Lili Nahapetian
Essen und Getränke gratis! Für alle! In der Suppenküche in Bad Doberan ist jeder willkommen. Viele Gäste kommen hier zum ersten Mal mit Kirche in Kontakt
Hedwig Gafga, Autorin
16.02.2012

Kurz vor elf Uhr kommen die ers-ten Gäste. Ein älterer Mann mit blondem Bart und struppigen Haaren setzt sich in die hinterste Ecke. An der langen Tafel sitzt bereits ein jüngerer Mann. Ohne aufzuschauen, isst er seine Kartoffeln mit Käse-Ei-Sauce. Vorne am Tisch nimmt ein Rentnerehepaar mit seinem Enkel Platz – der Kleine lugt mit seiner Nase gerade noch über den Tisch.

Die Suppenküche der evangelischen Kirchengemeinde in Bad Doberan sieht aus wie der Gastraum eines Klosters: festlich, hoch und hell, mit spitz zulaufenden Fenstern und Parkett. Zwei lange Tafeln sind mit Blumen geschmückt. 30 Gäste ­haben Platz. Das Gemeindehaus auf dem Gelände des ehemaligen Zisterzienserklosters ist ein historisches Gebäude gegenüber dem Münster, das Reiseführer gerne als „Perle norddeutscher Backsteingotik“ beschreiben.

Die Suppenküche kostet jährlich 52.000 Euro

Die Suppenküche ist das ganze Jahr über montags bis freitags von 8.30 bis 15 Uhr geöffnet. Täglich essen hier zwischen 11 Uhr und 14.30 Uhr bis zu 100 Gäste. Kurz vor dem Ausgang informiert ein Schild: Die Suppenküche kostet jährlich 52.000 Euro, pro Mahlzeit 2,75 Euro. Vor dem Schild steht eine Milchkanne für Spenden.

Ein Romapärchen kommt mit seinem Kind herein und sucht an dem rechten Tisch einen Platz. Kaum sitzt die Familie, kommt die Bedienung: „Was möchten Sie trinken?“ Leise und unsicher sagt der Mann etwas. „Ja, was denn nun? Ich verstehe Sie nicht!“, ruft die junge Frau, dreht sich um und geht weg. Eine andere Bedienung geht auf die Familie zu – ein etwa 20 Jahre alter Mann, lange Haare, grünes T-Shirt. „Was darf ich Ihnen bringen?“, fragt er. Wenig später serviert er Tee und Wasser.

Alle sind bedingungslos eingeladen

Essen und Trinken gibt es umsonst, ganz gleich, ob die Gäste arm oder wohlhabend sind. Alle sollen sich eingeladen fühlen, sagt Barabara Niehaus. Die 50-jährige Initiatorin und Leiterin der Suppenküche ist eine große und schmale Frau, die so schnell spricht und handelt, dass andere oft kaum mitkommen. Theologie zu treiben und die Suppenküche aufzubauen, ist für sie eins: In der Suppenküche soll es die Starken auf der einen Seite und die Schwachen auf der anderen Seite nicht geben. In Zweifelsfällen stellt sie die Frage: „Ist etwas, was wir tun oder lassen, demütigend? Dann ist es falsch!“


Deshalb müssen Gäste hier nicht ihre Bedürftigkeit nachweisen. „Wenn man von Gottes Evangelium erzählt, ist genau dies gemeint: einander gleichgestellt, bedingungslos angenommen und eingeladen“, sagt die Theologin. Das gilt auch für die Menschen, die in der Suppen­küche mitarbeiten. Die junge Frau, die vorhin die Gäs­te schroff bediente, ist neu. Sie leistet in der Suppenküche wegen kleinerer Vergehen Sozialstunden ab. Am nächsten Tag ist sie für das Vorbereiten des Essens eingeteilt.

Mit Kirche hat er eigentlich nichts am Hut

Barbara Niehaus leitet die Suppenküche ehrenamtlich – ein Vollzeitjob. Zum Per­sonal gehören zwei Köche, die jeweils eine halbe Stelle haben, hinzu kommen 20 Freiwillige sowie Jugendliche, die arbeitslos sind oder ihre Arbeit wegen Depressionen aufgeben mussten. Zum Team gehört auch der geistig behinderte Hartmut. Er schenkt Tee aus, räumt Geschirr ab und umarmt immer wieder Menschen um ihn herum. „Die Einladungen zum Mitarbeiten und die zum Essen sind gleich wichtig“, meint ­Niehaus.

In der engen Küche bereiten fünf Leute die Mahlzeiten vor, sie schlängeln sich zwischen Herd und Anrichte aneinander vorbei: vier Frauen, alle um die 70. Und mittendrin Felix, der 23-jährige Koch. Er sieht verwegen aus mit seinen kinnlangen ­blonden Haaren unter der Mütze, dem ­fehlenden Schneidezahn und der blauen Schürze. Seinen Beruf hatte er fast schon aufgegeben. Er fühlte sich in der Gastro­nomie ausgebeutet, der Schichtdienst laugte ihn aus, er kündigte. Als Ein-Euro-Kraft fing er in der Suppenküche an. Als überraschend der frühere Koch starb, übernahm Felix die Stelle. Mit der Kirche hat er sonst nichts zu schaffen, dennoch fühlt er sich hier am richtigen Platz.

Sachzwänge oder evangelische Freiheit?

Seit eineinhalb Jahren kocht er Hausmannskost: Hühnersuppe mit Nudeln, Linsensuppe oder Bratkartoffeln mit Ei. Jede Woche stehen ihm 250 Euro für Einkäufe zur Verfügung. Reicht das? „Das geht“, sagt Felix. Ein Biohof liefert gratis Kartoffeln und Eier, ein Supermarkt leicht beschädigte Früchte- und Gemüsekonserven. Kaffee wird extra bestellt.

Vor einem Jahr diskutierte der Haushaltsausschuss der Kirchengemeinde die Frage, ob einer der Köche eingespart werden müsse. Es stand ein Defizit von 15.000 Euro zu Buche. „Letztlich ging es um Gottvertrauen“, sagt Barbara Niehaus: „Folgen wir den Sachzwängen, die von ­außen an uns herangetragen werden, oder handeln wir in evangelischer Freiheit?“

Diakonische Arbeit schafft neue Kontakte

Der Ausschuss entschied sich für den Koch. Wenige Wochen später bekam die Suppenküche eine größere Summe aus dem Bußgeldtopf eines Landgerichts. Das Gottvertrauen hatte geholfen. Und auch die Tatsache, dass Barbara Niehaus unermüdlich die Presse informiert, Sponsoren anspricht, Projektanträge an Behörden schreibt? Sie nickt. Aber Spenden, betont sie, sind nicht planbar. Mit der Suppenküche stößt die Kirchen­gemeinde in der Kleinstadt immer wieder Diskussionen an. Geht es in unserem Land gerecht zu? Schließt Armut Menschen von der gesellschaftlichen Teilhabe aus? „Ich kann schlecht sagen: Meine Suppe kriegst du, meine Gesellschaft kriegst du nicht“, meint Niehaus. Über ihre diakonische Arbeit kommt die Gemeinde mit Menschen in Kontakt, die zuvor wenig mit der Kirche zu tun hatten: Jugendliche vom Gymna­sium und der Förderschule oder Mütter mit Kindern, Flüchtlinge, Alkoholab­hängige, Menschen, die aus dem Arbeitsleben ausgemustert wurden – wie der blasse, dünne Mann, der vier Mal pro Woche in der Küche hilft.

"In Wrangler-Hose siehste nicht aus wie Hartz IV"

Er ist Anfang 50 und nennt die Suppenküche liebevoll ein „kleines Restaurant“, weil die Gäste hier bedient werden. Seinen Namen will der gelernte Lagerist nicht nennen. Viele Jahre arbeitete er in Bayern. „Zu D-Mark-Zeiten hatte ich 19 Mark Stundenlohn – da ging’s mir gut.“ Dann verlor er seine Arbeit, die Ehe zerbrach.

Was er seit über einem Jahr in der Suppenküche unbezahlt leistet, erwähnt er nicht. „Man hat’n Rhythmus drinne und ist unter Menschen.“ Weil er vier Mal in der Woche umsonst zu Mittag essen kann, könne er etwas Geld für Markenkleidung sparen. „In Wrangler-Hose und Mustang-Jacke siehste nicht aus wie Hartz IV.“ Sich selbst bezeichnet er als Heiden. Aber das Krippenspiel an Weihnachten, zu dem er früher mit seiner Tochter ging, bedeutet ihm etwas – und natürlich die Suppenküche.

"Wir haben Linseneintopf und Nudelsuppe"

Am nächsten Tag um 12 Uhr sind im Speisesaal fast alle Plätze besetzt. Mütter stecken ihre Köpfe zusammen, ihre Kinder sitzen neben ihnen in Hochstühlen. Weiter hinten am Tisch sitzt eine afghanische Familie mit drei Schulkindern, zwischendrin Männer in Sportjacken und ein Rentnerehepaar. Erika Drevelow, 69, und Rita Burgert, 74, bedienen. Frau Drevelow trägt ein einjähriges Mädchen mit sich herum, das es genießt, geschaukelt zu werden.

Ein junger Mann kommt herein, schaut sich unsicher um. „Wir haben Linseneintopf und Nudelsuppe“, ruft ihm Frau Drevelow zu. Er sucht sich einen Platz. Im Saal herrscht Wohnzimmeratmosphäre. An beiden Tafeln entwickeln sich Gespräche, einige tippen auf ihren Handys herum. Kurz darauf kommen mehrere Schüler der nahe gelegenen Förderschule herein. Stammgäste.

Förderschüler mussten aufs Essen verzichten

Wegen der Situation der Förderschüler ist Barbara Niehaus vor fünf Jahren auf die Idee mit der Suppenküche gekommen. Sie bekam mit, wie Eltern ihren Sohn vom Hort abmeldeten, weil das Mittagessen teurer wurde. 2,75 Euro pro Mahlzeit konnten sie sich nicht leisten. Sie waren nicht die Einzigen, doch niemand sprach darüber.

Die Theologin hat mit ihrem Mann vier ­Adoptiv- und Pflegekinder großgezogen. Alle Kinder seien traumatisiert gewesen, keines durchlief die Schule problemlos. Die Familie erlebte Zeiten, in denen nichts klappte und scheitern alltäglich war. Im Muttersein unter extremen Umständen ­veränderte sich ihre Theologie: „Du darfst immer wieder neu anfangen. Das ist ur­evangelisch“, sagt Barbara Niehaus. Sie wollte einen Ort schaffen, an dem auch andere etwas von der Möglichkeit spüren. Mit der ihr eigenen Direktheit wandte sie sich an Gemeindepfarrer Albrecht Jax. Sie erzählte von den Schulkindern, die ohne Essen nach Hause gingen. Auch Jax hatte schon über ein solches Projekt nachgedacht.

Jetzt ist Leben im Gemeindehaus

Wenige Monate später, im Januar 2008, wurde der „Treffpunkt Suppenküche“ eröffnet. In der Gemeinde war das Projekt umstritten. Einige fürchteten, mit den ­Gäs­ten der Suppenküche kämen unberechenbare Leute in die Kirchenräume, die das historische Haus beschädigen könnten. Heute kochen einige Gäste der Suppen­küche gelegentlich Kaffee für die Gottesdienstbesucher, sagt Pfarrer Jax.

Ihm ist es wichtig, diakonisches Handeln nicht nur an die professionelle Diakonie zu delegieren. „In der Suppenküche gibt es nicht nur Gebende auf der einen Seite und Bedürftige auf der anderen. Die Gäste schenken uns ihre Gegenwart.“ Er habe gelernt, die Dinge nicht nur aus der Perspektive des Bildungsbürgers zu betrachten. Schablonen, nach denen Menschen oftmals ein­geteilt werden, lösen sich auf. Mit der Suppenküche hat sich auch die Gemeinde verändert, das Gemeindehaus hat seinen musealen Charakter abgelegt, stellt Pfarrer Jax fest: „Früher herrschte hier viele Stunden absolute Stille, jetzt ist den ganzen Tag volles Leben.“

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52.000 Euro jährlich für die Suppenküche? 190.000 Euro jährlich für Wulff? Mal ehrlich? Ich kann bei diesen ganzen Summen, die mir jeden Tag in den Medien um den Kopf geschmissen werden nur noch mit dem Kopf schütteln. Es ist höchste Zeit für das Bedingungslose Grundeinkommen. Dann hat jeder genug Geld für Essen, Wohnen, Kleidung.In der Schweiz setzt die Kirche sich vorbildlich dafür ein. Eine Suppenküche ist natürlich erstmal lobenswert, aber sie ist auch ein Armutszeugnis.

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Die Suppenküche in Bad Doberan ist sehr lobenswert. Es ist eine tolle Sache für die vielen hielfebedürftigen Menschen in unserer Stadt. Auch ich bin ab und zu Gast in der Suppenküche und möchte hier ein Dank an die vielen Helferinnen und Helfer aussprechen, die liebevoll das Essen zubereiten und es mit einer so netten Bedienung an die Gäste der Suppenküche weiterreichen.
Die Tische sind immer mit einem kleinen Blumenstrauß geschmückt. Es ist dort eine heimische Atmosphäre, wo man sich einfach wohlfühlen kann.

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