Florian Manz
In der Musikschule von Karosta wird nur gerade so viel geheizt, dass die Kinder beim Klavierspielen keine steifen Finger kriegen. Geld ist knapp, die Schule kämpft ums Überleben. In ganz Lettland geht die Angst vor dem Bankrott um
19.03.2012

Lettland ist ein leises Land. Im Winter verschluckt der Schnee die Geräu­sche. An warmen Tagen ziehen die Menschen aufs Land, die Städte sind dann still und leer. Kaum ein Verkäufer grüßt, wenn man sein Geschäft betritt, nicht mal Kinder reden laut im Bus, und keiner, den man flüchtig trifft, scheint mehr zu sprechen, als er muss. Manche sagen, das sei die Men­talität. Manche sagen, es sei die Last der Vergangenheit. Manche sagen, die Krise habe die Menschen schweigsam gemacht.

In der Stadt Karosta an der Westküste ist nur der Wind zu hören, der von der Ost-see her in Böen durch die Straßen weht. Die Pfützen schlagen Wellen, Kiefern biegen sich im Wind. Manchmal kommt hier stundenlang kein Mensch vorbei. Am Stadtrand mischt sich Musik ins Meeresrauschen. Aus einem rosa Haus mit Blechdach winseln verstimmte Geigen, Klaviergeklimper dringt durch die Fensterscheiben. „Karosta Muzikas Skola“ steht auf dem Messingschild neben der Eingangstür. Darüber weht die lettische Flagge: weißer Querstreifen auf blutrotem Grund.

Nikita quetscht einen Moll-Akkord aus dem Balg

Nikita Semenjuk, elf Jahre alt, Pausbacken und Sommersprossen, ist eines der mehr als 160 Kinder, die hier zur Schule gehen. Sie lernen Klavier, Geige, Gitarre oder, wie Nikita, Akkordeon. „Ras, dwa, tri“, zählt die Lehrerin, eine üppige Dame mit strengem Blick, und stampft mit dem Fuß im Takt.

Eins, zwei, drei – Nikita rückt das schwere Instrument auf seinem Schoß zurecht, setzt die Fingerkuppen auf die Bassknöpfe und quetscht einen Moll­akkord aus dem Balg. Das Akkordeon schnauft. „Wie sich eine Blume langsam öffnet, so muss die Musik in dir auf­blühen“, sagt die Lehrerin, schwingt die Hände durch die Luft und summt ein russisches Volkslied, elegisch und schwer. Nikita presst die Wangen ans Akkordeon und schunkelt hin und her. Ras, dwa, tri.

Bankenkrise zwingt den Tiger Lettland in die Knie

Die Musikschule wird staatlich sub­ventioniert, acht lettische Lats kostet der Unterricht im Monat, rund zwölf Euro. „Fragt sich nur, wie lange noch“, sagt die Rektorin Aiga Tiltinja. Sie sitzt in ihrem Büro, einem kleinen Raum mit Sperrholzmöbeln und Linoleumboden, und durchkämmt einen Stapel Papiere. Vor vielen Jahren hat Tiltinja Klavier studiert, sie mag die Walzer von Chopin und hat Hunderten Kindern Tonleitern und Etüden beigebracht. Heute findet sie kaum mehr Zeit, selbst zu spielen. Seit der Bankrott ihr Land bedroht, kämpft Tiltinja gegen die Krise.

Karosta ist eine der ärmsten Städte Lettlands, und Lettland ist eins der ärmsten Länder der Europäischen Union. 2008, als in den USA die ersten Investmentbanken pleitegingen, platzte hier eine gewaltige Kreditblase. Waschmaschinen, Autos, ­Reihenhäuser – fast alles hatten die Letten auf Pump gekauft. Lettland, seit 2004 EU-­­Mitglied, war der Musterschüler der neuen Beitrittsländer, ein baltischer Tigerstaat. In manchen Jahren wuchs die Wirtschaft um mehr als zehn Prozent. Dann zwang die Bankenkrise den Tiger in die Knie.

Musikschule soll zum Obdachlosenheim werden

Die „treknie gadi“, die fetten Jahre, waren schlagartig vorbei. Der Internationale Währungsfonds stützte das Land mit Milliardenkrediten, Gehälter und Renten schrumpften um bis zu 50 Prozent. Brot und Strom wurden teuer. Wer einen Garten hatte, pflanzte Kartoffeln, wer Englisch sprach und mutig war, zog nach Irland oder Schweden, wo man als Kellner mehr verdienen konnte als ein Arzt in einem ­lettischen Krankenhaus.

Damals landete ein Brief vom Schulamt auf dem Schreibtisch von Aiga Tiltinja. Es sei kein Geld mehr übrig für die Schule, stand darin. Die Kommune wolle das Haus als Obdachlosenheim nutzen. Tiltinja bekommt rote Flecken am Hals, wenn sie von dem Brief erzählt. Es gehe ja nicht nur um ihren Job, sagt sie. Es gehe um die Kinder.

Karosta ist kein Ort für Kinder

Es gibt kein Kinderhaus in Karosta, ­keinen Sportverein und keinen Jugendclub, nicht einmal einen Supermarkt. Auf dem Wäscheplatz vor den Plattenbauten hat jemand Autoreifen im sandigen Boden vergraben, die jetzt wie schwarze Gummihenkel aus der Erde ragen. Die Kinder ­spielen darauf Reiter und Pferd, im Sommer, im Herbst, selbst wenn es schneit. „Wenn die Schule schließt“, sagt Tiltinja, „dann haben die Kinder keinen geschützten Ort mehr, um sich zu treffen.“

Vor ein paar Jahren fand man in den Bunkern am Stadtrand ein paar Jungen, kaum zwölf Jahre alt, mit glasigen Augen und rasendem Puls. Man brachte sie ins Krankenhaus. „Die haben geschwitzt und halluziniert“, erinnert sich eine Ärztin. „Die haben plötzlich blaue Krokodile ge­sehen.“ Die Kinder hatten in einem Medikamentenlager der Sowjetarmee gespielt. Aus den Kisten, die dort standen, kullerten Kapseln, bunt wie Schokolinsen, und die Kinder stopften sie sich in den Mund. Sie schluckten Aprophen, das Gegengift der Sowjets gegen phosphororganische Kampfstoffe, die C-Waffen des Kalten Kriegs. Sechs Milligramm pro Kapsel genügen für stundenlangen Rausch. Bis ­heute erzählt man sich in Karosta davon.

Die Letten blieben stumm

Als die Nachricht von der Schließung der Musikschule in den Plattenbauten von Karosta die Runde machte, sammelten die Eltern Unterschriften, eine Zeitung aus der Nachbarstadt druckte empörte Kommentare. Das Schulamt lenkte schließlich ein, im Gegenzug versprach die Rektorin Til-tinja, zu sparen, wo es irgend geht. Während die Politiker im Parlament in Riga die Löhne kürzten und Subventionen strichen, rationierte sie das Notenpapier und ließ die Lehrerinnen gerade so viel heizen, dass die Kinder beim Klavierspielen keine steifen Finger bekamen. Die schlimmsten Zeiten, sagt Tiltinja, seien hoffentlich vorbei.

Lettland ist kein Euro-Land, es hat weniger Einwohner als Berlin und ein Pro-Kopf-Einkommen von 8000 Euro im Jahr – die Deutschen haben fast viermal so viel. Riga kennt keine Massendemos wie in Athen, keine Protestcamps wie in Madrid. Einmal, kurz nach dem Bankencrash, gab es Krawalle. Junge Männer warfen Steine auf das Parlament. Sie wurden festgenommen, dann kehrte Ruhe ein. Während anderswo die Menschen auf die Straße zogen, ließen sich die Letten die Löhne kürzen und blieben stumm. Viele, die die Sowjetdiktatur erlebten, sagen, sie hätten aus der Vergangenheit gelernt. Sie halten ihren Mund.

In Karosta gibt es mehr Alkoholprobleme als Jobs

Analysten sagen, der strenge Sparkurs der Regierung habe sich gelohnt. Im Herbst 2011 kam Lob aus der Europäischen Zentralbank: Das kleine Land im Baltikum sei ein Vorbild für die geschwächten Euro-Länder. Seit einigen ­Monaten wächst die Wirtschaft wieder. Zaghaft, aber messbar.

In Karosta ist davon nichts zu spüren. Es gibt Bewohner, die sagen, es gebe hier mehr Menschen mit einem Alkohol­prob­lem als Menschen mit einem Job. Nikitas Eltern haben Arbeit, der Vater schleppt Kis­ten im Hafen, die Mutter näht in einer Schneiderei. Als ihr Sohn zum ersten Mal ein Akkordeon hörte und so verliebt war in den Klang, dass er selber spielen wollte, mussten sie ihn vertrösten. Acht Lats für den Unterricht hätten sie entbehren können.  Doch ein Akkordeon zu mieten oder gar zu kaufen, war zu teuer. Das Instrument, auf dem Nikita heute spielt, hat ein Verwandter wenig später auf dem Dach­boden gefunden.

Die Stadt zerfällt jeden Tag ein bisschen mehr

Als Nikita sein Akkordeon zusammenpackt und nach Hause geht, schieben sich Regenwolken über die Stadt. Der Himmel dämpft die Farben, die Schlaglöcher in den Straßen füllen sich mit brauner Brühe und auf die goldenen Kuppeln der orthodoxen Kathedrale legt sich das Grau wie eine Patina. Wer an solchen Tagen durch die Straßen läuft, spürt, wie Karosta zerfällt, jeden Tag ein bisschen mehr. Die Seeluft frisst sich in die Häuserblocks, wo früher Fenster waren, klaffen Löcher, wie schwarze Augenhöhlen starren sie aus den Betongerippen.

Es gibt Orte, da hat das Heute keinen Platz, weil das Gestern noch in jeder Ritze steckt. Karosta ist so ein Ort. Vor mehr als hundert Jahren ließ der russische Zar hier am eisfreien Meer der lettischen Küste einen Militärstützpunkt errichten; Karosta heißt auf Deutsch „Kriegshafen“. Nach dem Zweiten Weltkrieg war es eine der größten Marinebasen der Sowjetarmee. Mehr als hundert U-Boo­te und Kriegsschiffe legten hier an, Soldaten marschierten durch die Straßen und in den Häusern und Kasernen wohnten fast 40 000 Menschen.

Der Hass der einstmal Unterdrückten

Als die Sowjetunion zerfiel und Lettland unabhängig wurde, zogen die Soldaten ab. Möbelwagen und voll gepackte Kleinbusse verließen die Stadt. Die Plattenbauten leerten sich, und in den Fens­tern vergilbten Gardinen. Heute leben noch 8000 Menschen in Karosta – ein Fünftel der ursprünglichen Bevölkerung. Karosta ist zu einer Geisterstadt geschrumpft.

Die meisten, die hier wohnen, hinter abgeblättertem Putz und blinden Scheiben, sind Nachfahren der Sowjetsoldaten, sie gehören zur Minderheit russisch­stäm­miger Letten. Sie sprechen Russisch, die Sprache der Besatzer. Mehr als 40 Jahre beherrschten die Sowjets das Land, sie verdrängten die lettische Sprache, sie siedelten russische Familien an und verschleppten all jene, die sich ihnen widersetzten. Fast jeder Lette erzählt von einem Onkel, einem Großvater, einem Bekannten, der im Gulag starb. Wer heute, 20 Jahre nach der Unabhängigkeit, noch Russisch spricht, muss mit dem Hass der einstmals Unterdrückten leben.

Lettische Folklore und russische Lieder

In den Proberäumen der Musikschule von Karosta scheint der Graben zwischen Letten und Russen überwunden. Die Lehrerinnen unterrichten in beiden Sprachen, der Kinderchor singt lettische Folklore und russische Kosakenlieder. „Streit“, sagt Aiga Tiltinja, „hat es deshalb nie gegeben.“

Manche Kinder kommen fast jeden Tag in Tiltinjas Musikschule. Sie warten vor der Tür auf die ersten Lehrerinnen, sie gehen, wenn im letzten Raum das Licht verlischt. So wie der Junge, der in einer Ecke auf dem Boden sitzt und Gitarre spielt: C-Dur, F-Dur, G-Dur, er spielt den Blues. So wie das blonde Mädchen, das im Probesaal am Flügel sitzt, 14 Jahre, gezupfte Augenbrauen, enge Jeans. Oft bleibt sie bis abends, spielt Beethoven und Chopin, Schubert und Rachmaninov. In die Holzdielen unter dem Pedal hat sich ein Loch gebohrt, dort, wo der Absatz ihrer Stöckelschuhe ruht. „Wenn ich Klavier spiele“, sagt sie, „vergesse ich die Welt da draußen.“

Die Singende Revolution in Lettland

Die Musikschule ist für viele ein besseres Zuhause, eine grell getünchte heile Welt. In Ordnung gehalten wird sie von einem hageren Mütterchen in Strickjacke. Mehrmals täglich wischt die Alte mit dem Feudel über das Linoleum, es ist, als schrubbe sie an gegen den Zerfall. Auf die Tische in den Proberäumen legt sie Häkeldecken, auf die Klaviere stellt sie rote Nelken. Manchmal stützt sie sich auf ihren Schrubber und lauscht den Kindern. Fragt man sie nach der Krise, zuckt sie mit den Achseln. Sie sagt, sie habe ganz andere Zeiten überlebt. Chruschtschow, Breschnew, Gorbatschow, und – in nur 20 Jahren Unabhängigkeit – elf lettische Ministerpräsidenten.

Als die Sowjetunion kurz vor dem Kollaps stand, reihten sich die Bewohner der baltischen Sowjetrepubliken 1989 zu einer Menschenkette, die von Vilnius in Litauen über Riga in Lettland bis nach Tallin in Estland reichte. Sie standen in der Kälte und sangen ihre Lieder, für die sie so berühmt sind wie die Franzosen für ihre gute Küche. Später gab man den Tagen des Umbruchs einen Namen: Singende Revolution.

Die Musikschuldirektorin Tiltinja sagt, zu Sowjetzeiten habe man den Letten Sicherheit geboten und sie ihrer Freiheit beraubt. Heute hätten sie die Freiheit erlangt und ihre Sicherheit verloren. Eines aber, sagt sie, könne man ihnen niemals nehmen: die Musik.

 

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