Papst Franziskus lenkt den Blick weg vom kirchlichen „Kartenhaus“ zurück auf die Menschen
Portrait Eduard KoppLena Uphoff
27.11.2013

Es ist ein päpstliches Schreiben, von dem die Katholiken in aller Welt allenfalls zu träumen wagten. Nachdem die vatikanischen Verlautbarungen der letzten Jahrzehnte immer mehr zu endlosen, hermetischen Schriftsätzen verkommen waren, aus denen sich die Botschaft nur mit größter Mühe herauskristallisieren ließ, kehrt mit einem neuen Geist auch eine neue Sprache in die katholische Kirche ein. Die theologischen Labyrinthe früherer Lehrschreiben, angelegt von Dutzenden detailverliebter Vatikantheologen, bleiben in „Evangelii Gaudium“ („Die Freude des Evangeliums“) links liegen. Papst Franziskus macht ernst mit der Einsicht: Die wirklich großen Fragen sind meist sehr einfach. Und er benennt sie.

Zum Beispiel: Kümmern wir uns ernsthaft und liebevoll genug um die Mitmenschen, seien sie arm oder reich, erfolgreich oder gescheitert? Oder kreisen wir zu sehr um uns selbst, unsere Strukturen, Prinzipien, Traditionen? Auch wenn die Vokabel „Evangelisierung“ immer wieder auftaucht, geht es Franziskus gerade nicht um die Zukunft der Kirche oder um organisatorische Fragen, sondern um den Umgang der Menschen miteinander. Das Schlüsselwort: die Liebe. Diesen Schlüsselbegriff hatte sein Vorgänger, Papst Benedikt, zwar auch schon traktiert, aber erst jetzt wird deutlich, wie anders, nämlich leidenschaftlich und menschenfreundlich, Franziskus mit ihm umgeht. „Alle Tugenden stehen im Dienst dieser Antwort der Liebe“, heißt es in der Schrift. Und dazu gehören von der wirtschaftlichen Lage des Einzelnen bis zu seinem Seelenhaushalt alle Dimensionen.

Undenkbar, dass sein Vorgänger so gesprochen hätte

Das Wort „Freude“, das im Titel der Schrift steht, ist eine ebenso wichtige Vokabel: Es bezieht sich nicht auf die Freude eines Theologen über eine besonders schöne Formulierung, nicht auf die Freude des Klerikers über sein Amt, sondern auf die alltägliche Freude des Christen, die ihr Leben und seine Herausforderungen als Geschenk verstehen. Man kann in diesem Text etliche Hinweise entdecken auf eine Polarität zwischen dem „moralischen Gebäude der Kirche“, das Gefahr läuft, „wie ein Kartenhaus zu werden“, und einer neuen kirchlichen Dynamik, die am frischen „Duft des Evangeliums“ zu erkennen ist. Undenkbar, dass der frühere Papst Benedikt solche Widersprüche formuliert hätte, erst recht mit solchen einfachen Worten. 

Es ist nur konsequent, dass der Papst sich selbst der Mythen entkleidet, die sein Amt umgeben.  „Wenn ein Pfarrer … zehn Mal über die Enthaltsamkeit und nur zwei- oder dreimal über die Liebe oder über die Gerechtigkeit spricht“, so schreibt er, „entsteht ein Missverhältnis. . . Das Gleiche geschieht, wenn mehr vom Gesetz als von der Gnade, mehr von der Kirche als von Jesus Christus, mehr vom Papst als vom Wort Gottes gesprochen wird.“ Das ist das vorläufige Ende des päpstlichen Personenkults und das Ende von jedem Moralismus. Franziskus lädt dazu ein, ohne Angst und übertriebene Vorsicht neue Wege zu gehen. Journalisten werden Franziskus dafür lieben, wie er seine Anliegen auf einen einfachen Nenner bringt, wie er sie – pädagogisch gesprochen – „elementarisiert“.  Er will seine Verkündigung auf das Wesentliche konzentrieren, „auf das, was schöner, größer, anziehender und zugleich notwendiger ist“, um wirklich „alle Menschen ohne Ausnahme“ zu erreichen.

Fundamentale Selbstkritik geht den Reformen voraus

Dass eine Erneuerung der Kirche (in der evangelischen war das nicht anders) zunächst bei ihren eigenen Strukturen anfängt, ist leicht gesagt, aber schwer getan. Den Bischofskonferenzen in aller Welt will Franziskus mehr Eigeninitiative und Eigenverantwortung abverlangen, er und sein Amt selbst nicht für alles und jedes zuständig sein. Wie das im Einzelnen aussehen wird, bleibt abzuwarten. Aber Franziskus hat mit seinem Schreiben die Kernkritik in und an der katholischen Kirche, die (Selbst)Überschätzung des zentralen Lehramtes, institutionell wie theologisch, klar benannt und kritisch kommentiert.

Diese fundamentale Selbstkritik ist bedeutsamer und reicht weiter als alle Andeutungen zu Einzelfragen, die in dem Schreiben zu finden sind, sei es das Thema Frauenordination oder die Teilnahme von wiederverheirateten Geschiedenen am Abendmahl. Die katholische Kirche darf sich auf stürmische Zeiten der Reform freuen.

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Möge Papst Franziskus lange genug Zeit bleiben, seine Reformation so weit zu treiben, dass sie unter einem Nachfolger nicht mehr rückgängig gemacht werden kann. Das Zweite Vatikanische Konzil weckte auch schon Hoffnungen, die längst nicht alle erfüllt wurden.

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