Er sagte dem nackten Elend der Großstädte den Kampf an
Johann Hinrich Wichern wurde zum Begründer der modernen Diakonie
Portrait Eduard KoppLena Uphoff
07.10.2010

Es war einer der Abende, an denen der junge Theologe seinem Tagebuch nur pures Entsetzen anvertrauen konnte. Wahrlich armselige Gestalten hatte er in einer heruntergekommenen Wohnung in St. Georg vor den Toren Hamburgs angetroffen: "Eine Frau (39 Jahre alt), nur mit einem Kattun-Leibchen und Kattun-Rock bekleidet, zum Teil noch zerlumpt, so dass das bloße Fleisch heraussah. Ebenso ein groß gewachsenes Mädchen (Marie, 13 Jahre), ein großer Bengel (Louis, 23 Jahre) und zwei Knaben (Heinrich, 8 Jahre, und August, 10 Jahre) sowie Naucke (5 Jahre). Alle ohne Wäsche, blasse Gestalten, klappernd vor Hunger und Frost. Die 13-jährige Marie saß auf dem Boden und schabte einen rasengrünen Apfel auf einer Scherbe und setzte das dem kranken Vater vors Bette, Feuer hatten sie nicht mehr gehabt seit langer Zeit."

Städtische Fürsorge und ehrenamtliche Armenpfleger: vollkommen überfordert

St. Georg vor den Toren der Stadt. 1832, nach dem Theologiestudium, hatte Johann Hinrich Wichern die Not im Stadtteil kennengelernt, als frisch bestallter Oberlehrer in der Sonntagsschule der evangelischen Gemeinde St. Georg. Vor den Toren Hamburgs zeigten sich besonders drastisch die Folgen der Wohnungsnot. Wenn am Abend die wuchtigen Stadttore der Hansestadt schlossen, waren die Quartiere vor der Mauer eine Welt für sich. Da trieben sich Reisende herum, die es nicht mehr rechtzeitig in die Innenstadt geschafft hatten. Huren und Trinker machten die Nacht zum Tag. Familien, denen die Wohnungen in der Stadt zu teuer waren, drängten sich auf engstem Raum. St. Georg: ein Quartier mit einer Elendsgeschichte. Hierhin hatte man im Mittelalter Lepra- und Pestkranke gebracht. Hier stand der Hamburger Galgen, hier gab es Schweineställe, eine Müllhalde, eine Pulvermühle.

Die städtische Fürsorge mit ihren ehrenamtlichen Armenpflegern war vollkommen überfordert. Johann Hinrich Wichern, geprägt von der missionarischen Erweckungsbewegung, wusste, dass er selbst gefordert war. Bereits ein Jahr nach seinem Start als Lehrer gründete er im Hamburger Vorort Horn seine Anstalt "zur Rettung verwahrloster und schwer erziehbarer Kinder", die zum Jahresende 1833 mit zwölf Jungen ihre Arbeit aufnahm. Die Kate, die der Hamburger Syndikus Sieveking mitsamt Grundstück zur Verfügung stellte, hieß "Ruges Haus", woraus später im Volksmund die Bezeichnung "Rauhes Haus" wurde. Die Zahl der Gruppen und mit ihr der Häuser wuchs rasch.

Sozialarbeit endlich als ureigene Aufgabe der ganzen Kirche anerkennen

Die tägliche Praxis - das war es, was für Wichern zählte. Es lag ihm fern, politische Reformen zu fordern, zumal er Armut als einen durch den Stand vorgegebenen, gleichsam natürlichen Zustand ansah. Arbeitervereine und Kommunisten bedrohten seiner Meinung nach alle menschlichen Werte. Dennoch keimte in ihm der Wunsch, nicht nur Menschen, sondern auch die Strukturen zu verändern. Nach sechzehn Jahren sozialer Arbeit trat er im September 1848 in Wittenberg beim ersten Kirchentag, wo der Zusammenschluss der Landeskirchen zu einem Kirchenbund und seine Verfassung beraten wurden, ans Pult und hielt spontan eine 75-minütige Stegreifrede, die als programmatisch für die moderne Diakonie gilt. Die politischen Unruhen in Hessen, Baden und im Rheinland vor Augen forderte er, die Sozialarbeit endlich als ureigene Aufgabe der ganzen Kirche anzuerkennen. Wicherns Brandrede war die Initialzündung zur Gründung eines deutschlandw eiten "Centralausschusses" für Diakonie. Auch verfasste Wichern eine Denkschrift zur Diakonie, darin die Ziele: Kampf gegen Revolution und Armut, Betreuung der Strafgefangenen, Schutz von jungen Frauen vor der Prostitution.

Wicherns Reformideen reichten weit über die kirchlichen Institutionen hinaus: Er war einer der Berater für das 1849 gegründete preußische Mustergefängnis Moabit, später dessen Direktor, wo er die strenge Einzelhaft einführte. Er wurde vom König in die Berliner Kirchenleitung berufen, gründete 1858 die diakonische Ausbildungsstätte Brüderwerk Johannesstift. Von hier und aus dem Rauhen Haus kamen die Aufseher in Moabit. Gezeichnet von mehreren Schlaganfällen, starb Wichern in Hamburg nach langem Siechtum.

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