Selbstgespräch einer alten Frau
Selbstgespräch einer alten Frau
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Selbstgespräch einer ­alten Frau
Sie war 65 Jahre verheiratet, ans Jawort konnte sich ihr Gatte 
nicht mehr erinnern. Bis zu seinem Tod wohnte er im Seniorenheim, wo sie ihn jeden Tag besuchte. Davon erzählt Helga Majer-Trendel

Durch die Ritzen des Fensterladens fällt schon Licht. Aber ich kann noch nicht erkennen, wie das Wetter wird. Also reiß 
ich den Laden auf. Herrliche Morgenkühle, klarer Himmel, Rollstuhlspaziergangwetter, gut so.

Ich mache meine Übungen im Bett: fünfzig Mal alle Muskeln anziehen, ein bisschen halten, loslassen. Dann die Hin- und Herschmeißübungen gegen den Lagerungsschwindel. Drei Mal mit je zwei Minuten Abstand. Dabei überlege ich schon: Was muss ich heute tun, was will ich tun? Zähne putzen. Duschen? Nein, nicht jeden Tag. Ein Blick in den Spiegel sagt mir jeden Morgen brutal, dass ich nicht alt, sondern uralt bin: 89. Und was ziehe ich an? Wo gehe ich hin, wer sieht mich? Niemand! Die Schwestern nachher im Heim? Nicht zu schlampig, nicht zu elegant.

Als Erstes mache ich eine Tasse Kaffee, später dann ­eine Kanne Tee. Mein I-Pad ist mein Tischgenosse bei ­meinen einsamen Mahlzeiten. Es verbindet mich mit ­allen, weiß auf alles eine Antwort, und das nur, wenn ich es will. Heute wusste ich nicht mehr, ob es "Johannes-" oder "Johannisbeere" heißt. Gestern hatte ich Zweifel, ob man "Apartment" mit einem p schreibt. Was täte ich ohne mein I-Pad? Es macht keine Flecken und bröselt nicht.

"Der Bundespräsident freute sich über unseren 65. Hochzeitstag. Wenn der wüsste"

23 725 Frühstücke habe ich in meiner Ehe zubereitet, 
mit vielen Flecken und Bröseln, Sonntagseiern und Schulbroten, Diskussionen, Ermahnungen und Gegen­worten, die mir nun fehlen. Am 15. August 2017 bekam ich Post. Vom Bundespräsidenten, vom bayerischen Ministerpräsidenten und vom Münchner Oberbürgermeister. Alle freuten sich über unseren 65. Hochzeitstag, unser seltenes Glück und unsere Freude, noch immer zusammen sein zu können. Wenn die wüssten.

Auf unserem Rollstuhlspaziergang frage ich meinen Mann, ob er sich an unsere Hochzeit 1952 erinnert, an "Bis dass der Tod Euch scheide" und unser "Ja, ich will" in der hässlichen Kirche. Er erinnert sich nicht. Ich schon, auch an Renates Lied von der Orgel-Empore: "So nimm denn meine Hände und führe mich". Ich dachte dabei nicht an Gottes Hände, sondern an die, die mich bald über die Schwelle unseres ersten gemeinsamen Heimes tragen würden. An das "selige Ende" dachten wir beide nicht. Ein Maibaum stand im Garten, vom netten Nachbarn gebastelt, weiß-blau mit einem Schild: "Abrahams Segen, Isaaks Vermögen, Methusalems Jahre dem jungen Paare". Gut gemeinte Wünsche, von denen zumindest der letzte in Erfüllung ging. Ein biblisches Alter haben wir erreicht. Zehn Prozent der Bewohner im Münchenstift sind über 100 Jahre alt, sagt die Leiterin des Hauses.

Zur Hochzeit gab’s Schaufel und Besen, Klobürste und Töpfe, und der Pfarrer krachte mit unserem avantgardistischen Mobiliar, einem Autositz aus einem alten Skoda, zusammen. Linzertorte von der Nachbarin, Blumen streuende Kinder in Kleidchen aus einer seidenen Steppdecke.

Blumen gießen, Straße kehren, ins Altersheim radeln

Nach dem Frühstück so dies und das. Blumen gießen in Haus und Garten, schauen, was geschnitten oder gedüngt werden sollte. Muss der Rasen gemäht werden? Mache ich selbst, ist nicht viel anders, als einen Rollator zu schieben.

Auch die Straße kehre ich gerne. Früher fand ich das ein bisschen beschämend für die Dame des Hauses, sah nach Sparenmüssen aus. Einmal kam der Geldbrief­träger und brachte das Monatsgehalt, wie immer bar, an die Haustür. Das muss man sich mal vorstellen, die ganze Tasche voller Geld – so auf dem Fahrrad! Er wunderte sich über den Besen in meiner Hand, wo ich sonst doch nur mit Hut und Handschuhen das Haus verließ.

Am Spätvormittag fahre ich, meistens mit dem Rad, ins Altersheim. Luftlinie einmal kurz einen steilen Berg ­hinauf, dann einen Radlweg an einer befahrenen Straße entlang. Wenn ich den Weg hinauf schiebe, überholen mich junge Leute, die joggen oder Hunde spazieren führen. 
Erst einmal hat mich jemand gefragt, ob er mir helfen könne, als ich eine Verschnaufpause machen musste.

Inzwischen habe ich mindestens 240 Mal das Foyer zum Münchenstift betreten. Im Lift riecht es ein wenig nach ­Zigarettenrauch der osteuropäischen Pfleger und Hilfs­kräfte und ein wenig nach Urin, freitags ziemlich nach Fisch und manchmal ganz köstlich nach Apfelstrudel. Im großen Aufenthaltsraum sitzt mein Mann im Rollstuhl am Tisch mit anderen dementen Patienten. Von Ferne schon höre ich sein permanentes "Hallo-Hallo". Niemand scheint es zu hören. Große Krüge mit einer hellgelben oder grünlichen Flüssigkeit stehen auf dem Tisch, keiner nimmt Notiz 
von seinem Nachbarn oder Gegenüber. Jeder ist in sich selbst versunken. Um etwas Stimmung in den stillen, nur von irgendwelchen unartikulierten Lauten belebten Raum zu bringen, fängt eine Betreuerin an zu singen: "Das Wandern ist des Müllers Lust", manche singen ein bisschen mit.

Einmal sangen sie schon am frühen Morgen "Der Mond ist aufgegangen". Ich war überrascht. "Das ist doch so ein schönes Lied", meinte die Pflegerin. Wirklich ein schönes Lied für jemanden, der ohnehin nicht weiß, ob es Sommer oder Winter, morgens oder abends ist, für jemanden, der nichts mehr in seinem Kopf finden kann.

"Alle Versuche, Erinnerungen zu aktivieren, schlagen fehl"

Der Park hinter dem Haus hat etwas Tröstliches. ­Sonnige und schattige Wege, hohe Bäume, niedrige Büsche, Wiesen. Kinder, die noch alles vor sich haben, Mütter, die um ihre Brut herumflattern, das Smartphone am Ohr. Hunde, die an der Leine geführt werden von noch feschen Rentnern. Gebrechliche Alte mit Rollatoren oder in Rollstühlen, geschoben von Pflegerinnen, die sich über eine Quasipause an der Frischluft vom Dienst im Haus erholen. Oder Töchtern oder Ehefrauen, Söhnen oder Gatten, die ihr tägliches Quantum an Empathie erfüllen. Manchmal nicken oder grüßen sich die Schiebenden zu und denken sich ihren Teil. Inzwischen weiß ich genau, auf welche Wege die Sonne scheint, wo der Wind pfeift, der Weg ­asphaltiert oder uneben ist.

"Schau den schönen blauen Himmel an, ein herrliches Segelwetter wäre das heute, erinnerst du dich an unser Segelboot am Chiemsee?", frage ich. "Erinnerst du dich?"

Nicht der Wind lässt mir die Tränen über die Wangen rinnen. Alle meine Versuche, Erinnerungen zu aktivieren, schlagen fehl. Nichts ist geblieben von diesem langen, ­interessanten, bunt gemischten Leben des Menschen, den ich vor 65 Jahren geheiratet habe, weil er so viel in seinem Kopf hatte und seine lebhafte Intelligenz mich begeisterte. Stundenlang schiebe ich, leicht humpelnd, den Rollstuhl 
durch die Gegend und schäme mich fast, dass mein ­eigener Kopf überquillt von Erinnerungen, die nun mein ziemlich eintöniges, von Mitleid und Sorgen erfülltes und sehr ungewohntes Single-Leben wirklich bereichern.

Geburtstag feiern, Tierchen streicheln, Bilder angucken

Einmal im Monat gibt es eine Geburtstagsfeier für die Jubilare des Monats. Mit Kaffee und Kuchen und ­Livemusik. Zwei Musikanten spielen Evergreens. Manche Geburtstagsgreise wackeln dazu mit dem Kopf, die Tortenstückchen auf der Kuchengabel sind in großer Gefahr, und die Einweglätzchen kriegen Kaffeeflecken. "Dein ist mein ganzes Herz." Oder auf der Ziehharmonika: "So ein Tag, so wunderschön wie heute, so ein Tag, der dürfte nie vergeh’n." Aber er vergeht dann gottlob doch. Das Leben geht weiter, Frühling, Sommer, Herbst, Winter, immer wieder. Mit jedem Lidschlag wird aus heute gestern.

Eines Tages ist die Mitte der Eingangshalle in eine ­grüne Wiese verwandelt, mit einem Heuhaufen, auf dem ein echter Gockel steht. Um ihn herum grasen Meer­schweinchen und Kaninchen. Bewohner des Hauses ­sitzen im Kreis in ihren Rollstühlen mit hübschen grünen Handtüchern auf dem Schoß. Jeder bekommt ein Tier zum Streicheln und ein paar Blättchen zum Füttern. Nur wenige 
trauen sich, den Gockel zu nehmen. Die nette Frau im Dirndl, die sich dieses Programm ausgedacht hat, holt ihre Gitarre und singt "Alle meine Entchen" und andere Tierlieder. Es wird fotografiert: Opa mit dem Gockel, Oma mit dem Meerschweinchen. Die Fotos bleiben im Smartphone.

"Wie viele Vernissagen habe ich mit meinem Mann besucht!"

Unsere Frau Freitag, flott und fröhlich, stellt die Künstler­gruppe des Hauses vor. Sie rühmt Frau X für ­ihre farbenfrohen Bilder. Herr Y, der Einzige, der er­freulich schöne blank geputzte Lederschuhe statt der üblichen Filzpantinen oder Gesundheitslatschen an den Füßen hat, lanciert mit emsigen Tippelschrittchen seinen Rollstuhl diagonal durch das Foyer, um eine langstielige Rose, die jeder Künstler bekommt, in Empfang zu nehmen. Seine Abstraktion wird gepriesen. Alle sind glücklich.

Die Bilder hängen schön gerahmt seit Wochen an den Wänden, jetzt werden sie erst richtig gesehen. Es gibt ­"Hugo" ohne Alkohol aus feinen Sektgläsern. Alles ist festlich. Die Partytische sind zu hoch für die Senioren im Rollstuhl. Pfleger eilen zu Hilfe, um die Gläser abzustellen. Es wird geklatscht und fotografiert. Wie viele Vernissagen habe ich mit meinem Mann besucht! Wie viele Biennalen in Venedig! Ich denke an all die schöne Kunst, die er selbst gemacht hat und die die Enkel in einem wirklich tollen Fotobuch festgehalten haben.

Manchmal raffe ich mich auf zu einem Vortrag, einem Konzert, einem Kinofilm mit irgendjemanden, der mir gerade einfällt. Nicht selten bin ich eingeladen. Ziemlich oft kommt jemand zum Tee. Aber irgendwie stimmt alles nicht mehr so ganz. Meine zweite Hälfte fehlt mir, alles ist mühsam geworden,schmerzensreich, sinnlos. Ansonsten: Abends fernsehen. Dann im Bett lange lesen, bis das Buch auf meinen Bauch kippt.

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