete hinaus. Auch da gab es Unrechtskontexte und Machtungleichheiten.

Eva Ch. RaabeWolfgang Günzel

Eva Ch. Raabe

Dr. Eva Ch. Raabe, geboren 1957, ist Direktorin des Museums der Weltkulturen in Frankfurt am Main. Ihre Fachgebiete sind die Kunstethnologie, Material Culture Studies und die Kunst Melanesiens.

In den Museumsdepots lagern sowohl Kulturgüter als auch menschliche Überreste. Was gilt es zu beachten?

Erstens kann man gar nicht so einfach unterscheiden zwischen menschlichen Überresten und modifizierten menschlichen Überresten, also Objekten, bei denen beispielsweise Menschenhaar verarbeitet wurde. Zweitens gibt es unterschiedliche Wege in die Museen: Am Beispiel des Völkermords in Namibia zeigt sich, dass die Überreste der Getöteten für die sogenannte Rassenforschung in die Depots gekommen sind. Bei Kulturobjekten ist oft viel schwieriger zu ermitteln, wie sie nach Europa gelangten und ob ein Unrechtskontext vorlag. Es gibt ja auch nicht nur herausragende Kunstobjekte wie die sogenannten Benin-Bronzen, sondern auch sehr viele Alltagsgegenstände, die nicht unrechtsbehaftet sind – denn in der Kolonialzeit fand natürlich auch regulärer Handel statt.

Aber es ist viel Unrecht geschehen – wie kann es wiedergutgemacht werden?

Unser Museum zum Beispiel bekam die Anfrage einer Lakota-Familie mit Bitte um Rückgabe: Ein Hemd aus ­unserem Bestand sei einem verstorbenen Chief vom Leibe genommen worden. Unsere Recherchen haben ergeben, dass es sich nicht um dieses Hemd handelte und deswegen kein Unrechtskontext vorlag. Wir haben es vor zwei ­Jahren trotzdem zurückgegeben, wir sagen dazu: repatriiert. Auch "unser" Hemd hatte einst dieser Familie gehört. Dieses ­sogenannte hair shirt war ein bedeutendes Zeremonial­kleidungsstück. Chief Duane Hollow Horn Bear, ein Lakota aus der Rosebud Reservation in South Dakota, hat es bei uns besichtigt. Der Besuch war sehr ergreifend, der Chief war zu Tränen gerührt. Eine solche Rückgabe kann kulturelle ­Identität stärken und die Beziehung zu den Menschen vertiefen, sie ist Teil eines Heilungsprozesses. Da stehen dann nicht die juristischen Fragen im Vordergrund. Das Hemd ist nun in einem Museum der Reservation und dort für alle Native Americans sichtbar. Für bestimmte Zeremonien wird es dann ausgeliehen und benutzt. In vielen indigenen Gesellschaften In vielen indigenen Gesellschaften ist dies eine übliche Praxis.

"Oftmals geht es um Emotionen, nicht nur um Besitz"

Wie viel Einfluss haben Sie als Museumsleiterin bei Rückgabeentscheidungen?

Als städtisches Museum verwalten wir die Sammlungen nur. Wenn etwas zurückgegeben werden soll, entscheiden das die Stadtverordneten – und bei anderen Museumsträgern eben die jeweiligen Institutionen. Aber natürlich können wir eine Empfehlung aussprechen. Vorher braucht es gründliche Provenienzforschung und das umfassende Wissen um die jeweilige Kultur und den Kontext des Objektes. Das Komplizierte ist dabei, der Politik klarzumachen, dass es oftmals um Emotionen geht, nicht nur um den reinen Besitz. Da prallen unterschiedliche Welten aufeinander.

Gründlichkeit dauert . . .

Ja! Deswegen wird den Museen häufig vorgeworfen, sie würden nichts tun. Aber vor einer Rückgabe prüfen wir, ob die Forderung berechtigt ist. Wir müssen dazu auch die Verhältnisse in den Ländern in den Blick nehmen, viele der Gesellschaften leben nach wie vor sehr zurückgezogen. Wir sind schon mit Einzelfällen so beschäftigt, dass es unmöglich ist, proaktiv Provenienzforschung zu betreiben. Wir tun das, wenn wir Sammlungsbestände aufarbeiten für Projekte und Ausstellungen.

Wirkt der Kolonialismus bis heute fort?

Natürlich. Die Länder, mit denen wir heute verhandeln, basieren auf den kolonialen Systemen, die von Europa und Amerika geschaffen wurden. Bis heute beuten wir diese Staaten aus und nutzen ihre Ressourcen. Ein wichtiger Teil des Healings, der Wiedergutmachung, wäre es, diese Probleme anzugehen, beispielsweise durch Konsumverzicht und Klimagerechtigkeit. Um die Kolonialzeit aufzuarbeiten, sind vor allem die Schulen gefragt; wir Museen alleine können das nicht leisten. Letztlich ist jeder Einzelne in der Verantwortung – wir wollen ja eine globale Aufarbeitung, keine lokale.

"Wir müssten das globale koloniale System in den Blick nehmen"

Hat Emmanuel Macron, der die Debatte anstieß, eigentlich auch etwas erreicht?

In Frankreich sind schon Sachen zurückgegeben worden, aber es hat keine vollständige Aufarbeitung stattgefunden. Im Gegensatz zu Deutschland wird Frankreich zentral verwaltet, weshalb solche staatlichen Entscheidungen einfacher durchgesetzt werden können. Aber Frankreich hat noch ganz andere Probleme mit Kolonialismus. Immerhin gibt es dort bis heute Überseedepartements. Im Detail geht es hierzulande ja nur um die deutsche Kolonialzeit. Aber eigentlich müssten wir das globale koloniale System in den Blick nehmen – die Objekte, die wir beherbergen, stammen zum Beispiel auch aus Australien, Indonesien oder Brasilien.

Kann das Museum künftig auch ein Dienstleister sein, um das koloniale Erbe privater Sammlungen anzugehen?

Die Museen bräuchten dafür mehr unbefristete Stellen. Um private Sammlungen aufzunehmen, haben wir aber auch nicht genügend Depotflächen.

Das klingt danach, als sollten Museen in Zukunft wachsen . . .

Wir sind schon gewachsen, was unseren Wissens- und Aktionsradius angeht. Aber wir – oder vor allem die Strukturen – werden nicht in dem Maße wachsen, in dem es nötig wäre, all diese Dinge zügig zu bearbeiten.

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Da schwehlt im Thema der (berechtigte) Vorwurf der Arroganz und des Rassismus. Denn wir bewahren, weil wir glauben, besser bewahren zu können. Was hat der IS nicht alles zerstört! Was haben Chiefs nicht alles vereinnahmt. Und was wurde bei uns alles im Krieg zerstört und enteignet. Und doch bleibt ein fader Geschmack. Denn wenn wir vorher befürchtet haben, dass der langfristige Verbleib der Schätze nicht möglich sein könnte, wird die Verantwortung eines Verlustes zurückschlagen.

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