Doppelpunkt Illustration zum Thema 'Von Rechts wegen vernichtet'
Doppelpunkt Illustration zum Thema 'Von Rechts wegen vernichtet'
Matthias Seifarth
Von Rechts wegen vernichtet
Die Todesstrafe ist ein Relikt aus vordemokratischen Zeiten. Doch die USA oder Syrien zeigen: Der Kampf gegen diese Brutalität ist nötiger denn je
29.06.2017

Kurz bevor Troy Davis das Gift in die Armvenen gespritzt wird, hebt der 42-jährige Afroamerikaner, festgeschnallt auf der Liege der Exekutionskammer, noch einmal seinen Kopf. Seine Blicke wandeln durch den Raum. Ein letztes Mal will er seine Unschuld beteuern, den Anwesenden seiner Hinrichtung sagen, dass nicht er es war, der den Polizisten Mark Allen MacPhail erschossen hat: "Ihr sollt wissen, dass ich nicht derjenige bin, der Euren Sohn, Euren Vater, Euren Bruder getötet hat. Ich bin unschuldig. Ich hatte keine Waffen." Wenige Sekunden später wirkt das Schlafmittel, dann das tödliche Gift. Am 21. September 2011, um 23.08 Uhr Ortszeit, stirbt Troy Davis im Gefängnis von Jackson im US-Bundesstaat Georgia.

Zwei Jahrzehnte hatte Davis im Todestrakt auf seine Hinrichtung gewartet. Warten müssen. Seine Hinrichtung war eine der umstrittensten und meist diskutierten in der an fragwürdigen Exekutionen nicht armen US-Justizgeschichte. Und es war nicht die letzte in den USA, der einzigen westlichen Demokratie, die bis heute in einigen ihrer Bundesstaaten an der Todesstrafe festhält.

73 Todesurteile gegen Kinder und Jugendliche im Iran

Hinrichtungen sind immer grausam. Ganz gleich, wie ein Verurteilter stirbt. Auch im 21. Jahrhundert werden Menschen noch gehängt, erschossen, enthauptet, in den Tod gespritzt. Immerhin: Mittlerweile ist die Todesstrafe in 104 Staaten vollständig abgeschafft. Sieben Staaten sehen die Strafe nur noch für außergewöhnliche Straftaten vor - wie etwa Kriegsverbrechen oder Vergehen nach Militärrecht. 30 Staaten haben die Todesstrafe in der Praxis, aber nicht im Gesetz abgeschafft.

Privat

Helmut Ortner

Helmut Ortner, Autor und Medienentwickler, veröffentlichte mehr als zwanzig politische Sachbücher und Biografien, zuletzt „Gnadenlos Deutsch“. Im Herbst erscheint sein neues Buch: „Wenn der Staat tötet – Eine Geschichte der Todesstrafe“ (Theiss Verlag). Ortner lebt und arbeitet in Frankfurt und Darmstadt.
Aber es gibt auch ernüchternde und erschütternde Entwicklungen: So wirft die Menschenrechtsorganisation Amnesty International dem Iran die Hinrichtung von Kindern vor. Zwischen 2005 und 2015 sollen 73 Todesurteile gegen Menschen unter 18 Jahren vollstreckt worden sein. Auch dem syrischen Regime von Präsident Baschar al-Assad hält Amnesty schwerste Verbrechen gegen die Menschlichkeit vor. Nach einjährigen Untersuchungen wird in einem aktuellen Bericht die „außergesetzliche Exekution durch Massenerhängungen“ von Tausenden von Menschen im Militärgefängnis von Saydnaya dokumentiert.

Von 2011 bis Ende 2015 sollen dort bis zu 13 000 Menschen hingerichtet worden sein. Eine unglaubliche Zahl. Ein unvorstellbares  Verbrechen. Die Opfer seien in der überwältigen Mehrheit normale "Zivilisten", die dem Assad-Regime als Opponenten galten. Die Vereinten Nationen haben der syrischen Regierung ebenfalls "Massenvernichtung von Zivilisten" vorgeworfen, was zu den schwersten Vorwürfen des internationalen Rechtskatalogs gehört. Grausamkeiten, die zeigen, wie notwendig der universelle Kampf gegen die Todesstrafe bleibt.

Das Haltbarkeitsdatum eines tödlichen Giftes

Einerseits ist es eine erfreuliche Entwicklung, dass immer mehr Staaten auf die Todesstrafe als Rechtsinstrument verzichten. Andererseits ist es düstere Realität, dass Staaten wie China, Pakistan und Saudi-Arabien nicht "abrüsten", sondern an weitere Verschärfungen denken oder aber – wie etwa in der Türkei –  zur Todesstrafe zurückkehren wollen. Festzustellen ist: Es gibt kein einheitliches Bild, keine wirklich globale Übereinstimmung in humanistischen Standards und universellen Werten, wie sie in der UN-Menschenrechtscharta doch eindeutig formuliert sind. Staaten töten unter dem Vorwand, den Rechtsfrieden und die Rechtsordnung zu wahren. Noch im Mittelalter waren Exekutionen auch sakrale Inszenierung. Sie sollten der Versöhnung zwischen dem Sterbenden und seiner Seele und Gott dienen. Geistliche, die den Verurteilten beistehen sollten, berichteten im 17. Jahrhundert, wie sie vor aller Augen die vermeintlichen Delinquenten auf den Weg der Reue und des Glaubens zurückzubringen versuchten, dieweil die Zuschauer für die Todgeweihten beteten. Heute sind Exekutionen kollektive Vergeltungs- und Reinigungsrituale, die sich vor allem über die Medien mitteilen.

Im April dieses Jahres entschied die Justiz im US-Bundesstaat Arkansas gleich acht Verurteilte binnen weniger Tage mit einer Giftspritze in den Tod zu befördern. Der Grund für die geplante Hinrichtungsserie war weder juristisch noch politisch motiviert, sondern rein pragmatischer Natur: Das Haltbarkeitsdatum eines der Giftmittel, des umstrittenen Stoffs Midazolam, lief ab. Die Behörden hatten die Sorge, keine neuen Dosen bekommen zu können. Eile war geboten.

Nach wochenlangem Tauziehen wurde der verurteilte Mörder Ledell Lee, 51 Jahre alt, am 20. April um 23.44 Uhr im Gefängnis von Grady als erster der Todeskandidaten zu Tode gespritzt. Arkansas' republikanischer Gouverneur Asa Hutchinson hatte zuvor Härte versprochen, jetzt zeigte er sie: "Die Familien der Opfer haben lange darauf gewartet, Gerechtigkeit für ihre Lieben zu sehen.“

Das EU-Exportverbot für Gift gilt seit 2011

Trotz weltweiter Proteste wurden nur wenige Tage später zwei weitere Häftlinge hingerichtet, beide am selben Tag. Es war das erste Mal seit dem Jahr 2000, dass es in den USA zwei Exekutionen an einem Tag gegeben hatte. Jack Jones und Marcel Williams starben jeweils durch eine Giftspritze. Wenige Tage danach die vierte Exekution: Der 38jährige Kenneth Williams, der 1999 bei einem  Fluchtversuch aus dem Gefängnis einen Aufseher getötet hatte. Augenzeugen berichteten, Williams krampfte und taumelte mehr als zwanzig Mal, bevor er starb. Sein Anwalt sprach von einer "schreckenerregenden Hinrichtung". Vier Exekutionen binnen weniger Tage – eine beispiellose Hinrichtungsserie. Seit Wiedereinführung der Todesstrafe in den USA 1976 hatte bisher nur Texas acht Menschen in einem Monat exekutieren lassen.

Bei den meisten Hinrichtungen in den USA werden drei Substanzen injiziert: Midazolam, um das Bewusstsein zu nehmen; Vecuroniumbromid, um die Muskeln zu lähmen; Kaliumchlorid, das zum Herzstillstand führt. Doch seit Jahren häufen sich die Probleme mit Midazolam: Viele Todeskandidaten starben unter Qualen. Mehr als 20 amerikanische und europäische Pharmakonzerne weigern sich deshalb, die notwendigen Substanzen für die Giftcocktails in die USA zu liefern. Die EU hatte bereits 2011 ein Exportverbot verhängt.

Arkansas ist also kein Einzelfall. Allen 31 US-Staaten, in denen die Todesstrafe noch legal ist, geht das Gift aus. Laut der Menschenrechtsorganisation Reprieve blockieren alle Hersteller, deren Mittel von der Gesundheitsbehörde als Todessubstanz zugelassen sind, den Verkauf zu diesem Zweck. Sie wollen nicht mehr, dass der Staat mit ihren Medikamenten Menschen tötet.

Türkei und USA: eine merkwürdige Übereinstimmung

Während sich US-Bundesstaaten­ um die Beschaffung ihrer Tötungsmittel sorgen, denkt der türkische Präsident Recep Erdogan öffentlich über die Wiedereinführung der Todesstrafe in seinem Land nach. Sollte die Türkei die Todesstrafe einführen, heißt es drohend aus Deutschland und Brüssel, wäre eine »rote Linie« überschritten. Auch eine Nato-Mitgliedschaft sei dann neu zu diskutieren, denn schließlich handele es sich bei dem Bündnis um eine Wertegemeinschaft. Ein einseitiger Moralismus: Der Ausschluss der Vereinigten Staaten aus der Wertegemeinschaft steht nirgendwo zur Debatte. In Sachen Todesstrafe jedenfalls können sich die Despoten dieser Welt auf Amerika berufen. Der Streit darüber, ob der Staat im Namen des Gesetzes Menschen hinrichten darf, ist vor dem Hintergrund der aktuellen Ereignisse neu entfacht. Ein Streit, der so alt ist, wie die Todesstrafe selbst.

Die Technologie des 21. Jahrhunderts hat das Töten effizienter und hygienischer gemacht. Hinrichtungsorte sind helle und sterile Räume. Die Hände derjenigen, die den Schalter umlegen, damit das tödliche Gift in die Venen fließt, bleiben anonym. Die Vergeltung, die hier praktiziert wird, ist nicht wie in primitiven Stammeskulturen schmerzvoll, stinkend und laut, sondern anonym, steril, lautlos. Das Problem scheint nicht mehr die Todesstrafe an sich zu sein, sondern sie möglichst "human“ zu gestalten.

Hinrichtungen sind nicht allein ein Instrument des Strafrechts. Sie spiegeln auch die Gesellschaftsordnung und ihre Weltbilder wieder: das stillschweigende Einverständnis der Mehrheit der Bürger mit dem System staatlichen Tötens.

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