Exhuminierung der Leichen zur Identifizierung und
forensischen Untersuchung. Butscha, Ukraine
April 8, 2022, Bucha, Kyiv, Ukraine: Bodies seen in black bags. Following the discovery of a mass grave in Bucha (Kyiv region), near the Church of St. Andrew and Pyervozvannoho All Saints, the exhumation of bodies was carried out for identification and investigation procedures. (Credit Image: © Valeria Ferraro/ZUMA Press Wire
Valeria Ferraro/ZUMAPRESS.com/picture alliance
"Bei einem Genickschuss müssen sie nicht lange nach der Todesursache suchen"
Satellitenbilder zeigen Massengräber in der Ukraine. Wie kann man die Toten identifizieren? Wie Kriegsverbrechen nachweisen? Interview mit Reinhard Dettmeyer, Präsident des Berufsverbandes. Deutscher Rechtsmediziner
Anja Meyer
02.05.2022

chrismon: Herr Dettmeyer, fast täglich werden in der Ukraine Massengräber entdeckt. Was ist die Aufgabe der Rechtsmedizin?

Reinhard Dettmeyer: Es geht um die Feststellung der Todesursache, in vielen Fällen sicher auch um die Dokumentation von Verletzungen, die von Bedeutung sein können für die Frage, ob ein Kriegsverbrechen vorliegt. Die Sammlung von Daten über die Verstorbenen soll, wenn dies nicht allein durch die Obduktion vor Ort möglich ist, bei der Identifizierung helfen - damit Angehörige erfahren, was mit ihren Familienmitgliedern geschehen ist und wo sie bestattet wurden.

Wie sieht das in der Praxis aus?

Es gibt für die Aufklärung bei Massengräbern Vorgaben von internationalen Behörden. Vieles basiert auf den Erfahrungen nach der Tsunami-Katastrophe. In der Ukraine beginnt das mit einer dokumentierten Exhumierung aus den Massengräbern und einer eindeutigen Nummerierung jedes Leichnams.

Wie gehen Ihre Kollegen weiter vor?

Im besten Fall werden die exhumierten Leichname in eine kühle Halle transportiert oder sie werden unter freiem Himmel obduziert. Das hilft gegen die Geruchsbelästigung. Dann sollte ein Team von zwei Ärzten und einem Polizisten mit Erfahrung in der Spurensicherung an die Arbeit gehen, dazu ein Fotograf, der alle Arbeitsschritte dokumentiert: Das fängt mit der Kleidung an, falls sie noch vorhanden ist. Dann wird Größe und Körpergewicht ermittelt, das Team sucht nach äußerlich noch sichtbaren Verletzungen. Bei einem Genickschuss müssen sie nicht lange nach der Todesursache suchen. Gibt es noch Projektile oder Munitionssplitter, so werden diese entnommen und sichergestellt. Zusammengebundene Hände und Folterspuren sind starke Indizien dafür, dass hier ein Kriegsverbrechen vorliegen könnte. Dann suchen sie nach Merkmalen, die bei der Identifizierung der Toten helfen können.

Tätowierungen, alte Brüche, Zahnstatus

Wonach genau?

Gibt es Tätowierungen, Operationsnarben, alte Frakturen, Herzschrittmacher, Prothesen? Zähne geben erste Hinweise auf das Alter, je nachdem, wie abgenutzt sie sind. Es wird ein Zahnstatus angefertigt: Wo fehlen Zähne, wo gibt es Füllungen? Es können mobile Röntgengeräte zum Einsatz kommen, zum späteren Abgleich mit Röntgenbildern von vermissten Personen. Auch Aufnahmen des Schädels einschließlich der Zähne können später hilfreich sein.

Alex Fischer

Reinhard B. Dettmeyer

Professor Dr. med. Dr. jur. Reinhard B. Dettmeyer, geboren 1957, ist Direktor des Instituts für Rechtsmedizin der Universitätskliniken Gießen und Marburg und Präsident des Berufsverbandes Deutscher Rechtsmediziner.
Anja Meyer

Barbara Schmid

Barbara Schmid, geboren in Nürnberg, ist Journalistin. Zunächst arbeitete sie u. a. für den "Kölner Stadt-Anzeiger" und die "Kölnische Rundschau". 1991 ging sie als Hauptstadtkorrespondentin für die "BILD am Sonntag" nach Bonn, seit 1998 arbeitet sie für den "Spiegel". 2006 war sie Sprecherin für das Kulturprogramm der Fußball-WM 2006. Sie lebt in Düsseldorf und in Ligurien. Im April 2020 ist ihr Buch "Schneewittchen und der böse König" (mvg, 16,99 Euro) erschienen. Es erzählt die wahre Geschichte einer jungen Frau, die in die Zwangsprostitution abgerutscht ist.

Kann man auch noch Fingerabdrücke nehmen?

Das geht noch relativ lange, in der Ukraine ist es gerade kühl, wenn der Leichnam mumifiziert ist. Es spielt auch eine Rolle, ob die toten Körper in Leichensäcken bestattet oder einfach verscharrt wurden. Die Feuchtigkeit kann problematisch werden, und wenn schon der Madenfraß eingesetzt hat, wird es schwierig. Es werden aber von allen Leichen Gewebeproben entnommen. Nach dem Tsunami gelang es noch nach Jahren, mit Hilfe der DNA-Analyse Opfer zu identifizieren.

Wie lange dauert so eine Obduktion?

In der Regel zwischen zwei und vier Stunden.

Was geschieht mit all den Daten und den Untersuchungsergebnissen einschließlich der festgestellten Todesursache?

Es wird eine Datenbank aufgebaut. Ich höre, dass sich französische Kollegen darum kümmern. Mir scheint es ratsam, dass sie dafür einen Auftrag der Staatsanwaltschaft des Internationalen Strafgerichtshofs haben. Die ukrainischen Kollegen habe ich auf Kongressen als sehr fähige Mediziner:innen kennengelernt. Es ist hier aber wichtig, dass die Federführung bei Rechtsmediziner:innen aus einem unbeteiligten Land liegt. Diese müssen im Fall eines Gerichtsverfahrens als rechtsmedizinische Gutachter:innen als neutral gelten, es dürfen keine Befangenheitsgründe vorliegen, was schon hergeleitet werden könnte, wenn die ukrainischen Behörden Auftraggeber der Exhumierungen wären.

Würdige Bestattung

Was geschieht dann mit den obduzierten Leichen?

Sie sollen eine würdige Bestattung in einem Nummerngrab erhalten. Diese Nummer und die gesammelten Daten tragen hoffentlich bald dazu bei, dass ihre Identität festgestellt werden kann. Wir sollten aus den Vorgängen in der Ukraine noch weitere Konsequenzen für die Arbeit der Rechtsmediziner ziehen …

… welche?

Es sollte bei der Staatsanwaltschaft am Internationalen Strafgerichtshof ein fest etabliertes Koordinierungsbüro für forensische Medizin eingerichtet werden, weil es sicher nicht die letzten Massengräber sind, die gerade in der Ukraine untersucht werden müssen. Und es sollten auch Vergewaltigung und Folter bei überlebenden Opfern rechtsmedizinisch begutachtet werden können.

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