Welche Warnung ernst nehmen?
Zwei Wissenschaftler über Panikmache und Forschermythen
Privat
Tim Wegner
03.09.2013

chrismon: Herr Latif, Herr Weingart, stellen Sie sich vor, wir wären gerade auf dem Handy von der Lotsenstation gewarnt worden: Ein großes Containerschiff kommt die Elbe hoch – und fährt viel zu schnell. Es wird eine riesige Bugwelle geben. Da wir hier in Strandnähe sind, sollten wir sofort den Elbhang hinauf, damit wir nicht nass werden. Würden Sie uns eine solche Warnung glauben?

Mojib Latif: Nein. Ich komme aus Hamburg und kenne mich aus. Der Lotse auf dem Schiff achtet peinlichst genau darauf, dass die Geschwindigkeit eingehalten wird.

Peter Weingart: Aber wenn er gerade einen Herzinfarkt hatte und der Kapitän ist unaufmerksam? Ich würde es mir vielleicht überlegen.

Latif: Für mich muss eine Warnung plausibel sein, und diese ist es nicht. Aber eine Windwarnung würde ich schon glauben.

Herr Latif, Sie sind ja als Klimaforscher selbst ein Warner. Warnen Sie uns doch mal bitte knapp und eindrücklich, so dass wir wirklich verstehen, wie groß die Gefahren des Klimawandels sind.

Latif: Ich betrachte mich gar nicht als Warner. Ich informiere die Öffentlichkeit. Das wird nur immer als Warnung wahrgenommen. Wenn ich sage, die Temperatur könnte sich weltweit bis 2100 um fünf bis sechs Grad im Mittel erhöhen, dann ist das zunächst mal keine Warnung. Es ist eine Information darüber, was die überwältigende Mehrzahl der Modelle prognostiziert für den Fall, dass wir so weitermachen wie bisher. Und unsere Modelle zeigen, dass dann extreme Wetterereignisse zunehmen werden, dass also der einzelne Gewitterschauer heftiger wird, dass wir mit mehr Tornados zu rechnen haben. Auch das sind keine Warnungen, sondern einfach Prognosen, die auf wissenschaftlichem Konsens beruhen.

Eine Prophezeiung ist keine Warnung?

Latif: Nein, wir prophezeien nicht, sondern wir bieten Szenarien an: Wenn wir Menschen uns so und so verhalten, dann wird sich das Klima in einer bestimmten Weise entwickeln mit benennbaren Konsequenzen für unser Wetter.

Sie geben jetzt den vorsichtigen Wissenschaftler. Auf dem Titel Ihres vorletzten Buches schwappt aber das Wasser im Berliner Reichstag schon bis unter die Kuppel . . .

Latif: Der Titel stammt vom Verlag, da konnte ich nicht mitreden. Im Text kommt kein einziges Mal das Wort Katastrophe vor.

Herr Weingart, wenn Sie als Wissenschaftssoziologe dem Herrn Latif zuhören – übertreibt er?

Weingart: Nein, er macht das sehr geschickt, indem er immer nur von Szenarien spricht. Aber in der Vergangenheit haben einige Wissenschaftler übertrieben, indem sie eine „Klimakatastrophe“ vorhersagten, die die Erde schon in den nächsten 50 Jahren vollständig unbewohnbar werden lasse. Heute ist man vorsichtiger mit den Prognosen, und man redet vom „Klimawandel“. Wissenschaftler, die Risiken erforschen, stehen ja alle vor dem Dilemma, dass sie einerseits öffentliche Aufmerksamkeit erringen müssen in einer Welt, in der Aufmerksamkeit immer knapper wird, weil alle immer lauter schreien. Auf der anderen Seite dürfen sie nicht so laut schreien, dass ihr Ruf zum Kassandra-Ruf wird, dass ihnen also nicht mehr geglaubt wird.

Moment, das Problem der Seherin Kassandra war doch nicht, dass sie zu laut gerufen hätte, sondern dass ihr niemand glaubte. Und sie hatte ja Recht mit ihrer Warnung vor dem Trojanischen Pferd.

Weingart: Richtig, aber die Warner müssen aufpassen, dass es ihnen nicht ergeht wie in der Geschichte von dem Jungen, der immer „Wolf“ ruft, und es kommt gar kein Wolf, aber am Ende, als der Wolf dann doch kommt, hört keiner mehr auf den Jungen. Der Buchtitel, auf dem der Reichstag im Wasser versinkt, illustriert das gut. Der Leser, der das sieht, könnte sagen: Das ist völlig übertrieben, das kann es gar nicht geben, und deshalb glaube ich den Klimaforschern nicht mehr.

Latif: Aber völlig aus der Luft gegriffen ist das Bild gar nicht: Wenn wir wirklich alles verfeuern, was wir jemals an fossilen Energien finden können, dann ist es durchaus möglich, dass der Meeresspiegel um mehrere Dutzend Meter ansteigt. Ich spreche jetzt über den Zeitraum der nächsten Jahrtausende. Aber deswegen kann man das nicht von vornherein abtun als Panikmache. Wir müssen höllisch aufpassen, dass die Entwicklung des Klimas nicht aus dem Ruder läuft. Denn wir wissen nicht, ob das System wirklich so stabil ist, wie wir hoffen.

Aber bevor die Menschen ihr Verhalten einschneidend verändern, hätten sie natürlich gern Belege.

Latif: Das Problem ist, dass das Klima um Jahrzehnte verzögert reagiert. Aber wir hatten schon einmal eine ähnliche Situation: In den siebziger Jahren, als die FCKW in Verruf kamen, die Ozonschicht zu zerstören. Damals sagten Wirtschaft und Kritiker: Man kann doch nicht einfach den Wissenschaftlern und ihren Modellen glauben, wir müssen abwarten und noch mehr forschen. Man hat dann eigentlich gar nichts gemacht. Bis das Unglaubliche passiert ist, womit keiner gerechnet hat, auch kein Wissenschaftler: nämlich dass das Ozonloch entdeckt wurde. Da standen wir fast am Abgrund. Und plötzlich waren Politik und Wirtschaft bereit, etwas zu ändern. Das Abkommen zur Reduktion des Ausstoßes von FCKW konnte dann relativ schnell verabschiedet werden. Was ich sagen will: Man sollte sich hüten, zu sehr mit dem Planeten zu experimentieren.

Mojib Latif: „Man sollte sich hüten, zu sehr mit der Erde zu experimentieren“

Was heißt in Bezug auf den Klimawandel „zu sehr experimentieren“?

Latif: Die Temperatur darf weltweit um höchstens zwei Grad steigen, sonst wird es richtig gefährlich. Um den Klimawandel derart zu begrenzen, müssten wir bis 2050 weltweit den Ausstoß der Treibhausgase halbieren. International vereinbart ist aber bisher nur eine Reduktion in einigen Industrieländern um fünf Prozent bis 2012.

Da müssten die Wissenschaftler doch ganz anders auf die Pauke hauen. Herr Weingart, was für eine Öffentlichkeitsstrategie würden Sie den Klimaforschern empfehlen, damit die Politik endlich entsprechend reagiert?

Weingart: Die Politiker sind nicht entscheidend, sondern die Öffentlichkeit. Sobald die Öffentlichkeit auf Warnungen reagiert und nach Politikern verlangt, die entsprechende Konsequenzen ziehen, wird es die auch geben. Der Sinneswandel von George Bush bei der G-8-Konferenz im Sommer deutet das ja schon an. Offensichtlich merkt er, dass er zu Hause zunehmend an Zustimmung verliert.

Welche Rolle spielen die Medien dabei?

Weingart: Eine ganz wichtige, denn sie vermitteln zwischen Wissenschaft und Öffentlichkeit. Die Schwierigkeit ist allerdings, dass die Art, wie die Medien Nachrichten produzieren, gerade die Glaubwürdigkeit der Wissenschaftler konterkariert. Das ist kein Vorwurf, die Medien müssen dramatisieren, zuspitzen, auch vereinfachen.

Latif: Das ist wirklich ein Problem für uns: dieses Hü und Hott, mal Panikmache, mal Verharmlosung. Und das ist meiner Erfahrung nach einer der Gründe, warum es in der Bevölkerung eine so große Verunsicherung gibt beim Thema Klima. Ich halte mindestens einmal pro Woche einen öffentlichen Vortrag – und irgendwer sagt immer: „Wir wissen gar nicht mehr, was wir glauben sollen, denn wir werden bombardiert mit den verschiedensten Informationen. Offensichtlich scheint es ja keinen Konsens zu geben unter den Wissenschaftlern, also brauchen wir auch gar nicht zu reagieren.“

Dabei streiten sich die Wissenschaftler gar nicht mehr über das Ob einer Erwärmung, sondern nur über das Ausmaß.

Latif: Genau. Aber wenn durch die Art der Berichterstattung in der Gesellschaft der Eindruck erweckt wird, es gebe einen Riesendisput in der Forschung, dann ist auch klar, dass die Öffentlichkeit keinen Druck auf die Politik ausübt. Die Medien wollen zwar den Klimawandel thematisieren, aber da sie immer auf spektakuläre Meldungen aus sind, gibt es keine kontinuierliche, seriöse Vermittlung der wirklich beunruhigenden Ergebnisse unserer Forschung.

Weingart: Zum Teil sind die Wissenschaftler daran aber auch selbst schuld. Ich beobachte, dass sich die Wissenschaften in zunehmendem Maße an die Öffentlichkeit wenden und dabei entweder die Hoffnung auf grandiose Innovationen oder die Angst vor immensen Gefahren schüren. Die Debatten etwa über die Nano-Forschung oder die Forschung mit embryonalen Stammzellen sind zwar ethisch nötig, dabei kommen aber oft völlig überzogene Erwartungen ins Spiel.

Sollen sich Wissenschaftler denn gar nicht an die Öffentlichkeit wenden?

Weingart: Doch, die Wissenschaftler müssen Aufmerksamkeit erlangen wollen. Aber sie verhalten sich heute manchmal so, als seien sie selbst Teil des Mediengeschäfts. Dabei gefährden sie jedoch ihren Sonderstatus innerhalb unserer Gesellschaft. Denn die Wissenschaft ist die Instanz, die wahres Wissen produziert.

Ist das nicht auch nur ein Mythos?

Weingart: Ja. Aber stellen Sie sich eine Gesellschaft vor, die so tut, als ob es wahres Wissen überhaupt nicht gäbe. An wen wollen Sie sich dann halten bei existentiell wichtigen Fragen, etwa beim Klimawandel? Die meisten Menschen glauben heute zwar nicht mehr im emphatischen Sinn an Wahrheit, aber wir glauben schon noch an gesichertes Wissen. Alle Auseinandersetzungen drehen sich doch darum, ob bestimmte Aussagen wahr sind oder nicht. Die Wissenschaftler streiten sich darüber, ebenso die Politiker. Sie kommen ohne diese Figur des verlässlichen Wissens nicht aus.

Folgt die Politik denn dem gesicherten Wissen?

Weingart: Die Politik verhält sich der Wissenschaft gegenüber merkwürdig widersprüchlich. Die Politiker sagen zwar, dass sie verlässliches Wissen suchen, wenn sie Wissenschaftler um Rat fragen. Aber Untersuchungen zeigen, dass Politiker meist die Wissenschaftler fragen, die ihre eigenen Überzeugungen teilen. Der typische SPD-Abgeordnete fragt eben lieber Wissenschaftler von der Friedrich-Ebert-Stiftung. Politiker wollen richtiges Wissen – und zugleich in ihrem Wissen bestätigt werden.

Latif: Sicher gibt es solche politische Auftragsforschung. Für ebenso falsch halte ich es, wenn Forschungsprogramme aufgelegt werden, um politische Entscheidungen zu vermeiden. So, wie es die USA seit langem machen, um die Delegationen anderer Staaten bei Klimaschutzverhandlungen ruhig zu stellen. Das Wichtigste, was die Gesellschaft über den Klimawandel wissen muss, ist erforscht. Jetzt wäre das politische Handeln nötiger als weiteres Forschen. Für problematisch halte ich zudem, dass die Politik uns Forscher gewissermaßen zwingt, uns öffentlich darzustellen. Wenn wir nicht sagen können, warum wir gesellschaftlich relevant sind, bekommen wir keine Forschungsgelder mehr.

Weingart: Alle Politiker erklären, dass die Forschung der wichtigste Rohstoff sei, aber sie lassen ihren Worten keine Taten folgen. Daher sind die Wissenschaftler einen erheblichen Teil ihrer Zeit mit dem Formulieren von Anträgen auf Forschungsförderung beschäftigt. Und da überbieten sie sich gegenseitig mit Scheinbegriffen wie Internationalität, Exzellenz, Interdisziplinarität. Die Öffentlichkeit hat durchaus ein Recht darauf zu bestimmen, welche Forschung gefördert wird, aber jedes Forschungsprojekt einer solchen Pflicht der Begründung zu unterwerfen, das führt dazu, dass Fassaden aufgebaut werden. Denn Begründungen können Sie für alles finden. Das erzeugt alles nur eine Scheinwelt. Ich würde mir wünschen, dass wir als Wissenschaftler wieder ehrlicher werden können. Das setzt voraus, dass die Begründungspflicht der Forschung zumindest gelockert wird.

Peter Weingart: „Die Wissenschaftler überbieten sich mit Scheinbegriffen“

Bund und Länder haben im Sommer mit 1,9 Milliarden Euro eine Exzellenzinitiative gestartet, für die sich Hochschulen und Forschungsnetzwerke bewerben konnten. Es sollen „Leuchttürme der Wissenschaft“ entstehen, die auch ins Ausland strahlen. Ist das auch ein Teil der „Scheinwelt“?

Weingart: Wenn Sie wüssten, was im Sommer an den Universitäten los war – da können Sie nur noch die Hände über dem Kopf zusammenschlagen! Diese Initiative ist wieder kein langfristiges Förderprogramm, sondern reiner Aktivismus. Jeder gründete „Exzellenzcluster“, suchte dazu verzweifelt nach Partnern. Man erhielt eine Woche vor Abgabefrist einen Anruf: Kannst du nicht in mein Projekt mit einsteigen? Du musst auch nichts tun, nur unterschreiben. Von EU-Programmen kenne ich ähnliche Phänomene. Da werden potemkinsche Dörfer aufgebaut.

Aber Sie beide haben sich auch beworben, oder?

Weingart: Sie müssen sich auf dieses Spiel einlassen.

Latif: Man will ja nicht außen vor bleiben. Aber es ist alles so kurzatmig in Deutschland. Die Probleme sind doch alle bekannt, ob das nun die Entwicklung der Bevölkerungszahlen ist, der globale Wandel, die Entwicklung der Sozialsysteme – wir haben keine Strategie gefunden, diesen großen Herausforderungen zu begegnen.

Wir haben über Risiken wie den Klimawandel gesprochen. Welche Gefahr, die uns mittel- oder langfristig droht, macht Ihnen persönlich am meisten Angst?

Latif: Die weltweite Überbevölkerung. Dass wir die Menschen nicht mehr ernähren können und dass wir nicht genügend Energie haben für alle.

Weingart: Ich habe am meisten Angst vor der Lernunfähigkeit. Zu sehen, wie schwerfällig unsere politischen Systeme reagieren auf Gefahren wie Ressourcenzerstörung und Umweltschäden. Das Dilemma ist, dass man Lernfähigkeit nicht einfach technokratisch schaffen kann. Sondern die Menschen selbst müssen lernen wollen.

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