Weihnachten naht, wieder mal gehen Millionen Kunden auf Geschenkejagd und wieder mal setzt die große Klage über lahme und unfähige Verkäufer ein: Servicewüste Deutschland. Zeit für eine Erwiderung von jenseits der Ladentheke
07.10.2010

"Bethlehem ist überall" ­ der Satz geht mir nicht aus dem Kopf. Ist das hier auch Bethlehem?, frage ich mich und sehe auf die Kisten zu meinen Füßen. Elche, so weit das Auge reicht. Im Licht einer Kellerlampe schauen mich 100 Stoffelche knopfäugig an. 53 habe ich schon eingepackt, in Knisterfolie mit Schleife oben dran, gar nicht so einfach, 47 muss ich noch. Damit es weihnachtlich werde im Herzen der Beschenkten.

"Ein kostenloser Service des Hauses für Sie"

In dem gut gehenden Geschenkeladen über meinem Kopf weihnachtet es heftig, und ich habe nicht laut genug Nein gesagt, als eine Bekannte mich fragte, ob ich im Advent wieder in ihrem Geschäft aushelfen könnte. Nun soll ich dafür sorgen, dass die Stammkunden in Festtagsstimmung kommen. "Ein kostenloser Service des Hauses für Sie", wird man ihnen an der Kasse sagen und schwupps, haben sie so ein Folienvieh in der Tasche. Ich kriege acht Euro die Stunde. Gar nicht schlecht, schließlich muss ich auch noch Weihnachtsgeschenke kaufen.

"Bethlehem ist überall" ­ so stand es auf dem Flyer, den mir engagierte Gemeindefrauen heute auf dem Weg zur U-Bahn in die Hand gedrückt haben. Sie wollten mich daran erinnern, dass ja bald Weihnachten ist und man da schon mal besinnlich werden könnte. Ja, ich werde besinnlich. So besinnlich wie im letzten Jahr, als ich zu Weihnachten im Laden aushalf. Da haben mir die Kunden gezeigt, wo die Glocken hängen.

Es gibt nämlich zwei fundamental verschiedene Perspektiven auf das vorweihnachtliche Geschäftsleben. Die eine ist die des Käufers, die andere die des Verkäufers. Früher war ich nur Käufer, inzwischen habe ich die Seite gewechselt. Und Bethlehem ist nicht mehr überall.

Vier Adventswochen in einem Geschenkeladen ­ viel los, kräftiger Umsatz, die ersten Tage machten mir Spaß. Dann passierte diese kleine Sache mit Elli, meiner Kollegin. Elli ist 19 und hilft gelegentlich aus, um sich ihr Studium zu finanzieren. Sie wurde damals heimgesucht von einer Kundin, die man nicht so schnell vergisst. Der Laden war rammelvoll mit 35 Kunden bei drei Verkäufern. Alle wollten sie die Geschenke eingepackt haben, und das natürlich schön und schnell. Elli machte, was gemacht werden muss: Sie entfernte den Preis, schnitt Papier und Schleifenband ab und begann, das Geschenk nach allen Regeln der Kunst einzupacken. So zügig wie möglich, ist ja klar.

"Das kann ja wohl nicht wahr sein ­- wie lange soll das denn noch dauern...?!"

Die Kundin, die man sich als korpulente Zahnarztgattin vorstellen muss, riss Elli plötzlich das Papier aus der Hand, brabbelte irgendwas wie: "Das kann ja wohl nicht wahr sein -­ wie lange soll das denn noch dauern...?!" Diese Mittfünfzigerin war sich dann tatsächlich nicht zu blöd, ihr Geschenk auf dem Boden und vor den Augen der anderen genervten Kunden selbst einzupacken. Elli stand da und schaute ihr zu. "Ich hätte fast angefangen zu heulen", sagte sie mir später.

Seitdem ging es mir zunehmend auf die Nerven, ständig diese pseudoweihnachtliche Atmosphäre schaffen zu müssen. Jeden Morgen Musikanlage anschalten und schon wieder Celine Dion mit ihren Weihnachtsliedern einlegen, weil die Kunden sie so gern hören. Woher wir das wissen? Weil ständig jemand fragt, welche Musik da gerade läuft, wir dann die CD-Daten auf einen kleinen Extrazettel schreiben und den mit in die Tüte stecken, kleiner Service. Die Ohren werden irgendwann welk, wenn Celine sechs Tage die Woche durchschnittlich fünf Mal je 60 Minuten singt, nur unterbrochen von jenem "Lovely day", den Bill Withers mal erlebt hat. Aber garantiert nicht zur Weihnachtszeit, denn da schleppen die Kunden so viel Matsch von draußen rein, dass die Verkäufer nebenbei ständig den Boden wischen müssen.

Mit leicht aufgequollenen Händen fällt das Lächeln schwer. Aber man lernt mit der Zeit, ein authentisch wirkendes künstliches Lächeln hinzuzimmern. Das ist dann auch sehr hilfreich, wenn sich wieder mal ein Kunde im Ton vergreift. Der Profiverkäufer stellt die Ohren auf Durchzug und wünscht: "Danke, viel Erfolg mit dem Geschenk und schöne Feiertage!"

Aber bevor man sich's versieht, macht das Hirn vor lauter innerer Distanz einen Betriebsausflug. Letztes Jahr fragte mich eine Kundin, wie lange die Batterien in der Mini-Taschenlampe für ihren Sohn denn halten würden. Ich höre mich noch im Stile eines dynamisch lächelnden TV-Verkaufsmoderators sagen: "Aach, keine Sorge, die Batterien leben sicher länger als Sie." Das Lächeln auf der anderen Seite fror ein und ich eierte herum: "Jahaha...ähm...also, die Batterien werden mit Sicherheit noch bis ins Jahr 2099 halten." Nützte auch nichts, ich hatte auf eine sinnvolle Frage eine ­ vorsichtig formuliert ­ sinnlose Antwort gegeben, das Vertrauen der Kundin war dahin. Ein besonders gut riechendes Stück Seife habe ich ihr mit in die Tüte gepackt. Oh ja, ich weiß: Deutschlands Verkaufspersonal hat allen Grund, sich an die eigene Nase zu fassen.

Deutschlands Verkaufspersonal hat allen Grund, sich an die eigene Nase zu fassen.

In meinem Keller bin ich inzwischen bei Elch Nummer 72, und meine Stimmung ist nicht besser geworden. Bitte sehr, ich will kein Mitleid. Verkäufer machen ihren Job und kriegen Geld dafür. Sie sollten den Kunden freundlich respektvoll gegenübertreten, wissen, worüber sie reden, und zügig ihren Job tun. Aber was soll diese Verächtlichkeit, diese Weigerung, die konkreten Arbeitsbedingungen von Verkäufern wahrzunehmen? Und diese ewig raschelnde, schnaufende, scharrende Ungeduld?

Nach dem Auftritt der mutmaßlichen Zahnarztgattin letztes Jahr habe ich mich gefragt, ob ich der Einzige bin, der die Kunden als so mitgefühlsresistent empfindet. Wie ist das denn eigentlich bei den anderen Verkäufern vor Weihnachten?

Zuerst frage ich beim Bäcker meines Vertrauens nach. Seit Jahren habe ich mit meiner Lieblingsverkäuferin nicht mehr als Zahlenangaben und Floskeln gewechselt, jetzt will ich mehr wissen. Ich erfahre sogar ihren Namen, aber schreiben darf ich ihn nicht. Rosi Wickert, so nenne ich sie, will nicht erkannt werden. Rosi ist Mitte 40 und hat, wie sie sagt, Füße, die einfach "durchgelatscht" sind.

Bevor sie mir das erzählt, müssen wir uns eine stille Ecke suchen. Die gibt es aber nicht. Ihr einziger Rückzugsort im Laden ist ein ärmlicher Tisch mit genau einem Stuhl. Der steht hinter der Wand des Aufbackofens. Dort brummt es so laut, dass ich beschließe, sie zu mir nach Hause einzuladen ­ ich wohne ja um die Ecke. Am nächsten Tag vor Schichtbeginn ist sie tatsächlich bei mir und kommt gleich zur Sache: Ihre Füße, "die müssen jetzt operiert werden". Rosis Füße stehen im Monat bis zu 170 Stunden in der Bäckerei.

"Ich mache den Job, weil ich schlichtweg Geld verdienen muss."

Dafür bekommt sie am Ende des Monats rund 900 Euro netto überwiesen. Sie war mal Lehrerin ­ mehr Details erfahre ich nicht, schwierige Geschichte. "Ich mache den Job, weil ich schlichtweg Geld verdienen muss." Seit sieben Jahren hat sie nun täglich den Geruch von frischen Schrippen und Brot in der Nase, und die Kunden, sagte sie mir, "die sind das Einzige, was diesen Job erträglich macht". Sogar kurz vor Weihnachten warten die noch immer geduldig in der Schlange. Beim Bäcker herrschen offenbar gute Sitten.

Rosi ist eine fröhliche, offene Person, die gern mal einen Witz erzählt und wenn nötig ihren rauen Charme rauskehrt. So zieht sie Stammkunden an, und das ist es, was zählt. Wenn Kunden sie von oben herab behandeln, kann sie deutlich werden. Und genau das scheinen manche an ihr zu schätzen. Eine Kundin, mit der es mal einen gereizten Wortwechsel gab, kommt seitdem fast täglich. "Man muss den Leuten signalisieren, wer man ist und wo man steht, sonst verlieren sie den Respekt vor einem", sagt Rosi und zieht dabei eine Augenbraue hoch.

Oft ist sie allein im Laden, dann hat sie praktisch keine Zeit zur Toilette zu gehen. Zur Frühschicht steht sie schon um halb drei auf, denn die Brötchen müssen immer frisch gebacken werden, und dann geht es bis halb eins. "Am schönsten ist es, wenn dann mein Mann nach Hause kommt. Der massiert mir jeden Tag die Füße... wirklich!" Rosi lächelt mich so begeistert an, dass mir weihnachtlich warm ums Herz wird. á

Für den täglichen Einsatz hinter der Theke ­ auch am Sonntag ­ bekommt Rosi kein Weihnachtsgeld, kein Urlaubsgeld, keine Schrippe umsonst und auch keinen anderen Rabatt. "Die Kunden bestellen vor Weihnachten immer Massen vor, vor allem teure Sachen. Wir lassen uns das immer vorher bezahlen, damit sie es auch wirklich abholen." Wenn es dann doch mal einer vergisst, könnte man das ja als Angestellte eigentlich mit nach Hause nehmen. Fehlanzeige. "Das nimmt der Chef mit ­ keine Ahnung, was er dann damit macht."

Rosi muss zum Dienst und ich will mehr: die ganze Wahrheit über Weihnachten im Discount-Supermarkt. Nennen wir ihn Aldi und nennen wir den Filialleiter Kai Fass ­ natürlich will auch er mir nur anonym Auskunft geben.

"Die Ansprüche der Leute sind heute auch bei den Discountern gestiegen. Früher fingen die Kunden leise an zu murren, wenn in der Schlange zwanzig Kunden vor ihnen dran waren. Heute mosern sie schon, wenn es nur drei sind." Kai Fass ist 35 Jahre alt und seit drei Jahren Filialleiter. Wir sitzen auf dem Sofa in seiner Wohnung am Stadtrand.

Seitdem bei den Discountern der Preiskampf tobt, kämpfen die Kunden auch eine Schlacht ­ welche das ist, weiß eigentlich keiner so recht. Kämpfen sie dagegen, der Dumme zu sein, also der, der weniger für sein Geld kriegt und langsamer bedient wird als andere? Es muss vor allem immer schnell gehen, sagt Kai Fass. Seine Kassiererinnen müssen für ihre 1300 Euro netto wieselflink und auch noch möglichst nett sein ­ besonders vor Weihnachten. "Vor den Feiertagen benehmen sich die Leute so, als würde der dritte Weltkrieg bevorstehen. Sie machen Hamsterkäufe, und das gern auf den letzten Drücker", sagt Fass. Er wundert sich und nimmt's gelassen.

Ein paar Tage später mache ich mich auf in die niedlichste der niedlichen Abteilungen im Kaufhaus. Ich pirsche mich langsam, sehr langsam an die Fachverkäuferin in der Spielwarenabteilung heran. Sie sortiert gerade konzentriert die Teddys. Als ich sie anspreche, bemerke ich die vielen Kameras an der Decke. Hoffentlich werden mich die Sicherheitsleute für einen normalen Kunden halten, der sich ausgiebig beraten lässt. Mikrofone haben die nicht, oder?

"An Weihnachten herrscht bei uns der Ausnahmezustand"

Ich lese den Namen an der Brust der Verkäuferin, die so Ende 50 ist, und muss ihn später wieder vergessen, denn auch diese Dame ­ nennen wir sie Marina Gunzelmann ­ macht sich Sorgen um ihre Zukunft. "An Weihnachten herrscht bei uns der Ausnahmezustand", erzählt sie. Umgeben von Teddys, Puppen, Barbies, Gummikühen und Gameboys steht Frau Gunzelmann seit drei Jahren in dieser Abteilung. Scharenweise wandern Menschen mit Wunschzetteln in der Hand um sie herum und hin und her zwischen den Regalen. Auf den eng beschriebenen Zettelchen steht alles, was gerade im Trend ist und den Trend zur Ebbe im Portemonnaie befördert.

Im Advent halten sich die Leute erstaunlich lange in ihrer Abteilung auf, sagt Frau Gunzelmann. Besonders schwer tun sie sich mit der Entscheidung, ob es das Original sein muss oder auch die Kopie sein darf. Die Kopie kostet viel weniger. Aber manchmal muss es eben genau die Barbie sein, sonst gibt's Ärger mit der Nichte.

Das heißt aber auch für die Verkäufer: mehr Zeit mit den Kunden, mehr Zeit für Beratung, weniger Zeit für die eigenen Bedürfnisse, und das bei immer weniger Personal und selbst wenn der Hunger an die Magenwand klopft. Es könne schon mal passieren, erklärt Frau Gunzelmann, dass die Mitarbeitertoilette zum Paradies wird. Dort gibt es nämlich einen Schrank mit Erfrischungstüchern, einem kleinen Kamm darin und einem Rosskastanien-Gel, das kühlt und gegen die schweren Beine hilft. Außerdem kann man da im Zweifelsfalle auch mal ein paar Minuten sitzen ­ so blöd es klingt. "Schreiben Sie das mal ruhig auf, aber nennen Sie meinen Namen nicht", flüstert mir Frau Gunzelmann ins Ohr, dann verlasse ich den konspirativen Ort über die Rolltreppe.

So endete meine Erkundungstour in die Welt der Einzelhandelsverkäufer. Ich rechnete mir danach aus, wie viel besser ich es bei meinem Job im Geschenkeladen doch hatte. Ein paar Tage musste ich danach noch aushelfen. Es wurde mir schwer. Der Kunde ist König, das wusste ich ja, aber einen König hatte ich mir immer etwas souveräner vorgestellt als diese nervösen, unzufriedenen Wesen im Laden.

Zu denen muss ich nun gleich wieder hoch, denn soeben manövriere ich den hundertsten Elch in seine Folienhaut. Ich setze schon mal probeweise das Weihnachtslächeln auf, da fällt mir meine Bekannte Ute ein, die seit kurzem eine Art Minijob an einer Wursttheke in der Fußgängerzone hat. Neulich, an einem Samstagnachmittag, ging ich vorbei und überlegte kurz, sie anzusprechen. Aber es hatte sich eine längere Schlange gebildet.

Ein paar Minuten beobachtete ich eine Ute, die professionell freundlich Braten abwog und Salami schnitt. Hier ging es offenbar tatsächlich um die Wurst, denn die Kunden verfolgten jede Bewegung mit kritischen Blicken. Sicher waren es dieselben Büroangestellten, die schon aus der Hose tanzen, wenn ihnen am Computer jemand nur mal über die Schulter guckt. Ute machte das sicher schon rund fünf Stunden am Stück, sie sah ein bisschen verfroren aus, und der Gedanke an die 4,68 Euro die Stunde, die sie kriegt, kann sie auch nicht wirklich gewärmt haben. Trotzdem lächelte sie. Und demnächst wünscht sie ihren Kunden kostenlos noch ein "frohes Fest". Ich winkte Ute nur aus der Ferne zu, sie guckte gehetzt zu mir rüber, lächelte kurz und wendete sich dem nächsten Kunden zu.

Wie merke ich, wenn gerade wirklich mal Bethlehem ist?

Ich nehme einen Karton mit zwanzig Elchen und steige die Treppe hinauf. Bleib cool, denke ich ­ und halte noch mal inne. Das ist natürlich auch keine Lösung, dieses Dauer-Pokerface. Wie soll ich denn vor lauter Reserviertheit noch merken, wenn gerade wirklich mal Bethlehem ist?

Oben im Laden wimmelt es. Ich stelle mich neben die Kollegin an der Kasse und fange an, Geschenke zu verpacken. Eine junge Frau hat gerade ihrer Tochter mitgeteilt, dass sie auch wirklich gleich nach Hause kommt und steckt mit einer eckigen Bewegung ihr Handy weg. Sie schaut mit leerem Blick über die Postkartenständer. Ich sage: "Sie sind sicher schon lange unterwegs. Ich verpacke jetzt Ihr Geschenk. Kann vielleicht ein bisschen dauern, aber dafür wird es sicher schön." Sie schaut kurz irritiert in meine Richtung, deutet dann ein Lächeln an. "Na, machen Sie keinen Stress. Ich sehe doch, dass Sie viel zu tun haben. Bin ja auch wieder mal spät dran."

Drei Minuten später reiche ich die Einkaufstüte über die Theke und schaue der Kundin direkt in die Augen, lächle einen kleinen Moment länger, als es in Deutschland üblich ist. Nun sieht sie mich auch an. Für eine Millisekunde kehrt Ruhe ein, die für all den Trubel und hundert Elche entschädigt.

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